Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die vom Statut geforderte Schwelle wurde nicht überschritten"

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) lehnt eine Anklage gegen Streitkräfte der Kriegsallianz im Irak ab

Das Büro des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) hat mehr als 240 Eingaben erhalten, die sich alle auf die militärischen Operationen im Irak und deren Folgen für die Menschen befassen. Am 9. Februar 2006 antwortet der Chefankläger in einem Schreiben auf die Eingaben. Der 10 Seiten lange Brief ist im Original in englischer Sprache hier einzusehen:
"The situation did not appear to meet the required threshold of the Statute" (pdf-Datei).
Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die Argumentation des Gerichts und erlauben uns einige kritische Anmerkungen.



Von Peter Strutynski*

Luis Moreno-Ocampo, der Chefankläger des ICC, teilt in seinem Schreiben die Betroffenheit über die Verluste an Menschenleben, die der Irakkrieg und dessen Nachwirkungen ("aftermath") gebracht hätten. Er weist aber auf seine spezifische Rolle als Chefankläger des Gerichts im Rahmen der Römischen Statuten hin. Eine Untersuchung von Kriegsverbrechen könne nur erfolgen, wenn die im Statut formulierten Kriterien gegeben sind und genügend Informationen vorliegen (S. 1).

Der Gerichtshof sichtete die erhaltenen Informationen und überprüfte die relevanten Dokumentationen und Video-gestützten Informationen. Zusätzlich wertete das Gericht alle öffentlich zugänglichen Quellen wie Medienberichte und Regierungs-Berichte aus. Hinzu kamen die Erkenntnisse von Amnesty International, Human Rights Watch, Iraq Body Count und den "Spanischen Brigaden gegen den Krieg im Irak" (Spanish Brigades Against the War in Iraq). (S. 2)

Da der Irak dem ICC nicht beigetreten ist und somit nicht unter die Gerichtsbarbeit des ICC fällt, konnten nur Klagen gegen Personen berüpcksichtigt werden, deren Staaten dem Statut beigetreten sind (S. 3).

Das Gericht kann Anklagen, die sich auf die Legalität des Krieges beziehen, nicht weiterverfolgen. Zwar fällt der Straftatbestand "Aggression" unter das Statut (Art. 5), kann aber erst wirksam werden, wenn eine allgmein akzeptierte Definition der "Aggression" vorliegt. Dies ist bis heute nicht der Fall. (Nach Art. 121 kann eine entsprechende Ergänzung des Statuts frühestens 2009 vorgenommen werden.) Das Mandat des Gerichts erstreckt sich also nur auf die Geschehnisse während des Krieges. (S. 4)

Das Gericht verwarf alle Anzeigen, die sich auf den Tatbestand des Völkermords (genocide) oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (crimes against humanity) bezogen (S. 4). Die verfügbaren Informationen haben keine hinreichenden Indizien geliefert, wonach die Koalitionstruppen die Ansicht gehabt hätten, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören", wie es in Art. 6 formuliert ist. Genauso verhält es sich mit dem Vorwurf, es seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt worden. Ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bedeutet gemäß Art. 7 Handlungen, "die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen" werden. Dies schloss das Gericht aus.

So beschränkte sich das Gericht auf die Prüfung der Anzeigen, die sich auf Kriegsverbrechen beziehen (S. 4ff). Von Kriegsverbrechen kann dann gesprochen werden, wenn absichtlich Zivilisten angegriffen werden (was bereits von den Genfer Konventionen verboten ist, auf die das Statut des ICC in Art. 8 verweist) oder wenn bei Angriffen auf militärische Ziele unverhältnismäßig viele zivile Opfer in Kauf genommen werden ("vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen; Art. 8,2 b iv).

Zahlreiche Anzeigen bezogen sich auf den Einsatz von Cluster-Munition (Streubomben). Diese Art der Munition befindet sich nicht in der Liste der verbotenen Munition laut ICC-Statut, ihr Einsatz ist somit "per se" nicht strafbar. Daher wurde der Einsatz von Cluster-Munition nur in Zusammenhang mit Angriffen auf Zivilpersonen analysiert. (S. 5)

Das Gericht stellt zwar fest, dass eine beträchtliche Anzahl von Zivilpersonen ums Leben kam, aber: "Die verfügbaren Informationen ergaben keinen Hinweis auf absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung." (The available information did not indicate intentional attacks on a civilian population.) (S. 6)

Dabei wertete das Gericht Angaben über die britische Kriegführung aus (London hatte die Anfragen des Gericht detailliert beantwortet, heißt es auf S. 7). Nach Auswertung aller Informationen kam das Gericht zu dem Schluss, dass es keine Anhaltspunkte dafür gab, dass ein eindeutig unverhältnismäßiger (excessive) Angriff im Sinne des Statuts nicht stattgefunden hat. Sollten indessen neue Anhaltspunkte auftauchen, könnte sich die Einschätzung des Gerichts ändern.

In Bezug auf Straftaten nach Art. 8,2 a i und ii ("vorsätzliche Tötung" bzw. "Folter oder unmenschliche Behandlung einschließlich biologischer Versuche") kommt das Gericht zum Ergebnis, dass es Grund zu der Vermutung gibt, dass es 4 bis 12 Fälle "vorsätzlicher Tötung" und einer begrenzten Anzahl von Fällen "unmenschlicher Behandlung" gegeben habe; betroffen davon waren insgesamt "weniger als 20 Personen". (S. 8)

Dennoch sei das Gericht nicht zuständig, heißt es weiter in dem Schreiben des Chefanklägers. Während jedes Verbrechen, das unter das Statut des ICC fällt, ein "schweres" (grave) Verbrechen ist, müsse die "Schwere des Verbrechens" berücksichtigt werden (Art. 53), d.h. es muss eine bestimmte Schwelle überschritten sein ("the Statute requires an additional threshold of gravity even where the subject-matter jurisdiction is satisfied", S. 8). In dem Schreiben wird hierzu auf Art. 8,1 des Statuts verwiesen, worin festgestellt wird, dass der Gerichtshof die Gerichtsbarkeit dann hat, wenn die Kriegsverbrechen "in großem Umfang verübt werden". Dies sei im vorliegendem Fall aber nicht gegeben.

Auch im Vergleich zu anderen Kriegsverbrechen sei die "Schwere" der Straftaten im Irak nicht gegeben. Der Chefankläger weist auf gleichzeitig von ihm untersuchte Kriegsverbrechen im Kongo, in Nord-Uganda und in Darfur (Sudan) hin. In jedem dieser drei Fälle gebe es Tausende "vorsätzliche Tötungen", unzählige Fälle sexueller Gewalt und Entführungen sowie Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen (S. 9).

Alles in allem lautet also die Schlussfolgerung des Chefanklägers, dass die vorliegenden Informationen nicht ausreichen, um im Fall des Irak den Internationalen Strafgerichtshof für zuständig zu erklären. Das Gericht nehme aber zu jeder Zeit weitere Informationen entgegen (S. 9).

Kritik

Der Bericht des Chefanklägers folgt im Grund genommen den restriktiven Vorgaben des Römischen Statuts. Korrekt ist insbesondere der Hinweis darauf, dass der ICC kein Mandat habe, über die Rechtmäßigkeit von (Angriffs-)Kriegen zu befinden, jedenfalls nicht solange keine abschließende Definition von "Aggression" vorliegt.

Natürlich ist es vollkommen unbefriedigend, ja skandalös, dass Staaten, die dem ICC nicht beigetreten sind, wegen der im ICC-Statut verankerten Straftaten auch nicht belangt werden können, die Kriegsverbrechen der USA also bei der Voruntersuchung des Gerichts keine Rolle spielten. So sind aber die Statuten und die USA wussten sehr wohl, warum sie sich dem ICC verweigerten. Großflächige Bombardements wie z.B. in Falluja, bei denen vermutlich mehrere zehntausend Zivilpersonen starben, wurden deshalb nicht vom Gerichtshof gewürdigt, weil an diesen Kriegsverbrechen mutmaßlich nur US-Truppen beteiligt waren (vielleicht noch irakische Hilfstruppen; der Irak ist aber dem Statut auch nicht beigetreten). Auch die bekannt gewordenen Folterungen in Abu Ghraib wurden von US-Soldaten verübt.

Dennoch bleiben auch ohne die USA zahlreiche Fälle schwerer Kriegsverbrechen, die von Soldaten anderer Nationen verübt wurden. Einige von ihnen stellt der Chefankläger auch in Rechnung. Sie sind für ihn aber eine vernachlässigbare Größe - verglichen mit Verbrechen, die tagtäglich in anderen Bürgerkriegsregionen stattfinden. Dabei beruft er sich auf die Art. 53 und 8 des Römischen Statuts. Diese Auslegung ist indessen nicht zwingend. Zumal das Neue an der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ja war, dass nun auch schwere Kriegsverbrechen (und dass es sich um schwere Kriegsverbrechen handelt, gibt der Chefankläger ja zu), die von einzelnen Tätern begangen werden, verfolgt werden können. Ein wichtiges Argument der Befürworter der Römischen Statuten war immer, dass nun kein potenzieller Kriegsverbrecher sicher sein kann, unter dem "Schutz" der Kollektivität des Krieges und der Anonymität der Verbrechen zu stehen. Kriegsverbrechen, deren Urheber genannt werden, nicht zu ahnden, nur weil anderswo Kriegsverbrechen in viel größerer Zahl vorkommen, zeugt von einem zweifelhaften Rechtsverständnis.

Mit der Zurückweisung aller 240 Klagen in Sachen Irakkrieg hat der Chefankläger dem noch jungen Internationalen Strafgerichtshof einen schlechten Dienst erwiesen. Der ICC muss seine Existenzberechtigung unter Beweis stellen. Er muss zeigen, dass die individuelle Einklagbarkeit von Kriegsverbrechen ein echter Fortschritt im internationalen Rechtssystem darstellt. Dies kann er aber nur, wenn er die Klagen ernst nimmt und gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher Ermittlungen einleitet. Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien geht da entschiedener zur Sache. Aber da sind ja auch keine Militärangehörigen westlicher Armeen angeklagt, sondern vornehmlich serbische Kriegsverbrecher (plus einiger Alibi-Kroaten und -Bosnier). Die jetzige Entscheidung des ICC wird von den Kriegsverbrechern der "freien Welt" mit Erleichterung aufgenommen worden sein.

* Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, Wiss. Ang. an der Uni Kassel, AG Friedensforschung; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

Hier geht es zum Brief des Chefanklägers des IStGH, Luis Moreno-Ocampo:
"The situation did not appear to meet the required threshold of the Statute" (pdf-Datei)


Quelle: Website des Internationalen Strafgerichtshofs: www.icc-cpi.int


Zurück zur Irak-Seite

Zur Seite "Internationaler Strafgerichtshof" (ICC)

Zurück zur Homepage