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Die Leiden der Kinder

Keine Schule, kein sauberes Trinkwasser, mangelnde medizinische Versorgung, sogar Gefangenschaft – Schicksal vieler Minderjähriger im Irak

Von Karin Leukefeld *

Fünf Tage lang ließ sich Radhika Coomaraswamy, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte, über die Lage der irakischen Kinder informieren, anschließend zeigte sie sich entsetzt. Die Situation sei unerträglich, Kinder in Irak seien »die schweigenden Opfer der anhaltenden Gewalt«, sagte sie auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag in der jordanischen Hauptstadt Amman. »Viele von ihnen gehen nicht mehr zur Schule, manche werden für Gewalttaten rekrutiert, andere gefangen gehalten.« Es fehle den Kindern an grundlegenden Dingen des Alltags, sie zeigten »eine breite Palette psychischer Auffälligkeiten.« Religiöse, politische, militärische und Stammesführer müßten dafür sorgen, daß die Kinder von Gewalt ferngehalten werden und in die Schule gehen könnten.

Mehr als die Hälfte der 28 Millionen Iraker ist jünger als 18 Jahre. Nur etwa 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder gehen überhaupt noch zur Schule, stellte Frau Coomaraswamy bei ihrem Blitzbesuch in Bagdad fest. Im Jahr 2005 seien es noch 80 Prozent gewesen. Nicht mehr als 40 Prozent der Kinder hätten Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Gefahr eines Ausbruchs von Cholera sei allgegenwärtig. 1500 Kinder sollen sich nach Angaben der UN-Sonderbeauftragten in Gefangenschaft befinden. Man versuche herauszufinden, wer die inhaftierten Kinder seien und wo man sie festhielte, erklärte auch Sigrid Kaag, regionale Direktorin des UN-Kinderhilfswerks UNICEF für den Mittleren Osten und Nordafrika, die (bei der Präsentation des Jahresberichts 2007 in Dubai Mitte April) ebenfalls auf die große Zahl inhaftierter Kinder in Irak hingewiesen hatte. Wegen der wirtschaftlichen Not beteiligten sich immer mehr Kinder in Irak an bewaffneten Aktionen, angeblich würden sie auch als Selbstmordattentäter eingesetzt.

Mehr als die Hälfte der schätzungsweise 4,5 Millionen irakischen Inlandsvertriebenen und Flüchtlinge sind Kinder, für die weder Schulbesuch noch medizinische Grundversorgung, geschweige denn regelmäßige tägliche Mahlzeiten gesichert sind. Die UN-Sonderbeauftragte forderte von den irakischen und US-amerikanischen Regierungen, Organisationen wie dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, dem UN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR und anderen den freien Zugang zu Kindern in allen Teilen Iraks zu ermöglichen. Internationale Hilfswerke sollten sich mehr in Irak engagieren. Frieden in Irak müsse mit dem Schutz der Kinder beginnen, so Radhika Coomaraswamy.

In Sadr City, dem mit mindestens zwei Millionen Menschen größten Armenviertel von Bagdad, ist Frieden weit entfernt. Seit Ende März sind Sadr City und der angrenzende Stadtteil Shula Kampfzone zwischen der irakischen und US-Armee auf der einen und den Milizen der Mehdi-Armee von Muktada Sadr auf der anderen Seite. Schulen und öffentliche Einrichtungen seien geschlossen, die Einwohner hätten sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert, berichten Augenzeugen wie Patrick Youssef, Leiter der Niederlassung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Bagdad. Nachdem ein wichtiges Großhandelszentrum des Viertels, der Jamilia-Markt, bei den Kämpfen zerstört worden sei, hätten sich Lebensmittel um bis zu 300 Prozent verteuert. Medizinische und humanitäre Hilfsgüter könnten wegen der ständigen Angriffe nicht verteilt werden, sagte auch Awad Khalaf Hadi, Sprecher der Al-Zahra-Hilfsorganisation gegenüber dem UN-Informationsnetzwerk IRIN. Auch die städtischen Dienste seien eingestellt worden. »Der Müll stapelt sich in den Straßen, die Kanalisation ist verstopft, das Trinkwasser ist vom Abfall verseucht, überall stinkt es unerträglich.«

* Aus: junge Welt, 30. April 2008


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