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Kurden - ein geschändetes Volk

Irakisch-Kurdistan: Innere Konflikte und äußere Bedrohung.

Von Erhard Thiemann

(Die nachfolgende Analyse von Erhard Thiemann erschien als vierteilige Artikelserie in der jungen welt)

Angesichts der offensichtlichen Planungen der USA, noch vor den Präsidentschaftswahlen einen massiven Militärschlag gegen Irak zu führen, gewinnt das Schicksal der Kurden in dieser Region wieder an internationalem Interesse. Das Territorium des kurdischen Volkes (etwa 35 Millionen Menschen) wurde mit dem Verfall des Osmanischen Reiches nach dem Sykes-Picot-Abkommen im Jahre 1916 unter den vier Staaten Türkei, lran, Irak und Syrien aufgeteilt. Im Irak siedeln die Kurden (über fünf Millionen Menschen) vor allem in den nördlichen Provinzen Dohuk, Arbil, Sulaimania und Kirkuk (Südkurdistan).

Politische Eigenständigkeitsbestrebungen unterschiedlichen Grades und unterschiedlicher Intensität der kurdischen Parteien wurden auch im Irak, vor allem unter der seit 1968 herrschenden Baath-Partei, niemals akzeptiert. Dabei hatte die Politik der Kurden-Parteien im Irak bisher nicht mehr und nicht weniger als eine politische Autonomie innerhalb des irakischen Staatswesens zum Ziel. In den 70er Jahren erfolgte eine verstärkte Bekämpfung der Kurden durch die irakische Regierung. Obwohl der Konflikt offiziell durch das irakisch- iranische Abkommen vom 5. April 1975 durch die Gewährung eines »Autonomiestatus« scheinbar gelöst wurde, gingen die Auseinandersetzungen weiter.

In den 80er Jahren, vor allem im Zusammenhang mit dem irakisch-iranischen Krieg 1980 bis 1988, nahm die Repressionspolitik Bagdads genozidalen Charakter an. Während des Krieges wurden große Teile des Siedlungsgebietes der Kurden im Nordirak abgesperrt, vermint und zerstört. In der Zeit von 1973 bis 1989 wurden zahllose Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Viele Menschen, vor allem Männer - schätzungsweise 400 000 - wurden verschleppt.

Ihren Höhepunkt fand das Vorgehen der irakischen Zentralregierung gegen die Kurden in der Anfal-Offensive des irakischen Militärs von Februar bis September 1988, in deren Verlauf rund 75 Prozent der gesamten dörflichen Gemeinden und Strukturen zerstört wurden. (Die Bezeichnung »Anfal« bezieht sich historisch auf die gewaltsame Islamisierung des kurdischen Territoriums durch das arabische Khalifat.) Die kurdische Bevölkerung der zerstörten Dörfer und Städte wurde zu Hunderttausenden in riesige Umsiedlungslager und »Kollektivstädte« deportiert. Das Schicksal von etwa 180 000 Menschen ist bislang immer noch nicht geklärt.

Als Gipfel des Vernichtungsfeldzuges gegen die Kurden unternahm die irakische Armee am 16. März 1988 einen barbarischen Giftgasangriff auf die Stadt Halabja. Rund 5 000 Menschen verloren auf der Stelle ihr Leben, zirka 7 000 in der Folgezeit. Bis zu 10 000 Menschen starben auf der Flucht. Viele Überlebende leiden bis heute an gesundheitlichen Schäden.

»Save Haven« - eine Schutzzone für Kurden?

Nach dem Sieg der westalliierten Mächte über den Irak im Golfkrieg 1990/91 und dem Waffenstillstand von Februar 1991 erhoben sich die Kurden Nordiraks - wie auch die Schiiten im Süden des Landes - im März 1991 in einem Volksaufstand gegen Iraks Präsidenten Saddam Hussein. Ermuntert auch durch den US-amerikanischen Präsidenten, war die Erhebung zunächst durchaus erfolgreich. Doch nach dem Einsatz von Hubschraubern, die nicht unter das UN-Embargo nach dem Golfkrieg fielen, wurden die Aufstände mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Die Kurden, die auf internationale Hilfe hofften, wurden enttäuscht. Dies bewirkte eine Massenflucht von rund zwei Millionen Menschen in Richtung türkischer und iranischer Grenze; mehr als 20 000 Menschen starben auf der Flucht vor allem durch Minenexplosionen. Erst zu diesem Zeitpunkt schreckte die »internationale Gemeinschaft« auf.

Die Operation »Provide Comfort« der Alliierten des Golfkrieges begann, um den kurdischen Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Im Norden des Irak wurde bis zum 36. Breitengrad von den Vereinten Nationen auf der Basis der Sicherheitsresolution 688 vom 5. April 1991 eine Schutz- und Flugverbotszone (»Save Haven«) eingerichtet und den Flüchtlingen sichere Rückkehr unter Geleit alliierter Soldaten versprochen. Die irakische Armee sah sich gezwungen, sich aus diesen Zonen zurückzuziehen. Sie verließ daraufhin auch kurdische Gebiete, die nicht von den Alliierten protektioniert wurden (Provinz Sulaimania, Teile der Provinz Kirkuk), während sie in anderen Teilen Irakisch- Kurdistans (größter Teil der Provinz Kirkuk, Teile der Provinz Mosul, Erdölgebiete) ihre Präsenz behielt.

Die Kurden nutzten in dieser Zeit die Chance, um selbstverwaltete Organe aufzubauen. Völkerrechtlich schien eine kritische und ungeklärte Situation zu entstehen, die die Kurden mit Wahlen zu einem Regionalparlament (Mai 1992) in den Gebieten, aus denen sich das irakische Militär zurückzog, für sich zu klären versuchte. Bei diesen Wahlen erhielten die traditionell einflußreichsten kurdischen Parteien, die Kurdische Demokratische Partei (KDP) unter Führung von Masud Barzani und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) unter Führung von Jalal Talabani, jeweils 50 Parlamentssitze. Die Assyrer (vorwiegend Christen) haben, zusätzlich über die Assyrische Demokratische Bewegung, fünf Sitze erhalten. In der von KDP und PUK dominierten Koalitionsregierung (Juli 1992) erhielten auch die Assyrer wie auch die Kommunisten, Islamisten und andere Kräfte je einen Ministerposten.

Trotz des erklärten internationalen Schutzes, der Wahlen und der Bildung einer eigenständigen Regierung blieben der Status des Gebietes und die Situation grundsätzlich unklar, wurde Irakisch-Kurdistan einmal als eigenständiges Gebiet und einmal als integraler Bestandteil Iraks angesehen; faktisch schien ein »Machtvakuum« zu herrschen. Es wurden keine Schritte unternommen, die kurdische Selbstverwaltung und »Autonomie« international anzuerkennen - was völkerrechtlich eine durchaus diffizile Angelegenheit wäre.

Souveränität Iraks nicht in Frage gestellt

Der Status von Irakisch-Kurdistan und damit auch der Charakter der »Schutzzone« wird vielfach unterschiedlich und widersprüchlich eingeschätzt und interpretiert. Fakt ist, daß es keine eindeutigen rechtlichen und völkerrechtlichen Regelungen und Verbindlichkeiten für solche Gebiete gibt. Völkerrechtlich gibt es in der maßgeblichen UN- Sicherheitsratsresolution 688 lediglich den Bezug auf eine Schutzverpflichtung gegenüber den Flüchtlingen. Sie stellt in keiner Weise die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität Iraks in Frage, ja bekräftigt sie sogar. Der grundsätzliche rechtliche und internationale Status der Region als integraler Bestandteil der Republik Irak hat sich demzufolge nicht verändert. Die kurdischen Gebiete in Nordirak haben zu keiner Zeit jemals internationale Anerkennung gefunden. Es gibt weder eine eigene kurdische Verfassung noch sonst eine neue Rechtsprechung, faktisch nur den Umstand, daß jetzt Bürger kurdischer Nationalität Verwaltungsbehörden besetzen. Die grundsätzliche Bindung an den irakischen Staat wurde damit zu keinem Zeitpunkt aufgehoben.

Der Versuch, nach den Wahlen 1992 in den nordirakischen UN-Schutzzonen kurdische Verwaltungsstrukturen aufzubauen und zu festigen sowie die eingeleiteten Demokratisierungstendenzen zu stabilisieren, scheiterte an internen und externen Faktoren. Die neue Situation barg in sich ein enormes soziales, politisches und militärisches Konfliktpotential. Tiefgreifende innere Widersprüche wurden durch äußere Einflüsse und Einmischung verschärft, so daß es seit Mai 1994 zu lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den zwei führenden kurdischen Parteien im Nordirak, KDP und PUK, kam, Der innerkurdische Konflikt, in dessen Ergebnis erneut Hunderttausende Flüchtlinge unterwegs waren, war prägend für die heutige Konstitution der Herrschaftsverhältnisse und Machtapparate der jeweiligen Parteien. In Folge des Konfliktes wurde die Region in zwei getrennte Einflußzonen gespalten. Die nördlichen Provinzen Dohuk und Arbil werden von der KDP, und die südliche Provinz Sulaimania mit Teilen der Provinz Kirkuk von der PUK in faktischer Alleinherrschaft mit getrennten Verwaltungs- und Regierungsstrukturen kontrolliert.

Ende August 1996 griffen irakische Truppen als Bündnispartner der KDP und auf deren Hilfegesuch in den Bürgerkrieg ein, wobei die Hauptorte Arbil und Sulaimania besetzt wurden. Der Einmarsch der irakischen Armee am 31. August 1996 stellte die massivste Demonstration der Saddam- Regierung dar, den legitimierten Herrschafts- und Hoheitsanspruch auf Irakisch-Kurdistan umzusetzen und das Land wieder vollständig zu kontrollieren. Großangelegte geheimdienstliche Operationen führten zu massenhaften Verhaftungen und teilweise sofortigen Hinrichtungen von irakischen Oppositionellen und nicht zuletzt zu neuen Fluchtbewegungen. Der Einmarsch der irakischen Truppen und die fortgesetzten militärischen Übergriffe durch Irak zeigen augenscheinlich, wie unsicher der Status der Region ist, welche Stabilität und welchen Wert die vielpropagierte formale kurdische Selbstverwaltung hat und daß der Irak nach wie vor eigentlicher Hausherr ist.

Die Situation blieb permanent gespannt - auch nach vorübergehenden Rückzügen irakischer Armeekräfte. Dafür sind nicht zuletzt regelmäßige Anschlagserien vor allem irakischer Geheimdienste verantwortlich. Dazu kommt, daß insbesondere die Politik der Nachbarstaaten Türkei und Iran den Interessen lrakisch-Kurdistans widersprach und widerspricht. Zahllose militärische Übergriffe und Interventionen, subversive Tätigkeiten der Geheimdienste sowie Behinderungen des Grenzverkehrs stören massiv den Wiederaufbau und schüren vor allem die internen Konflikte. Die türkische Armee führt bereits seit 1994 in regelmäßigen Abständen großangelegte Militäroperationen in Irakisch- Kurdistan durch, um dort ansässige Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu bekämpfen. Im Jahre 1997 kam es z. B. zu einem Einmarsch von über 50 000 Soldaten, die bis zu 200 Kilometer ins Land eindrangen.

Zuletzt bombardierten türkische Kampfflugzeuge am 15. August diesen Jahres - offiziell von türkischer Seite bestätigt - erneut zivile Ziele in den kurdischen Gebieten Nordiraks, wobei 41 Menschen, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, getötet und 57 verletzt wurden. Die Türkei geht davon aus, daß sich zahllose PKK-Kämpfer in den kurdischen Nordirak zurückzogen, nachdem die PKK im September 1999 die Absicht verkündete, den bewaffneten Kampf gegen die türkische Regierung einzustellen und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage anzustreben.

Das Abkommen von Washington

Eine scheinbar friedvolle Perspektive tat sich im Jahre 1998 auf. Unter Vermittlung der USA unterzeichneten die Generalsekretäre von KDP und PUK, Masud Barzani und Jalal Talabani, am 17. August 1998 in Washington ein Abkommen, mit dem der seit Ende 1997 eingetretene Waffenstillstand bekräftigt und die Absicht zur Herstellung eines dauerhaften Friedens vereinbart wurde. Für 1999 wurden Parlamentswahlen in der gesamten Region festgelegt. Es sollten Maßnahmen zur Normalisierung der Lage ergriffen werden (Austausch von Gefangenen, gemeinsame Kontrolle der Zolleinnahmen, Aufbau einer gemeinsamen Verwaltungsstruktur, Reiseverkehr u. a.). Ein regelmäßig tagendes, gemeinsames Hohes Koordinierungskomitee (HCC) sollte praktische Fragen der Normalisierung regeln und die Abstimmung vorbereiten. Gegenüber der irakischen Regierung wurde eine gemeinsame Haltung gefunden, indem man sich insbesondere darauf verständigte, alle die Menschenrechte betreffenden Punkte der UNO-Resolution 688 dringend einzufordern.

Die Umsetzung des Abkommens erwies sich in der Folgezeit jedoch als außerordentlich konfliktreich und schwierig. Militärische Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien sind seitdem zwar nicht wieder ausgebrochen, die Kluft zwischen beiden Parteien ist jedoch nach wie vor tief. Der Konflikt wurde in der Tat mit dem Waffenstillstand nicht beendet. Die Rivalitäten bestehen fort; auch erneute bewaffnete Zusammenstöße können nicht ausgeschlossen werden.

Es wurde bisher nicht eine einzige der festgelegten Maßnahmen des Washingtoner Abkommens realisiert. Ständige verbale Anfeindungen, gegenseitige Schuldzuweisungen und Diffamierungen wechseln mit vorübergehenden Perioden von Gesprächsbereitschaft und auch Zusammenkünften.

So konnten denn auch vor allem die vorgesehenen allgemeinen Wahlen bisher nicht durchgeführt werden. Es wurden auch keine praktischen Schritte in dieser Hinsicht unternommen. Statt dessen gab es z. B. im PUK-Gebiet im Februar 2000 zum ersten Mal Kommunalwahlen. Auch läßt der vollständige Austausch von Gefangenen und die Rückführung von Flüchtlingen auf sich warten.

Ernüchternde Bilanz der Verträge

Eine funktionsfähige einheitliche Selbstverwaltung von lrakisch-Kurdistan gibt es bis heute nicht. Im Gegenteil, die beiden Parteien haben in ihrem territorialen Einflußgebiet eigene Verwaltungs- und Machtstrukturen etabliert, die keinen unabhängigen Kontrollinstanzen unterworfen sind. Die geschaffenen »parteiabhängigen« Instanzen und Behörden reglementieren dabei nicht nur weite Bereiche des täglichen Lebens, sondern kanalisieren und steuern auch die internationalen Hilfslieferungen, kontrollieren die Grenze und haben polizeiliche und militärische Zuständigkeiten. Für den Aufbau von parteiunabhängigen, demokratischen Strukturen existiert aus diesem Grunde nur ein sehr eingeengter Spielraum; zwangsläufig wäre dies mit einem gravierenden Machtverlust der beiden führenden Parteien in ihrem jeweiligen Einflußgebiet verbunden.

Allerdings finden von Zeit zu Zeit Sitzungen des Hohen Koordinierungskomitees statt - in der Regel jedoch ohne substantielle Ergebnisse. Von relativer Bedeutung waren die Washingtoner Gespräche zwischen Delegationen der PUK und KDP vom 16. bis 25. Juni 1999 unter Schirmherrschaft des US-Außenministeriums, um über die Umsetzung des Washingtoner Abkommens von 1998 zu beraten. Diese Gespräche verliefen nach Angaben der Parteien in einer angespannten, jedoch insgesamt positiven Atmosphäre. Sie hätten dazu beigetragen, die Position der jeweils anderen Partei besser zu verstehen und nach Lösungen für die anstehenden Fragen zu suchen. Es wurde über die Einstellung, der gegenseitigen Pressekampagnen, die Haltung zur PKK, die Eröffnung von Vertretungsbüros im Gebiet der jeweils anderen Partei, die Rückkehr von Vertriebenen, die Aufteilung von Einnahmen und anderes gesprochen. Auf der anderen Seite kann nicht verschwiegen werden, daß keinerlei konkrete Schritte zur Umsetzung der ursprünglich im Abkommen getroffenen Vereinbarungen unternommen wurden, geschweige denn, daß die Kernfragen zur demokratischen Überwindung des Machtkampfes zwischen PUK und KDP gelöst werden konnten. Infolgedessen ging man auch ohne jegliche Abschlußerklärung auseinander.

Hoffnungsschimmer waren lediglich die Absichtserklärungen, daß am Abkommen von Washington festgehalten werden solle und die anstehenden Probleme zwischen PUK und KDP mit friedlichen Mitteln gelöst werden müßten. Das Ziel einer politischen und sicherheitspolitischen Normalisierung der Lage in Irakisch-Kurdistan sowie der Bildung einer vereinigten gemeinsamen Verwaltung mit Neuwahlen bleibe bestehen.

Die wirtschaftliche Lage der Kurdengebiete im Nordirak ist durch eine Reihe von Besonderheiten geprägt. So führte die langjährige, systematische Politik der irakischen Regierung zur zielgerichteten Veränderung der Wirtschaftsstrukturen im kurdischen Landesteil. In deren Folge kam es zu großflächigen Umsiedlungen der ländlichen kurdischen Bevölkerung in künstlich geschaffene städtische Ansiedlungen (mujamm'at), im Grunde genommen riesigen Sammellagerstätten. Dies führte in großem Maße zu einer verhängnisvollen Zerstörung der ländlichen Dorfstrukturen, sozialer Entwurzelung der Landbevölkerung, einem weitgehenden Zusammenbruch der gesamten landwirtschaftlichen Produktion und massenhafter Abhängigkeit dieser Bevölkerungsteile von staatlich verteilten Nahrungsmitteln bereits seit Anfang der 80er Jahre. Als »Kornkammer Iraks« hat Irakisch-Kurdistan damit seit langem aufgehört zu existieren.

Dazu kommen die direkten Zerstörungen infolge von Krieg (1980 bis 1988 Krieg zwischen Iran und Irak), den bürgerkriegsähnlichen militärischen Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Parteien (1994 bis Ende 1997), fortgesetzte schwerwiegende militärische Operationen der Saddam-Regierung gegen das kurdische Volk (darunter 1988 die erwähnte Anfal-Operation mit dem Giftgasangriff gegen die Stadt Halbja). Diese Faktoren führten dazu, daß die Infrastruktur des Landes zu etwa 80 Prozent zerstört wurde (Gebäude, Schulen, Krankenhäuser, Kultureinrichtungen, Straßen, Brücken, Elektrizitäts-, Wasserversorgung, Telefonnetz u. a.).

»Oil for Food« - Tropfen auf den heißen Stein

Auch die nationale und internationale Embargopolitik als direkte Folge des Golfkrieges von 1990/91 traf die kurdische Bevölkerung schwer. Dazu gehört das von Saddam Hussein gegenüber Irakisch-Kurdistan verhängte Embargo nach dem Kurdenaufstand von März 1991 und der Etablierung von Selbstverwaltungsorganen sowie die bis 1997 von der UNO über den gesamten Irak verhängten Sanktionen (UN- Sicherheitsresolution 661).

Der entstandenen humanitären Katastrophe begegnete der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 986, die das Programm »Oil for Food« beinhaltet. Danach konnte die irakische Regierung Erdöl im Wert von zwei Milliarden US-Dollar innerhalb von sechs Monaten verkaufen, um dafür Importe zur Lösung der humanitären Probleme zu tätigen. In einem »Memorandum of Understanding« von 20. Mai 1996 wurden Fragen der praktischen Umsetzung des Programms geregelt. Die Aufteilung der Gelder erfolgt zu 53 Prozent für Zentralirak, 13 Prozent für Irakisch-Kurdistan, 30 Prozent für Kriegsreparationen an Kuwait, 2,2 Prozent für die UN- Verwaltung und 0,8 Prozent für UN-Schutz- und Kontrollkräfte (UNSCOM) auf Konten, auf die die Saddam-Regierung keinen Zugriff hat. Im Jahre 1998 wurde durch die UNO anerkannt, daß die bereitgestellten Mittel nicht ausreichend sind, um vor allem die Probleme in der Nahrungsmittelversorgung zu lösen. Mit der UN- Sicherheitsratsresolution 1143 wurde daraufhin der Betrag auf 5,2 Milliarden US-Dollar bei Beibehaltung der Prozentanteile aufgestockt.

Das Programm kann die Bedürfnisse der Region bei weitem nicht decken und schon gar nicht die wirtschaftlichen Zerwürfnisse kurz- oder mittelfristig beseitigen. Vor allem erfordert die Rückführung der Landbevölkerung und Bauern in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete einen immensen Aufwand.

Die Durchsetzung des Programms wird dabei auch in Irakisch-Kurdistan durch verschiedene Unterorganisationen der UNO (FAO, UNESCO, WHO, UNICEF u.a.) in Zusammenarbeit mit den regionalen Behörden und NGOs ermöglicht. Bereits auf der Grundlage der UN- Sicherheitsratsresolution 688 von 1991 wurde humanitären Hilfsorganisationen gestattet, in der Region für Wiederaufbauhilfe tätig zu sein.

Embargo als Basis der Schattenwirtschaft

Äußerlich betrachtet, scheint es in Irak eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu geben. Insbesondere der Bausektor profitiert, und die Infrastruktur wurde wesentlich ausgebaut. Die materiellen Verhältnisse der Menschen haben sich in der Tat verbessert. Fast drei Viertel der insgesamt rund vier Millionen Einwohner in Irakisch-Kurdistan bekommt nahezu kostenlos und unabhängig vom sozialen Status die Grundnahrungsmittel regelmäßig über das World Food Program der UNO zur Verfügung gestellt. Damit wird über das »Oil-for-Food«-Programm die Grundversorgung der Bevölkerung abgesichert.

Was es darüber hinaus zu verteilen gibt, sind vor allem die Zolleinnahmen aus dem illegalen Warenverkehr (einschließlich Öl- und Treibstoffexport) durch die Umgehung des Embargos von und nach der Türkei. Die Grenze zur Türkei ist damit von außerordentlicher Bedeutung und wird von der KDP kontrolliert. Die Einnahmen aus diesem Warenverkehr sind deren wichtigste Einkommensquelle und entscheidender Bestandteil des Disputs mit der PUK, die daran nicht beteiligt ist. Die PUK dagegen kontrolliert den weniger bedeutsamen Grenzhandel zum Iran.

Unter diesen Bedingungen hat sich eine eigenartige Schattenwirtschaft herausgebildet, die die Gesamtlage zunehmend bestimmt und wesentlich durch Devisenhandel, Schmuggel und Korruption gekennzeichnet ist. Die Sanktions- und Embargopolitik brachte es faktisch mit sich, daß die Kontrolle über den alles entscheidenden Waren- und Hilfsgüterverkehr (sowohl über die UNO-Hilfsprogramme als auch illegal mit der Türkei und Iran) darüber bestimmt, wer das Land wirtschaftlich und politisch beherrscht. In diesem System spielen KDP und PUK die wichtigste Rolle und streben die Kontrolle über die lukrativen Geschäfte an. Nicht zufällig äußern sich ihre Rivalitäten und Differenzen als Verteilungskampf um Einnahmen (d. h. im wesentlichen der Zolleinnahmen aus dem Grenzverkehr) sowie Anteilen an internationalen Hilfsprogrammen.

Auf der anderen Seite wird der Wiederaufbau des Landes grundsätzlich durch das Embargo gebremst. Der Import von Waren, vor allem Investitionsgütern und Ersatzteilen, zur Instandsetzung der zerstörten Betriebe und Infrastruktureinrichtungen ist faktisch untersagt. Das Land ist infolgedessen praktisch deindustrialisiert und ohne eine nennenswerte eigene Warenproduktion. Bilaterale staatliche Entwicklungshilfeprogramme indes sind auf Grund des rechtlichen und internationalen Status der Region (als Bestandteil der Republik Irak) nicht möglich. Daran ändert auch die momentane Abwesenheit zentralirakischer Verwaltungsstrukturen und ihre Einnahme durch Vertreter der kurdischen Parteien grundsätzlich nichts.

Die ökonomische und soziale Ordnung Irakisch-Kurdistans, die sich vor dem Hintergrund der Sanktions- und Embargopolitik und des etablierten internationalen Hilfssystems herausgebildet hat, knüpft strukturell und von seinen Grundlagen her unmittelbar an das repressive und loyalitätsabhängige Wohlfahrtssystem an, das die irakische Führung bereits seit den 70er Jahren auf der Basis der Erdöl- Einnahmen aufbaute. Nur ist das gesamte wirtschaftliche Leben heute abhängig vom Ausland und fremdbestimmt. Eine eigene, sich selbsttragende Wirtschaft gibt es nicht. Auch die vielen Hilfsprojekte waren und sind zu wenig Hilfe zur Selbsthilfe und haben Abhängigkeiten geschaffen. Und ebenso sind die Menschen - trotz ihrer durchaus insgesamt verbesserten materiellen Lebenslage - über die umfassende Nahrungsmittelhilfe unmittelbar abhängig vom Wohlwollen des Auslands. Mangels wirtschaftlicher Alternativen sind sie vielfach zu Almosenempfängern abgestempelt worden.



Das baathistische Irak begreift sich als nationalistisch- arabischer Staat, obwohl die Zusammensetzung der Bevölkerung sehr heterogen ist. Die Baath-Partei hat bereits seit ihrer Machtübernahrne 1968 eine systematische und rigorose Politik der »ethnischen Säuberung« in Irakisch- Kurdistan betrieben und zu einem Kennzeichen irakischer Herrschaftspraxis gemacht. Die Arabisierung ist seit langem Bestandteil der chauvinistischen Politik der Baath-Partei gegenüber dem kurdischen Volk, mit der sie letztlich versucht, die Kurden zu assimilieren oder aber zu verfolgen und zu vertreiben.

Charakteristikum dieser Politik ist dabei, daß sie weniger »rassisch« als vielmehr territorial determiniert ist. Ihr Ziel ist vor allem, die Kurden als »ethnische Gruppe« in ihrer Verbindung mit dem Gebiet »Kurdistan« zu beseitigen. So werden Kurden in Zentral- oder Südirak prinzipiell nicht mehr als Gefahr für das Regime betrachtet, da sie nicht mehr in »ihrem« Territorium leben. In Nordirak lebende Kurden bekommen sogar ein »Hilfsangebot«, vor allem nach Südirak umzusiedeln. Wo Kurden aber in einem Gebiet leben, das als Land »Kurdistan« beansprucht wird, sind sie Verfolgung, Vertreibung, gravierender staatlicher Repression und massiven Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Genozid, wie dies die Anfal-Operation belegte, ausgesetzt.

In den 90er Jahren hat diese Verfolgung, Vertreibung und die damit einhergehende Arabisierung ein neues Ausmaß angenommen. Dieser Kurs betrifft dabei insbesondere die kurdischen Siedlungsgebiete, die unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung blieben, d. h. sich nicht innerhalb der »Schutzzone« bzw. den sogenannten Autonomiegebieten befinden, konkret die erdölreiche Provinz Kirkuk. In der Zeit von 1968 bis zum Kurdenaufstand von 1991 wurden hier insgesamt 779 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.

Die Saddam-Regierung hat Gesetze geschaffen, wonach die Kurden des Gouvernements faktisch enteignet und vertrieben werden können. So dürfen sie dort zwar ihr Eigentum verkaufen, jedoch ist es ihnen bereits seit den 70er Jahren verboten, Haus- und Grundbesitz zu erwerben, auszubauen oder zu renovieren. Nachlässe dürfen nicht auf kurdische Angehörige übertragen werden. In großer Anzahl wurden kurdische Schulen und Kultureinrichtungen geschlossen. Die Kurden dürfen in dieser Region auch nicht als Staatsbeamte beschäftigt werden.

Von 1991 bis einschließlich Juli 2000 hat die irakische Regierung aus den Städten Kirkuk, Khanaqeen, Mandati, Singar und anderen insgesamt 16 875 Familien, d. h. 100 329 Personen, deportieren lassen. Die absolute Mehrheit von ihnen ging in die kurdisch selbstverwalteten Gebiete, vor allem in die unter PUK-Kontrolle stehende Nachbarprovinz Sulaimania. 15 862 Familien wurden in dieser Zeit aus der Kirkuk-Region in das Gouvernement Sulaimania und 1 013 Familien in das Gouvernement Arbil vertrieben. Es ist inzwischen normale Praxis geworden, daß in jeder Woche zahlreiche Familien ihre Heimat verlassen müssen und ausgewiesen werden. Diese Menschen haben die Wahl, entweder in die kurdisch kontrollierten Gebiete von Irakisch-Kurdistan oder nach Südirak zu gehen. Wenn sie sich für die kurdischen Autonomiegebiete entschließen, verlieren sie ihren gesamten Besitz, einschließlich ihre Pässe. Wenn sie in den Südirak gehen wollen - wo sie dann eine Minderheit darstellen - können sie ihr Hab und Gut behalten.

Kurz vor der Volkszählung von 1997 bekamen die Kurden der Region die Aufforderung durch Bagdad, ihre ethnische Identität zu ändern und sich als Araber registrieren zu lassen. Den Verweigerern wurde mit zwangsweiser Ausweisung gedroht. Inzwischen wurde faktisch die kurdische Bevölkerungsmehrheit sowohl der Stadt Kirkuk als auch der Provinz Kirkuk beseitigt. Der Name der Provinz wurde umbenannt in »AI-Ta'mim«, was in arabisch »Nationalisierung« bedeutet (gemeint ist die Nationalisierung der ausländischen Erdölgesellschaften im Jahre 1972). Das gesamte umliegende Gebiet der Stadt und der Ölfelder wurden zur Militär- und Sicherheitszone erklärt, vorhandene Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner deportiert, das Gebiet großflächig mit Landminen ausgelegt und mit Militärposten besetzt. Gleiches betrifft die Zufahrts- und Verbindungsstraßen Kirkuks mit den Nachbarstädten.

Die Tragödie des kurdischen Volkes zeigt sich schließlich darin, daß die vertriebenen Kurden vielfach unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht in großen Lagern leben müssen. Die Erwachsenen haben in der Regel keine Arbeit bzw. keine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Kinder gehen nicht zur Schule. Die Menschen sind in ihrer Existenz auf Gedeih und Verderb von Zuwendungen der Wohltätigkeitsorganisationen abhängig. Eine große Anzahl machte und macht sich auf den Weg nach Europa und vergrößert hier das Heer der Asylsuchenden.

In großem Umfang siedelt die irakische Regierung Araber in der Region an. Bereits in der Zeit vor 1990 wurden Zehntausende arabische Familien aus Zentral- und Südirak in Kirkuk und Umgebung angesiedelt. Neben anderen Privilegien bekommen sie kostenfrei Häuser zur Verfügung gestellt und erhalten Beschäftigung in verschiedenen Einrichtungen, insbesondere im Machtapparat wie Polizei, Militär, Geheimdienst, staatlicher Verwaltung, Baath-Organisationen sowie in der »Volksarmee«, eine Art Schutz- und Kampfgruppe für die Städte, die Ölfelder, Straßen und lnfrastruktureinrichtungen. Bei den Kurden werden diese zugewanderten Araber in Abhängigkeit von der Höhe der erhaltenen Staatszuwendungen »Zehntausend-« oder »Zwanzigtausend-Dinar-Leute« genannt. In den nördlichen und östlichen Teilen der Kirkuk-Provinz ist dagegen die Ansiedlung von Arabern nicht so leicht, wegen der dort schwierigeren Schutzbedingungen. Das irakische Militär zerstörte deshalb dort Hunderte von Dörfern.

Kürzlich beschloß Bagdad die Ansiedlung von palästinensischen Flüchtlingen in der Region und versucht damit offensichtlich, einen Keil zwischen kurdisches und palästinensisches Volk zu treiben. Die zur Umsiedlung aufgerufenen Palästinenser kommen sowohl aus dem Irak als auch aus anderen Ländern. Mehrere hundert Familien dieser Palästinenser, die schon in Irak ansässig sind, werden jetzt in den Gebieten von Kirkuk und Khanaqeen angesiedelt und bekommen Häuser und landwirtschaftliche Nutzfläche.

Die fortgesetzte Vertreibung von Kurden - und in den letzten Jahren auch von Turkmenen (Anteil von rund 16 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Provinz Kirkuk laut Volkszählung von 1977, der letzten verfügbaren Statistik) - und die Ansiedlung von Arabern auf deren Land verletzt insbesondere die UN-Sicherheitsratsresolution 688 von 1991. Die »internationale Gemeinschaft« reagiert bis heute jedoch nicht, um diese Vorgänge zu verurteilen, zu stoppen bzw. rückgängig zu machen.

Aus: junge welt, 19., 20., 21. und 22. September 2000

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