Schönreden hilft nicht
Attentate, Hunderte Tote, Mangel an Strom und Wasser: Fünf Monate nach den Parlamentswahlen im Irak ist das Land in einer katastrophalen Lage
Von Karin Leukefeld *
Offiziell starben im Juli bei Anschlägen im Irak insgesamt 535 Menschen
-- 396 Zivilisten, 89 Polizisten und 50 Soldaten. Diese Statistik wurde
von den Ministerien für Gesundheit, Verteidigung und Inneres
zusammengestellt, die tatsächlichen Zahlen könnten allerdings darüber
hinausgehen. Es handelt sich um die höchste Zahl irakischer Opfer seit
Mai 2008, damals starben 563 Personen. Der Statistik zufolge war auch
die Zahl der Verletzten im Juli die höchste in diesem Jahr. Danach
wurden 1043 Personen verletzt, 680 Zivilisten, 198 Polizisten und 165
Soldaten. 100 »Aufständische« wurden getötet, 955 wurden verhaftet,
heißt es weiter. Auch vier US-Soldaten starben im Juli, doch nur einer
von ihnen bei Kampfhandlungen. Nach offiziellen Angaben sind noch 65000
US-Soldaten im Irak, bis Anfang September soll sich die Zahl bis auf
50000 verringert haben.
Machtvakuum
Fünf Monate nach den Parlamentswahlen am 7. März hilft das Schönreden
von Demokratie und Freiheit im Irak nicht mehr. Fast täglich gibt es
Angriffe und Explosionen im Irak, die in den Medien oft nur noch eine
Fußnote ausmachen. Am Anfang des Monats waren drei Tage hintereinander
schiitische Pilger in Kadhimiya das Ziel, am Ende des Monats traf es
wieder schiitische Pilger in Kerbala. Auch sunnitische Muslime und
Christen werden angegriffen, niemand bleibt verschont.
Politiker und das US-Militär machen das politische Machtvakuum
verantwortlich, das die »Aufständischen« nutzen könnten, das Land zu
destabilisieren. Weil der amtierende Ministerpräsident Nuri Al-Maliki
seine knappe Niederlage gegen den Herausforderer Ijad Allawi nicht
anerkennt, bleibt er einfach im Amt und blockiert die Bildung einer
parteiübergreifenden Regierungskoalition. Mitte August beginnt der
vierwöchige Fastenmonat Ramadan, in dieser Zeit sind keine
Überraschungen zu erwarten. Ob es nach dem Ramadan ab Mitte September
neue politische Initiativen geben wird, bleibt abzuwarten. Aufrufe und
mittlerweile auch Schmähungen anderer Politiker sitzt Maliki aus und
zieht den Spott der Leute auf sich, die mit Witzen wie diesem reagieren:
»Haben Sie Klebstoff«, fragt ein Kunde im Laden und als der Verkäufer
ihm verschiedene Sorten zeigt, fügt der Kunde hinzu: »Ich will einen
Klebstoff, der so gut klebt wie der, mit dem Maliki sich auf seinem
Stuhl festgeklebt hat.«
Selbst Außenminister Hoshyar Zebari beschrieb die Situation kürzlich als
»peinlich« (in einem Gespräch mit AFP). Er habe an einigen Terminen im
Ausland nicht teilgenommen, weil er dort »nichts sagen« konnte. Obwohl
es sich im Irak nach den Wahlen um eine Übergangsphase handele, sei es
für ihn »schwierig, den Leuten im Ausland zu erklären, warum es bis
heute keine Regierung gibt.« Er könnte nicht erklären, »warum die eigene
politische Führung ihre Eigeninteressen, ihren Egoismus nicht aufgibt
zugunsten dem Allgemeinwohl im Land«, so Zebari. Allerdings habe auch
die letzte Kabinettsbildung (2005) fünf Monate gedauert. »Dieses
Schlingern der Regierung muß gestoppt werden, es trifft keine
ernsthaften Entscheidungen«, räumte Zebari auf Nachfrage ein. Genau
genommen habe die Regierung seit Anfang des Jahres überhaupt keine
Entscheidung getroffen. »Wenn es im September oder Oktober noch immer
keine Regierung gibt, ist das schlecht für alle und sieht gar nicht gut
aus.«
Keine Investitionen
Auch wenn sich die Iraker mit Witzen bei Laune zu halten versuchen, zu
lachen haben sie wirklich nichts. Es fehlt weiter an Strom und Wasser,
an Arbeit und medizinischer Versorgung. Um die Industrie wieder
aufzubauen, bräuchte das Land mindestens sieben Milliarden US-Dollar an
Investitionen und einen Stufenplan, um die schrottreifen Anlagen nach 30
Jahren Krieg und Sanktionen zu modernisieren, sagte Fawzi Hariri von der
Kurdischen Demokratischen Partei (KPD), Industrieminister seit 2006.
Nach der Invasion (2003) standen 99 Prozent der irakischen staatlichen
Betriebe still«, so Hariri in einem Interview. »Sie waren entweder
zerstört, geplündert oder geschlossen.« Nach Angaben des Ministers seien
inzwischen 70 Prozent der Fabriken wieder in Betrieb, was schwer
nachprüfbar ist. Das Industrieministerium kontrolliere 70 Betriebe der
Bau- und Chemiebranche, Petrochemie, Werkzeugbau,
Nahrungsmittelproduktion, Pharmazie und Textilherstellung. 122 weitere
Betriebe würden von anderen Ministerien kontrolliert. Es fehle an
staatlichen Investitionen, die Firmen konkurrierten gegeneinander um
Geld, das von der Regierung aber vor allem in die Sicherheitsbranche, in
Gesundheit, Bildung und die Ölindustrie fließe. Man versuche, private
Investoren zu finden, so Industrieminister Hariri. Ziel sei, bis zu 95
Prozent der staatlichen Fabriken »glücklich zu privatisieren«. Bis Ende
2010 sollen alle Fabriken wieder laufen, bis 2015 sollen Investitionen
und Privatisierung vorangetrieben sein und bis 2020 soll der private
Sektor so weit entwickelt sein, daß er bis zu zehn Prozent der
Inlandsproduktion ausmache. Leider sei die Sorge um eine gute
Sicherheitslage weiterhin »ein großes, großes Problem« für potentielle
Investoren, meint der Industrieminister, »aber es wird ja von Tag zu Tag
besser.«
* Aus: junge Welt, 3. August 2010
Angriff auf Fernsehsender **
Die Wucht der Detonation, die Ende Juli das Büro des Nachrichtensenders
Al Arabiya in Bagdad in Schutt und Asche legte, war so stark, daß im
Umkreis von 500 Metern sämtliche Fenster zerbarsten. Anders, als die
meisten ausländischen Medien in der irakischen Hauptstadt hatte Al
Arabiya sich außerhalb der martialisch abgesicherten »Grünen Zone« in
dem beliebten Wohnviertel Harithya eingemietet.
Hätte Al Arabiya einen normalen Arbeitstag gehabt, wäre die Opferzahl
vermutlich weit höher gewesen, denn die Bombe explodierte um 9.30 Uhr,
Termin der Morgenbesprechung. So starben drei Wachleute und eine
Putzfrau, 15 Personen wurden verletzt. Der Fahrer des todbringenden
Wagens hatte sich mit einem Ausweis am Kontrollpunkt vor dem Gebäude
identifiziert und war durchgewinkt worden, Metalldetektoren wurden nicht
eingesetzt oder blieben stumm. Ob er von den 128 kg Ammoniumnitrat, das
jedem Düngemittel beigemischt wird, wußte und sich absichtlich in die
Luft sprengte oder ob die Explosion per Fernsteuerung ausgelöst wurde,
ist nicht bekannt. Sofort nach der Explosion riegelten irakische
Sicherheitskräfte das Gelände ab.
Ende Juni hatte das Innenministerium den Fernsehsender vor Anschlägen
von Al-Qaida gewarnt, weswegen die Arbeit lediglich mit einem Notdienst
abwickelt wurde. Nach der Explosion machte die Regierung Al-Qaida
verantwortlich, die sich tags darauf auf ihrer Internetseite »Al-Qaida
in Mesopotamien« auch zu der Tat bekannte. Der Anschlag sei eine Antwort
auf Berichte des Senders über den Einfluß von Al Kaida im Irak, zitierte
die New York Times das Al-Qaida-Internetportal; weitere Anschläge würden
folgen, hieß es da: »Wait for more«.
Al Arabiya forderte die irakische Regierung auf, die Täter zur
Verantwortung zu ziehen, doch es ist unwahrscheinlich, daß das gelingen
wird, zumal es derzeit offiziell gar keine Regierung gibt. Nach Angaben
des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden seit der Invasion
2003 141 Journalisten getötet, die irakische Organisation »Journalism
Freedom Observatory« gibt die Zahl der getöteten Journalisten und
Medienmitarbeiter für den gleichen Zeitraum mit 249 an, viele Fälle
wurden nie aufgeklärt.Al Arabiya hat seit 2003 im Irak 15 Mitarbeiter
verloren. (kl)
** Aus: junge Welt, 3. August 2010
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