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Die tödliche Realität in Irak wird ignoriert

Studie: "Kriegsverbrechen von monströsem Ausmaß" / Regierung in Bagdad handlungsunfähig

Von Karin Leukefeld *

Die medienwirksamen Bilder vom Sturz der Saddam-Hussein-Statue in Bagdad sind längst verblasst. Heute herrschen Gewalt und Chaos in Irak.

Vier Jahre nach dem Sturz der Statue von Saddam Hussein auf dem Ferdoz-Platz im Herzen Bagdads ist das Leben in Irak gefährlicher als je zuvor. Eine Untersuchung der renommierten medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« fand heraus, dass mehr als 600 000 Menschen seit der 2003 von den USA und Großbritannien geführten Invasion in Irak ums Leben gekommen sind. Für die Studie hatte die John-Hopkins-Schule für Öffentliche Gesundheit 1850 Familien (12 800 Personen) an 47 zufällig ausgewählten Orten in 16 irakischen Provinzen befragt.

Die Erhebung hatte im Oktober 2006 stattgefunden. Der britische Premierminister Tony Blair wie auch USA-Präsident George W. Bush bezeichneten die Untersuchungsergebnisse damals umgehend als »unglaubwürdig«. Stellungnahmen der irakischen Regierung folgten dieser Einschätzung, die schließlich die Berichterstattung über die Studie in den westlichen Medien dominierte. Aus einer nun von der Londoner Rundfunkanstalt BBC veröffentlichten Korrespondenz des britischen Außenministeriums geht hervor, dass Wissenschaftler der Regierung schon damals die Untersuchung für »glaubwürdig« und »robust« hielten, das aber offiziell nicht sagen durften. Man könne die Untersuchungsmethode »nicht einfach als Blödsinn abtun«, hieß es da. »Sie wurde mehrfach angewandt und für gut befunden, um in Konfliktzonen die Sterblichkeitsrate zu messen.« Richard Horton, Herausgeber von »The Lancet«, forderte daraufhin erneut, die »horrende Opferzahl« irakischer Zivilisten endlich anzuerkennen. Die britische Regierung sei an einem »Kriegsverbrechen von monströsem Ausmaß« beteiligt.

Die Zeugen für dieses »monströse Kriegsverbrechen« werden immer weniger. Unabhängig recherchierende Journalisten riskieren ihr Leben, es gibt kaum noch Hilfsorganisationen in Irak, die nicht in die US-amerikanischen oder britischen militärischen Wiederaufbauprogramme eingebunden sind. Die Stimmung in der Bevölkerung ist so von Misstrauen geprägt, dass unabhängige humanitäre Helfer zwischen alle Fronten geraten. Nach Auskunft von Cedric Turlan, dem Sprecher des Koordinationskomitees von Hilfsorganisationen in Irak (NCCI), wurden seit März 2003 mindestens 84 Helfer getötet, 18 Ausländer und 66 Iraker. »Das sind die Todesfälle, von denen wir wissen. Die Zahl der lokalen Helfer, die getötet wurden, ist sicherlich höher.« Unter Saddam Hussein hätten Helfer als »Spione ausländischer Mächte« gegolten, seit 2003 sei die Grenze zwischen militärischem und privatem Sektor einerseits und humanitärer Hilfe andererseits völlig verwischt, kritisiert Turlan. Humanitäre Helfer seien nicht mehr klar erkennbar. Fatal sind die Folgen dort, wo gekämpft wird. Während die einen die Helfer als Kollaborateure angreifen, blockieren ausländische und irakische Truppen deren Zugang zur Zivilbevölkerung.

Iraks Regierung kann oder will die tödliche Realität in ihrem Land nicht wahrhaben. Die Bevölkerung ist nicht nur abgestoßen von den gigantischen Gehältern, die Minister und Abgeordnete einstreichen. Die meisten Politiker leben und arbeiten in der USA-geschützten »Grünen Zone« oder sind so oft im Ausland, dass sie den Bezug zur irakischen Wirklichkeit verloren haben. Das Parlament debattiert nur sporadisch und hat bei politischen Entscheidungen ohnehin wenig zu sagen. Regierungschef Nuri al-Maliki muss sich den Forderungen der eigentlichen Machthaber in Irak unterwerfen – den Offiziellen in der USA-Botschaft.

Die »Sicherheitsoffensive«, die vor fast zwei Monaten unter großem Medienaufwand in Bagdad und Umgebung gestartet wurde, scheint indes ins Leere zu laufen. Auch die von Maliki vor einem Jahr initiierte Versöhnungsoffensive ist heute kein Thema mehr. Wer politisch in Irak mitreden will, braucht bewaffnete Milizen, das zeigt nicht zuletzt der stille Abgang des »Elder Statesman« Adnan Pachachi, der noch im Jahr 2004 als möglicher neuer Präsident Iraks gehandelt wurde. Mangels Schutz und Geldgebern hat er sich Ende letzten Jahres aus der irakischen »Politik« zurückgezogen. Seine früheren Mitarbeiter leben heute als politische Flüchtlinge im Ausland.

* Aus: Neues Deutschland, 10. April 2007


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