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"Wer weiß, ob wir morgen noch leben"

Zwei Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs beherrscht die Angst viele Menschen

Von Karin Leukefeld, Bagdad*

Um 5.33 Uhr (Ortszeit) am 20. März 2003 eröffnete die USA-Luftwaffe mit der Bombardierung Bagdads die »Operation Iraqi Freedom« – die Invasion in Irak.

Die ersten Bomben, die im Herzen der irakischen Hauptstadt niedergingen, trafen einen Sportclub der Baath-Jugend, der in Al Hindia lag, einem stillen Wohnviertel am Tigrisufer. Die Häuser in der Nachbarschaft erbebten unter der Wucht, mit der die Bomben tief ins Erdreich der Sportanlage eindrangen. Fenster zerbarsten, Geschirr fiel aus den Schränken.

»Es war wie ein mächtiges Erdbeben«, erinnert sich die 68-jährige Suha al-Turaihi, die unweit davon wohnte. Vier Wochen später war das »Erdbeben« vorbei, Präsident Saddam Hussein und seine Regierungsmannschaft waren verschwunden, und die USA-Armee zog in Bagdad ein.

Als Saddam Husseins Statue stürzte

Die Bilder der stürzenden Saddam-Hussein-Statue am Palestine-Hotel auf dem Ferdos-Platz verfolgte Sahar Basmaji am Fernseher in Amman. Ihr Mann war allein in Bagdad zurückgeblieben, er wollte das Haus der Familie nicht verlassen. »Ich war froh, als ich das sah«, erinnert sie sich. »Endlich waren der Krieg und die Bombardierung von Bagdad zu Ende. Das war für mich das Wichtigste.«

Die USA und die Invasion fremder Truppen spielten für die 46-jährige Frau zunächst keine Rolle. Doch als sie mit ihren beiden Kindern aus Jordanien in die Heimat zurückkehrte, war sie schockiert: »Die Zerstörung war überall zu sehen, niemand sorgte für Sicherheit. Nur Amerikaner waren auf den Straßen, mit ihren Panzern und Jeeps. Ich konnte nicht glauben, dass dies mein Bagdad sein sollte!«

Zwei Jahre später hat sich das Leben von Sahar Basmaji völlig verändert. Sie verlässt ihre Wohnung kaum. Selbst zum Friseur um die Ecke lassen sie Ehemann und Sohn nicht laufen, sondern bringen sie mit dem Auto dorthin und holen sie wieder ab. Alles ist teurer geworden; Strom-, Wasser- und Benzinmangel machen das Leben beschwerlich.

Sahar Basmaji war froh, dass Saddam Hussein gestürzt wurde, er sei ein »schlimmer Diktator« gewesen. Doch als Christen hätten sie unter Saddam Hussein nie Angst haben müssen, erinnert sie sich. Heute werde so viel über Muslime und Christen, über Sunniten und Schiiten, über Turkmenen und Kurden geredet, dass sie Angst habe, eines Tages könne Irak wirklich auseinander brechen. »Früher haben wir gar nicht darüber nachgedacht. Niemand hat gefragt, welche Religion du hast. Wir haben ganz normal miteinander gelebt, als Freunde, als Nachbarn.« Heute werde man zuerst gefragt, ob man Christ oder Muslim sei. »Und wenn ich sage, ich bin Christin, wollen sie wissen, ob ich chaldäisch oder assyrisch oder armenisch bin.«

»Jetzt sind wir wieder eingesperrt«

Alles habe angefangen, als Paul Bremer, der USA-Statthalter, die erste Regierung nach konfessionellem und ethnischem Proporz zusammensetzte, das habe die Spaltung erst geschaffen. Frieden und Demokratie? Sahar Basmaji lacht bitter. »Ich wäre glücklich, wenn ich mich daran beteiligen könnte«, sagt sie. »Wenn es nicht jeden Tag Entführungen, Morde und Bombenexplosionen gäbe.« Sie hat Angst, am Telefon zu sprechen, sie kann nicht allein einkaufen gehen, auch die Kinder verlassen das Haus nach der Schule nicht mehr. Wenn sie ihre Freunde treffen wollen, bringt der Vater sie mit dem Auto hin. »Früher haben wir in einem Gefängnis gelebt, und jetzt sind wir wieder eingesperrt.« Der Ehemann ihrer Nachbarin wurde entführt, und vor wenigen Wochen wurde eine Freundin auf offener Straße ermordet, weil sie für eine USA-Firma gearbeitet hatte. »Was kann ich mit Freiheit und Demokratie anfangen, wenn ich gezwungen bin, zu Hause zu sitzen? Nur wenige Leute sind politisch aktiv.«

Tief fliegen zwei Militärhubschrauber über die Wohnung von Frau Sahar. Einige hundert Meter entfernt stehen US-amerikanische Soldaten an einem Kontrollpunkt. Sie hoffe täglich, dass das Leben wieder normal werde, sagt Sahar Basmaji und zeigt auf die Schornsteine, die sich über einer Flussbiegung des Tigris erheben. Zwei der vier Türme des Elektrizitätswerks von Dora stoßen schwarzen Rauch aus. Immerhin arbeiten also zwei der vier Turbinen wieder, das gebe Hoffnung. »Doch morgen kann schon wieder alles anders sein«, fügt Frau Sahar deprimiert hinzu. »Wer weiß, ob wir morgen noch am Leben sind.«

* Neues Deutschland, 19. März 2005


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