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Nordirak: Hospitäler arbeiten am Limit

Jesidische Tragödie wird von allen Seiten politisch ausgenutzt

Von Karin Leukefeld *

Während Ärzte in den überlasteten Krankenhäusern um das Leben der Verletzten ringen und die ersten Toten begraben werden, wird die jesidische Tragödie von allen Seiten politisch ausgenutzt.

»Wir brauchen alles mögliche zur Notversorgung, Verbände, Pflaster, Schmerzmittel.« Nach mehr als 24 Stunden auf der Notfallstation ist Dr. Diar Muhammad müde. Fast ununterbrochen ist er im Krankenhaus von Dohuk im Einsatz, seit am Dienstagabend vier Autobomben zwei jesidische Ortschaften an der irakisch-syrischen Grenze auslöschten. Die Krankenstationen in der nächsten Umgebung, auch das Kreiskrankenhaus in Sindschar waren völlig überfordert, als am frühen Dienstagabend die ersten Opfer der furchtbaren Explosionen eingeliefert wurden. In der kleinen Krankenstation von Kataniya waren nur zwei Ärzte, es fehlte an allem.

Im Vergleich zu anderen Kliniken in der Region ist das Krankenhaus in Dohuk gut ausgestattet, dennoch fehlen »Nadeln, Spritzen, Antibiotika«, sagt Dr. Muhammad, um Infektionen zu vermeiden, um Menschenleben zu retten. In den vergangenen Stunden hat der Arzt hat viele der eingelieferten Menschen sterben sehen, hat Verletzte versorgt, hat Arme, Beine, Füsse und Hände amputiert, Stümpfe gesäubert und genäht, hat schwere Brand- oder Schnittverletzungen behandelt und versucht, verzweifelten Menschen Mut zuzusprechen. Unter den Verletzten sind vile Kinder, manche finden in dem völlig überfüllten Krankenhaus nur noch einen Platz an der Seite eines ebenfalls verletzten Elternteils. Sie gehören zu den glücklicheren Opfern dieses grauenhaften Anschlags, sie sind nicht allein geblieben in ihrem Schrecken. Wie das Mädchen auf den Armen ihres verstörten Vaters. Der hagere Mann steht im Flur des Krankenhauses, wendet sich suchend hin und her, während andere Verletzte und Pflegepersonal an ihm vorbeihasten. Viele suchen nach Angehörigen oder Nachbarn, berichtet Dr. Muhammad einem Mitarbeiter des UN-Informationsnetzwerks IRIN. Andere »bringen »Körperteile, die sie zwischen den Trümmern gefunden haben.« Noch wurden wenige Tote beerdigt, weil manche Leichen so zerrissen sind, dass man sie nicht identifizieren könne, sagt Ahmed Salem, ein Polizeioffizier. Man warte auf Experten aus Bagdad, »sie helfen uns, die menschlichen Überreste zuzuordnen.«

Stunden später wurde die Tragödie bereits von allen Seiten genutzt, um die eigenen politischen Interessen zu untermauern. US-General Petreus erklärte, der Anschlag habe gezeigt, dass die Truppen im Irak bleiben müssten. Die kurdische Autonomieregierung forderte von Bagdad und dem US-Militär, die eigenen kurdischen Streitkräfte einsetzen zu können,um die zentrale Zugangsstrasse nach Sindschar zu kontrollieren. Sie könnten die Jesiden besser schützen, als die Regierung in Bagdad. Die wiederum ist so mit ihren internen Problemen beschäftigt, dass sie außer einer dürren Erklärung von Abscheu über die Tat und Mitgefühl für die Opfer nicht viel zu sagen wußte. Dr. Dakhil Said Khidir, Beiratsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Erbil und Staatsminister in der Kurdischen Regionalregierung (KRG) forderte, dass die kurdischen Jesiden in Ninova und Sindschar sich an dem für Ende 2007 vorgesehenen Referendum über die Zukunft Kirkuks beteiligen sollten. Sindschar solle zukünftig zu Kurdistan gehören, »weil die Lage dort sicher und friedlich ist«, wird Dr. Khidir in einer GfbV-Erklärung zitiert. Dr. Kemal Sido, Nahostbeauftragter der in Göttingen ansässigen Organisation, verwies im ND-Gespräch auf Artikel 140 der irakischen Verfassung. Danach könnten Volksgruppen per Referendum entscheiden, von wem sie zukünftig regiert werden möchten. Die Kurden hätten gegenüber der Regierung in Bagdad durchgesetzt, dass »alle umstrittenen Gebiete am Rande Kurdistans«, auch die kurdischen Jesiden om Ninova, das Recht hätten, in die kurdischen Autonomieprovinzen integriert zu werden. »Die Jesiden trauen den irakischen Truppen nicht.«

Silvana Boya Nasir Alkourany sitzt für die Assyrische Nationale Partei im Stadtparlament in Kirkuk. Die energische Politikerin fordert besseren Schutz für Jesiden und Christen in der Region von Sindschar, hält aber eine Integration in die kurdischen Gebiete nicht für den richtigen Weg. Die Aufspaltung Iraks helfe niemandem, sagt sie am Telefon, macht aber aus ihrer Skepsis gegenüber extremistischen Muslimen keinen Hehl. Weiterer Streit ist vorprogrammiert.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2007

Besatzerfrüchte

Nach dem Massaker im Nordirak

Von Werner Pirker **

Die von den US-Besatzern in die Welt gesetzte Behauptung, die Sicherheitslage im Irak stabilisiert zu haben, ist durch die Bombenanschläge im Norden auf grausame Weise widerlegt worden. Mag sein, daß die Absicht der ruchlosen Mörder auch darin bestand, einen Nachweis für ihre ungebrochene terroristische Energie zu liefern. Ein Akt des nationalen Widerstandes gegen die Fremdherrschaft war die Ermordung von 500 Menschen, überwiegend Angehörige der unter der kurdischen Volksgruppe verbreiteten Religionsgemeinschaft der Yeziden jedenfalls nicht. Denn nationaler Widerstand kann nur die Bündelung der nationalen Kräfte zur Voraussetzung haben und nicht deren gegenseitige Ausrottung.

Die Grundlage für die von den Amerikanern beklagte »sektiererische Gewalt« ist von ihnen selbst gelegt worden. Das anmaßende Projekt, auf den Trümmern eines zerstörten Nationalstaates »Nation building« zu betreiben, erwies sich in der irakischen Wirklichkeit als reine Abstraktion. Die Zersetzungsprodukte der Nation machten sich selbständig. Wer an Teile und Herrsche gedacht hatte, mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Teile zu herrschen begannen. Der »politische Prozeß«, den die Besatzungsmacht dem Land auferlegte, zielte auf die Auflösung des irakischen Nationalbewußtseins in unterschiedliche konfessionelle und ethnische Identitäten.

Das hatte immerhin zum Ergebnis, daß sich bis heute keine gesamtnationale Widerstandsfront gebildet hat. Doch auch der Terrorismus, der in dem unter yezidischen Kurden angerichteten Massaker einen neuen Höhepunkt gefunden hat, liegt in der Logik dieser Politik. Die Sicherheit der Menschen nicht gewährleisten zu können, schlimmer noch: Verhältnisse herbeigeführt zu haben, die immer mehr Iraker Tod und Verderben aussetzen, stellt der US-Herrschaft über den Irak das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Washingtons globale Sicherheitsdoktrin, die die Abwendung der terroristischen Bedrohung, die weltweite Verbreitung der Demokratie und auch noch Frieden und Wohlstand für alle verhieß, erlebt im Irak ihren kläglichen Abgesang.

Sollte das Kalkül des jüngsten Mordkommandos darin bestanden haben, die US-Besatzungstruppen als gescheiterte Ordnungsmacht bloßzustellen, dann wäre dies nicht nur zynisch, sondern auch selbstmörderisch. Denn bei einer ungebremsten Fortsetzung des Terrorkrieges zwischen den Volksgruppen könnten in den Augen der Bevölkerung über kurz oder lang die Besatzer als das kleinere Übel erscheinen. Die Abschlachtung von Irakern, wer immer sich dessen schuldig gemacht hat, stellt einen Aggressionsakt gegen das irakische Volk dar. Der Bürgerkrieg ist die Fortsetzung des Krieges, der mit der US-Invasion begonnen hat. Ein Widerstand, der sich bevorzugt untereinander bekriegt, kann zwar alle US-Ordnungskonzepte über den Haufen werfen – er würde aber auch alle Ansätze für ein neues irakisches Projekt zerstören.

** Aus: junge Welt, 17. August 2007 (Kommentar)




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