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Quelle allen Übels

Irak nach der Wahl: Der gegenwärtige politische Prozeß im Irak wird die Krise nicht lösen

Von Harith Sulayman Al Dhar*

Es gibt eine lange irakische Zivilisationsgeschichte, die sowohl zum Wissen als auch zur Weisheit der Menschheit beigetragen hat. Über Jahrhunderte immunisierte der Islam den Irak gegen religiöse und sektiererische Streitigkeiten und schützte die irakische Bevölkerung vor der Unterdrückung, der die Völker der Alten Welt ausgesetzt waren. Generationen von Irakern gelang es, eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Religionen und Volksgruppen zu erhalten, obwohl sie mit viel Leid und schwierigen Aufgaben konfrontiert waren. Dieser tugendhafte Zusammenhalt ermöglichte es dem Irak, sich nach jeder Katastrophe wieder zu erneuern und die innere Ordnung wieder herzustellen.

In der jüngeren Geschichte waren die vergangenen 35 Jahre eine der schwierigsten Perioden. Der Irak wurde von einer Minderheit mit nur einer einzigen Partei regiert, die dem Land eine Reihe von Tragödien und dem irakischen Volk schwere Verluste bescherte. Im letzten Kapitel dieser schmerzlichen Ära wurden die Iraker jahrelang mit Sanktionen bestraft, die Hunderttausende unschuldiger Menschen das Leben gekostet hat, die meisten der Opfer waren Kinder. Die Sanktionen endeten mit der Invasion, was gegen den Willen der Vereinten Nationen geschah, dann folgte die völkerrechtswidrige Besatzung durch die US-amerikanischen und britischen Truppen. Die Eindringlinge beriefen sich auf Vorwände, die sich schon bald als falsch herausstellten. Dazu gehörte auch die Lüge über die Massenvernichtungswaffen.

Kollektive Bestrafung

Die Lage verschlechterte sich zusehends unter der Besatzung, nicht einer der versprochenen Vorteile wurde eingehalten: Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Statt dessen leben die Iraker in Angst, Armut, Unterdrückung und Unfreiheit.

Die Besatzungstruppen greifen inzwischen zu exzessiver Gewalt, sie morden willkürlich und bestrafen die Bevölkerung kollektiv. Sie haben ganze Städte belagert, gestürmt, Angst und Schrecken unter den Einwohnern verbreitet und ihre Häuser zerstört. Die Iraker wurden erniedrigt, ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt. Sie wurden brutaler und grausamer Folter ausgesetzt, wie es im berüchtigten Gefängnis von Abu Ghraib geschah, oder wie der Mißbrauch von Gefangenen durch britische Truppen in Basra gezeigt hat.

Die rasch aufeinander folgenden irakischen Regierungen sind skandalös gescheitert. Es ist ihnen nicht gelungen, die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, wodurch junge Männer sich gezwungen sehen, beim Militär oder in Sicherheitseinrichtungen zu arbeiten. Das wiederum hat sie ins Feuer eines ebenso zerstörerischen wie vergeblichen Krieges geworfen. Viele andere junge Männer wurden in Drogengeschäfte verwickelt, denn der Irak wurde zum Schauplatz dieser unheilvollen Industrie. Und das, obwohl der Irak bis zur Invasion eines der wenigen Länder in der Welt war, das keine großen Drogenprobleme kannte.

Das Verhalten und die Motivation der Besatzungsbehörden waren von Anfang an suspekt, als sie den organisierten Raub öffentlichen Eigentums förderten. Sie ließen Waffenlager unbewacht, lösten die irakische Armee auf und ersetzten sie mit Milizionären, deren Ziele nichts mit dem kollektiven Interesse des irakischen Volkes zu tun hatten. Sie führten sektiererische und ethnische Quoten in der Politik ein und bereiteten damit den Weg für die ernsten sektiererischen und ethnischen Konflikte, die von manchen politischen Gruppen ausschließlich für ihre eigenen Ziele ausgenutzt werden.

Gibt es eine Lösung? Der Grund des Problems, die Quelle allen Übels ist die Besatzung, die das alles über den Irak und die Iraker gebracht hat. Damit muß Schluß sein. Doch die US-Administration hält an ihrer Besatzung fest und besteht darauf, einen völlig unglaubwürdigen politischen Prozeß voranzutreiben.

Betrug bei Wahlen

Die Ablehnung, die einige irakische politische Gruppen und religiöse Persönlichkeiten diesem Prozeß entgegenbringen, basiert nicht auf einer Gegnerschaft zu friedlichem, politischem Engagement und der Entscheidung, lieber eine gewaltsame Lösung zu wählen. So wird es immer von der Medienmaschinerie behauptet, die von den Besatzern gesponsert wird. Nein, die Ablehnung basiert auf der Überzeugung, daß Gerechtigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit grundlegende Voraussetzungen für einen glaubwürdigen politischen Prozeß sind. Keine dieser Voraussetzungen ist vorhanden, und darum kann der laufende politische Prozeß dem irakischen Volk weder Frieden noch Sicherheit bringen.

Der Betrug, der bei den Januar-Wahlen und auch beim Referendum über den Verfassungsentwurf im Oktober zu beobachten war – wodurch effektiv der Willen der Mehrheit der Iraker geleugnet wurde – hat nur dazu beigetragen, daß Skepsis und Mißtrauen derjenigen gestärkt wurden, die in der vergangenen Woche die Parlamentswahlen boykottiert haben.

Ob Iraker gewählt haben oder nicht, nur wenige halten diese letzten, von den Besatzern unterstützten Wahlen für freier und fairer als die vorangegangenen. Sie werden nicht dazu beitragen, die Krise zu lösen, mit der das Land konfrontiert ist.

Ende der Okkupation

Damit ein politischer Prozeß erfolgreich ist, braucht er eine gesunde Umgebung und die kann sich nur entwickeln, wenn die Besatzung endet. Nach Ansicht der Vereinigung der Muslimgelehrten (Association of Muslim Scholars, AMS) gibt es eine einfache und logische Lösung des irakischen Problems. Diese Lösung stimmt mit dem Völkerrecht überein und würde es stärken. Diese Lösung würde das tägliche Blutvergießen stoppen, sie würde die Grundlage für Rechtsstaatlichkeit schaffen, mit der die Rechte aller Iraker geschützt würden. Diese Lösung würde die menschliche Würde schützen, eine Alternative zur Besatzung bieten, wie es in dem Memorandum erklärt wird, das wir an die Vereinten Nationen und die Arabische Liga übergeben haben.

Für diese Lösung müßten folgende Voraussetzungen geschaffen werden: 1. Die USA und ihre Verbündeten müßten einen Zeitplan für den Truppenabzug vorlegen. 2. Die Besatzungstruppen würden durch eine UN-Truppe ersetzt, deren Hauptaufgabe es wäre, die Sicherheitslücke zu füllen. Danach müßte drittens eine irakische Übergangsregierung für sechs Monate unter UN-Aufsicht glaubwürdige Parlamentswahlen vorbereiten, an der alle Teile der irakischen Gesellschaft teilnehmen könnten. Und schließlich würde eine so rechtmäßig gewählte irakische Regierung die Aufgabe übernehmen, die landesweiten zivilen und militärischen Einrichtungen aufzubauen.

Nichts wird im Irak funktionieren, solange das Problem nicht bei der Wurzel gepackt wird: Die Besatzung muß beendet werden.

* Harith Sulayman Al Dhari ist Generalsekretär der Vereinigung der Muslimgelehrten im Irak. Übersetzung aus dem Englischen: Karin Leukefeld

Aus: junge Welt, 20.12.2005



Nach der Wahl: Erste Ergebnisse aus Bagdad

Vier Tage nach der Parlamentswahl im US-besetzten Irak hat die Wahlkommission am Montag erste Teilergebnisse aus fünf Provinzen veröffentlicht. Im größten Wahlbezirk, der Hauptstadtregion Bagdad, soll nach Auszählung von 89 Prozent der Wahlurnen das schiitische Parteienbündnis Vereinte Irakische Allianz mit 58 Prozent in Führung sein. Mit deutlichem Abstand folgt demnach die sunnitische Partei Irakische Eintracht, drittstärkste Kraft wurde die säkulare Irakische Liste des früheren Interimpremiers Ijad Allawi. Noch deutlicher fiel der Vorsprung der schiitischen Allianz in der überwiegend von Schiiten bewohnten Provinz Basra im Südirak aus. In den drei nördlichsten Provinzen Dahuk, Erbil und Suleimanija dominieren erwartungsgemäß die kurdischen Parteien.

Wesentlich wichtiger als das neuerliche Wahlspektakel in der vergangenen Woche dürfte für die meisten Iraker die drastische Erhöhung der Benzinpreise sein. Am Montag gingen deshalb in zahlreichen Städten des besetzten Zweistromlandes Iraker auf die Straße. Das Ölministerium hatte die Preise am Sonntag auf einen Schlag um das fünf- bis siebenfache erhöht. Superbenzin kostet jetzt umgerechnet 14 Euro-Cent, normales Benzin 10 Cent.

In Deutschland dominierte am Montag in der Irak-Berichterstattung Freude und Erleichterung über die Freilassung von Susanne Osthoff. Die 43jährige Archäologin soll am Sonntag abend von ihren Kidnappern freigelassen worden sein. Über die Hintergründe der Entführung und das Ende der Geiselnahme hüllte sich die Bundesregierung in Schweigen.

Zur Zeit sind im Irak noch mindestens fünf westliche Ausländer in der Gewalt von Entführern. Über das Schicksal des französischen Ingenieurs Bernard Planche sowie der Friedensaktivisten Norman Kember aus Großbritannien, Tom Fox aus den USA und den beiden Kanadiern James Loney und Harmeet Singh Sooden ist nichts Genaues bekannt.
jW


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