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"Die großen Verlierer sind die irakische Übergangsregierung und die mit ihnen verbündeten Amerikaner"

Aber wer sind die Gewinner? - Pressestimmen und Kommentare zu den Vorgängen in Nadschaf - Bush-Interview in der New York Times

Es war fast wie ein Wunder aus 1001 Nacht: Nach drei Wochen heftigsten Kämpfen um die Imam-Ali-Moschee in Nadschaf zwischen den Milizen des Predigers al Sadr und US-amerikanischen und irakischen Soldaten kam ein rekonvaleszenter Großayatollah, der gerade erst in London eine Herzoperation hinter sich gebracht hatte, mit Tausenden Gläubigen in die Pilgerstadt, verhandelte mit seinem jüngeren und, wie es immer heißt, "radikalen" Glaubensbruder und erreichte tatsächlich einen Waffenstillstand, den Abzug der bewaffneten Truppen (Milizen, US- und irakische Truppen) und die Übergabe der Moschee an den Großayatollah. Alle beugten sich der Autorität des 75-jährigen obersten geistlichen Führer der Schiiten, Ali el Sistani, und stellten damit den politischen und militärischen Instanzen ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: Nicht sie haben offenbar das Heft in der Hand, sondern diejenigen, die sich für ein Ende der Besatzung und für die wirkliche Übertragung der Macht an das irakische Volk einsetzen.

Damit stehen also die Verlierer fest: Die US-geführten Koalitionstruppen und die von den USA und der UNO handverlesenen Mitglieder der irakischen Interimsregierung von Ministerpräsident Allawi. Wer aber sind die Gewinner?

Nun, die Siegestrophäe im Kampf um Nadschaf werden viele für sich beanspruchen wollen. Nicht nur al Sistani selbst, dessen Friedensmarsch nach Nadschaf doch sehr an die legendären Demonstrationen Gandhis erinnerte und somit zur neuen Legendenbildung taugt. Nicht nur die al-Sadr-Kämpfer um die Moschee in Nadschaf, auch nicht die Milizen der Mehdi-Armee, die im benachbarten Kufa gekämpft haben - auch Kufa ist zu einer entmilitarisierten Stadt erklärt worden. Es ist auch ein Sieg des irakischen Widerstands insgesamt: Die bewaffneten Kräfte des Widerstands werden sich auf das Beispiel Nadschaf genauso berufen wie die vielen Menschen, die mit ihrer Meinung schon lange nicht mehr hinter dem Berg halten und immer unverhohlener den Abzug der Besatzer fordern. Dieser breite Widerstand ist längst keine Angelegenheit der "Sunniten" allein, sondern eben jener schiitischen Bevölkerungsmehrheit, in deren Namen die US-Regierung meinte ihren Angriffskrieg gegen Irak geführt zu haben.

Just an dem Tag, an dem al Sistani seine erfolgreiche Vermittlung im Konflikt um Nadschaf startete, gab US-Präsident George W. Bush der New York Times ein Interview, aus dem am folgenden Tag Auzüge veröffentlicht wurden (Auszug siehe weiter unten). Die Nachrichtenagenturen vermeldeten, Bush habe erstmals Fehleinschätzungen in der Zeit nach dem Krieg zugegeben. Er und seine Berater hätten geglaubt, dass die Anhänger Saddam Husseins während des Krieges stärker "dezimiert" worden wären, als es offenbar geschehen sei. Saddams Leute hätten nicht wie erwartet standhaft gekämpft, sondern hätten sich angesichts des schnellen Vormarsches der US-Truppen rasch im Land zerstreut. Und nun stünden sie den US-Truppen wieder gegenüber. Mir scheint, dass Bush hier einer neuerlichen Fehleinschätzung aufsitzt. Es sind nicht die alten Gefolgsleute Saddams allein, die seit Monaten im Widerstand sind, es sind auch nicht nur Sunniten, die in den "sunnitischen Hochburgen" gegen die Besatzer kämpfen. Im Widerstand drückt sich heute eine allgemeine Haltung der großen Bevölkerungsmehrheit aus. Bush lässt in dem Interview auch überhaupt nicht erkennen, dass er aus der damaligen "Fehleinschätzung" ("miscalculation") gelernt hätte. Auf die Frage, ob es nun eine neue Strategie im Irak gäbe, bleibt er eine Antwort schuldig. Es sieht so aus, als würde der bisherige Weg weiter beschritten: muddling through-sich durchwursteln mit bitterbösen Folgen für alle Beteiligten.

Die Isolierung der Besatzer und die Delegitimierung der Interimsregierung könnten heute größer nicht sein. Manche bedauern dies, weil sie sich mit dem völkerrechtswidrigen Krieg abgefunden haben und glauben, nur die starke Hand des Militärs könne den Irak vor dem Abgleiten in Chaos und Bürgerkrieg bewahren. Nur: Das Chaos und der Krieg sind heute bereits Wirklichkeit. Nadschaf zeigt, dass es auch anders geht. Dazu braucht es aber keine Besatzung.

Pst

Pressestimmen

US-Präsident im Interview mit der New York Times (Auszug)

Mr. Sanger: If you knew at the time the war started that you would be facing 17 months of an insurgency, would you have gone in with the same occupation plan, or do you think you would have committed either more troops or you would have gone after Mr. Sadr more vigorously and earlier?

THE PRESIDENT: We planned for a series of events, some of which happened and some of which didn't happen. And it turns out that as a result of a quick, substantial victory, we faced conditions on the ground that were different than we assumed initially. And that is, we thought that the Baathists would stand and fight and much of the Saddam army would be ready to engage. And instead, because we moved so quickly into the country, they dissipated and spread out into the countryside, and now we're having to face them again. And I think that — that was not a part of our initial calculation; in other words, we thought that they would be more decimated early.

Mr. Sanger: So if you had to recalculate — what might you have done differently in this case?

THE PRESIDENT: David, what I am now doing is leading us forward. There will be ample time for people to dissect decision making, what went right or what went wrong. What is right is that Saddam Hussein sits in a prison cell, and that the world is safer. And we've still got work to do, and that's what we're adjusting to. What's important is, is that our strategy was flexible enough to adjust to conditions on the ground as we eventually found them. Remember, we thought there would be flows of refugees, we thought there would be starvation, we thought the oil fields would be destroyed. And none of that happened. And so, therefore, our commanders were given the flexibility to adjust, and that's what you're seeing. We're adjusting our strategy to the conditions —

You know, I think — looking back, I think that what I told you earlier is that planning for rapid success in Iraq, in other words, we felt there would be an enemy that would be willing to stand and fight, and they did in certain parts of the country. But when it looked like that Saddam was going to fall, and it looks — when they saw how quickly we were moving through their country, there was a — people laid down arms and — actually, they didn't lay down arms. They laid down their willingness to fight and just dissipated into the countryside. And now they're reemerging. Some are reemerging. And that's part of the 17 months that David was talking about.

Mr. Sanger: So this— the mistake is specifically what?

THE PRESIDENT: Well, it's a — it's a miscalculation of the — what the conditions would be like after a swift victory, because we never dreamt it would be that swift.
And so the fundamental question is, what are you doing about it? And what we're doing about it is dealing with it. We've got a flexible plan. In other words, a plan —

Q Was it flexible fast enough? I mean ...

THE PRESIDENT: Well, David, that's what historians and that's what people like yourself could judge. The point is, it was flexible. And we're now dealing with it, and Iraq is headed toward elections.
And, you know, the big picture is this: It was the right thing to remove Saddam Hussein. And it is the right thing to work with Prime Minister Allawi to help them develop a democracy. And I believe we'll succeed. And I know it's very important for the United States not to send mixed signals, for the United States to be firm in our resolve to help them, to do -- to move resources as quickly as possible to help stand up an Iraqi security force that's got a chain of command, that's able to respond to a government that asks them to do things, and to continue the reconstruction efforts. And a free Iraq is — an agent of change. I mean, this is an historic moment.

Mr. Sanger: So the miscalculation — the miscalculation was not guessing that you would be so initially successful that it would, then, trigger this other series of events —

THE PRESIDENT: No, it just created a different set of circumstances on the ground that we had to deal with, and we're dealing with it —

Excerpts of an Interview With President Bush; Published: August 27, 2004
New York Times, 27. August 2004


In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird Sistani als Geistlicher mit "quietistischer" Grundhaltung charakterisiert, der sich bisher von der Tagespolitik ferngehalten und weder von den US-Amerikanern noch von al Sadr vereinnahmen ließ. Auch bestehe er auf einer Trennung von Politik und Islam. Hans-Christian Rößler schreibt weiter:

(...) Statt dessen tat er sich bisher im Irak als ein Befürworter einer schnellen Demokratisierung hervor. Zwar konnte er sich mit der Forderung nach Wahlen noch vor der Machtübergabe im Juni nicht durchsetzen; sie sind jetzt für Anfang 2005 geplant. Aber er erreichte, daß alle Entscheidungen bis dahin unter Vorbehalt stehen. Eine endgültige Verfassung soll erst eine demokratisch legitimierte Führung verabschieden können. Die derzeit geltende Übergangsverfassung entspricht nicht seinen islamischen Vorstellungen. Nicht zuletzt weil er sich weigerte, direkt mit den Amerikanern zu verhandeln, kehrten die UN mit ihrem Sondergesandten Brahimi wieder als politische Kraft in den Irak zurück.
Sistanis Auftreten findet offenbar in der irakischen Bevölkerung Anklang. Nach einer im Juni veröffentlichten Umfrage genießt er das größte Ansehen unter prominenten Irakern, danach folgt Muqtada Sadr und - weit abgeschlagen - der (schiitische) Ministerpräsident Allawi. Dem wünschte er Erfolg bei der Bewältigung der bevorstehenden "Mammutaufgaben". Ähnlich konstruktiv unterstützt er jetzt offenbar auch die Übergangsregierung, um die Kämpfe in Nadschaf zu beenden, deren sie nicht Herr wurde. Als höchste religiöse Autorität würdigte die irakische Regierung jetzt den Großajatollah. Wenn sich in den nächsten Monaten entscheidet, wie der unabhängige Irak letztlich aussehen soll, wird sich Sistani darauf zu berufen wissen.

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 2004

Der Deutschlandfunk interviewte am Mittag des 26. August, als sich al Sistani noch auf der Fahrt nach Nadschaf befand, den Nahostexperten Michael Lüders. Zum Angriff auf die Moschee in Kufa befragt, sagte Lüders:

(...) Ich denke, dass der Beschuss der Moschee in Kufa eher ein Versehen als Absicht war. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass der Beschuss der Demonstranten in Kufa, die eigentlich teilnehmen wollte an dem Sistani-Friedensmarsch in Richtung Nadschaf, dieser gezielte Beschuss war mit Sicherheit ausgelöst durch, ich sage mal, enttäuschte, frustrierte Truppen der irakischen Übergangsregierung. Denn man muss sagen, egal wie sich die sehr unübersichtliche Lage weiterentwickelt, die großen Verlierer in dieser Auseinandersetzung um Nadschaf im Konflikt mit Muktada El Sadr, das sind die irakische Übergangsregierung in Bagdad und die mit ihnen verbündeten Amerikaner. Sie sind politisch diejenigen, die hier großen Schaden genommen haben, während sowohl Sistani als auch Muktada El Sadr sich jetzt als die Friedensstifter und Helden der schiitischen Straße darstellen können.

Eine andere Frage betraf den Großayatollah Al Sistani und dessen Verhältnis zum Prediger al Sadr:

Er ist die wichtigste religiöse und politische Instanz im Irak, er ist diejenige Führungsperson, die nicht nur Schiiten sondern auch viele Sunniten als seriös, als glaubwürdig und als moralisch integer akzeptieren. An ihm können weder die Amerikaner noch die Übergangsregierung in Bagdad vorbei handeln und Sistani hat sich ja eigentlich einen sehr cleveren Schachzug überlegt. Er macht diesen so genannten Friedensmarsch in Richtung auf Nadschaf und nimmt dadurch Muktada El Sadr, das ist jedenfalls seine Hoffnung, den Nimbus, den Heiligenschein des Widerstandskämpfers gegen die Amerikaner und umgekehrt verhindert er auf diese Weise, dass die Übergangsregierung und die Amerikaner gewaltsam die Moschee stürmen, das heißt, er ist sozusagen derjenige, der hier erfolgreich vermittelt hat, so wird es am Ende dann aussehen. Damit hat er natürlich seine Stellung innerhalb der schiitischen Gemeinde noch einmal massiv gestärkt. Aber auch Muktada El Sadr kann sich sagen, ich habe erfolgreich Widerstand geleistet gegen die Amerikaner. Viele, vor allem Schiiten aus der unteren Bevölkerungsschicht, verehren ihn in einem Maße, dass es für Sistani sehr schwer macht, Muktada El Sadr einfach an den Rand zu drängen, er muss sehr aufpassen, dass die Sympathien nicht von ihm übergehen auf Muktada El Sadr, den Sistani selber hasst wie die Pest, wenn ich so sagen darf, denn Sistani möchte, dass sich die Kleriker aus der Politik im Irak heraushalten und genau das Gegenteil praktiziert Muktada El Sadr.

Und zu den Zukunftsperspektiven des Landes sagt Lüders:

(...) man muss ganz klar sagen, dass die Stimmung in der irakischen Bevölkerung nicht sehr positiv ist mit Blick auf die irakische Übergangsregierung. Sie gilt mehr und mehr als eine reine Marionettenregierung, die amerikanische Befehle ausführt. Es ist dabei gar nicht mal entscheidend, ob dieser Eindruck stimmt, aber er wird von den meisten Irakern geteilt und das ist eine sehr gefährliche Situation, dass wir eine Regierung haben in Bagdad, die mehr und mehr zu einer virtuellen Regierung wird, die zwar die Unterstützung der Amerikaner und von ganz kleinen Teilen der Bevölkerung hat, vor allem von den Kurden noch, aber der Rest der Bevölkerung denkt schon in eine andere Richtung und zwar zunehmend in Richtung eines islamischen Staates im Irak.

Interview im Deutschlandfunk, 26.08.2004 (Informationen am Mittag)

Der Kommentator der Frankfurter Rundschau, Matthias Arning, erwartet von Al Sistani aber durchaus ein politisches Eingreifen:

(...) Der Schlüssel zu einem anderen Irak liegt vor allem in den Händen der schiitischen Mehrheit. Von ihr muss das Signal an radikale innerirakische Rebellen ausgehen: mit Gewalt kann es keine demokratische Perspektive geben.
Eine demokratische Verfasstheit ist Hoffnung erst für die Zukunft. Zeit ist nötig, um den Parteien ein hartes, aber eben nicht gewalttätiges Ringen um ihren politischen Platz zu ermöglichen. Im Augenblick aber kommt es darauf an, Empörte zu beschwichtigen, Enttäuschte zu ermutigen und Gewaltbereite zu entwaffnen. Das ist die Aufgabe, mit der sich Hoffnungsträger Sistani unmittelbar konfrontiert sieht. Seine Mission entscheidet über die Wirkungsmacht politischer Autorität. Der alte Mann muss die Chance des Augenblicks ergreifen und gleichzeitig für Geduld werben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 27.08.2004

Einen Tag später berichtet die Frankfurter Rundschau auf einer ganzen Seite (Seite 2: "Thema des Tages") über die Entwicklung in Nadschaf. Michael Lüders geht auf die "Fehleinschätzungen" der USVerwalter ein und fordert eine völlige Neuorientierung:

(...) Letztendlich liegt die Entscheidung bei Washington, welche Entwicklung Irak künftig nimmt. Der Konflikt um die Imam-Ali-Moschee in Nadschaf und der rasante politische Aufstieg Muktada as-Sadrs ist nicht das Ergebnis eines irgendwie "fanatischen Islam", sondern Ausdruck einer politischen Krise, die sich wesentlich amerikanischer Fehleinschätzung irakischer Verhältnisse verdankt. Washington misstraut den Schiiten, weil sie pauschal als "fünfte Kolonne" Teherans gelten. Muktada wurde von Anfang an bekämpft, al-Sistani umgangen, als US-Zivilverwalter Paul Bremer die Modalitäten für die Übergangsregierung aushandelte, auch mit Hilfe des UN-Beauftragten Lakhdar Brahimi. Was folgte, war abzusehen, sofern nicht Ideologie den Blick verstellte. Nun gleicht Irak einem Trümmerhaufen.
Wenn die US-Regierung ihre Politik nicht grundlegend neu orientiert, die Schiiten aktiv in den politischen Prozess eingliedert, auch as-Sadr, dann dürfte Irak außer Kontrolle geraten. Dann werden sich radikale Schiiten und Sunniten verbünden und die Amerikaner in einen anhaltenden Guerillakrieg hineinziehen, während parallel der Staat zerfällt und die Regierung in Bagdad zur Stadtverwaltung degradiert wird. (...)

Aus: Frankfurter Rundschau, 28.08.2004

Frank Herold bricht den Stab über die irakische Übergangsregierung. In der "Berliner Zeitung" schreibt er, sie solle bald "in der Versenkung verschwinden". Den USA bleibe wohl nichts anderes übrig, als sich mit dem neuen starken Mann al Sistani zu arrangieren.

(...) Jetzt gibt es zwei Fragen, die sich jedem Beobachter stellen. Die eine Frage ist, welche Schlussfolgerungen die amerikanischen Besatzungsbehörden aus den Vorgängen um Nadschaf ziehen. Sie können zunächst einmal nur darauf hoffen, dass sich die Lage wieder beruhigt - und dann müssen sie versuchen, sich mit el Sistani zu arrangieren. Eine andere Option haben sie nicht. Die zweite Frage ist deshalb, wie el Sistani sich verhält. Versuche, den Geistlichen für die amerikanischen Vorstellungen von der Zukunft des Irak zu vereinnahmen, sind jetzt erst recht zum Scheitern verurteilt. Am wahrscheinlichsten ist auf Grund seiner bisherigen politischen Haltung, dass der Geistliche sich wieder auf seine Rolle als religiöser Führer zurückziehen und eine direkte politische Rolle und Verantwortung ablehnen wird. Wer aber ist dann ein von einer möglichst breiten Mehrheit akzeptierte Akteur auf der politischen Bühne? Fest steht lediglich, dass die bisherige Regierung das nicht ist. Sie sollte möglichst schnell in der Versenkung verschwinden.

Aus: Berliner Zeitung, 27.08.2004

Im Neuen Deutschland (Kommentar: Olaf Standke) überwiegt noch die Skepsis, ob das Beispiel Nadschaf überhaupt Schule machen kann. Denn noch gehen die Kämpfe in anderen Landesteilen weiter:

Nach seiner Rückkehr aus London konzentrierten sich alle Hoffnungen für eine friedliche Lösung in der heiligen Stadt Nadschaf auf den obersten geistlichen Führer der Schiiten im Zweistromland, der im Stile Gandhis zu einem friedlichen Marsch auf die seit Wochen umkämpfte Imam-Ali-Moschee aufgerufen hat. Ein Armutszeugnis auch für die Übergangsregierung in Bagdad, die sich rat- und hilflos zum militärischen Handlanger der USA-Truppen degradieren ließ, jenseits aller Akzeptanz bei der Mehrheit ihrer Bürger.
Sistani versteht sich anders als seine Glaubensgenossen in Iran nicht als Politiker. Er hält nichts von Radikalen wie dem selbst ernannten Prediger Moktada Sadr und den bewaffneten Widerstand für falsch. Allerdings ist er auch kein Freund der US-amerikanischen Besatzer. Trotzdem können die nur beten, dass die mächtigste Stimme der über 15 Millionen Schiiten in Irak ihre Strahlkraft nicht verloren hat. Denn ungeachtet aller Friedensbemühungen in Nadschaf ist die Gefahr eines Flächenbrandes noch lange nicht gebannt. In Sadr-City gehen die Auseinandersetzung weiter und bei Kämpfen in Kufa starben gestern 74 Menschen.

Aus: Neues Deutschland, 27.08.2004

Einen Tag später erschien in derselben Zeitung ein Kommentar von Jochen Reinert, in dem der Blick auf die Zukunft des Irak gerichtet wird.

Die Friedensaktion von Großayatollah Ali Sistani hat ein überraschend schnelles und für Iraks Schiiten erfreuliches Ende gefunden. Die Waffen schweigen an den heiligen Stätten. Sistani stärkte seine Autorität als oberster geistlicher Führer und der junge Heißsporn Muktada al-Sadr beugte sich, ohne sein Gesicht zu verlieren.
Die großen Verlierer sind die USA-Truppen und die Falken in Iraks Interimsregierung, die gemeinsam das »Problem Sadr« gewaltsam aus der Welt schaffen wollten. Das ist ihnen nicht gelungen. Der aus den verschiedensten Quellen gespeiste irakische Aufstand gegen die fremden Eroberer ist mit Bombardements nicht einzudämmen. Wenn Präsident Bush jetzt erstmals Fehler bei der Beurteilung der Lage in Irak einräumte, so sollte er nun auch den Schluss ziehen, dass nur die volle Souveränität der Iraker über ihre Angelegenheiten und ihre Ressourcen langfristig Frieden im Zweistromland schafft.
Doch auch jede ordentlich gewählte Regierung in Bagdad wird sich mit dem »Problem Sadr« intensiv befassen müssen. Denn die nach Hunderttausenden zählenden arbeitslosen jungen Schiiten von Sadr City, Nadschaf oder Basra brauchen Jobs und Zukunftsperspektiven. Andernfalls bleiben sie eine Zeitbombe.

Aus: Neues Deutschland, 27.08.2004

In der "jungen Welt" wird auf die tödlichen Begleitumstände des Friedensmarsches al Sistanis aufmerksam gemacht.

Allein beim Mörserbeschuß der Hauptmoschee in Kufa sowie beim Feuer auf Demonstranten am Donnerstag sind nach aktuellen Angaben des Gesundheitsministeriums in Bagdad mindestens 110 Menschen getötet und mehr als 500 weitere verletzt worden. Unklar ist, wieviele Iraker bei den Kämpfen und US-Bombardements ums Leben kamen. Noch kurz vor Beginn der Waffenruhe hatte die US-Luftwaffe nach Angaben der New York Times eine 2000-Pfund-Bombe über der Altstadt von Nadschaf abgeworfen.
Und so werden auch die US-Truppen als Verlierer aus der Schlacht um Nadschaf hervorgehen. Nach der mehrwöchigen Belagerung und Bombardierung von Falludscha im April, dem Bekanntwerden der Folter in Abu Ghraib im Mai hat das rücksichtslose Vorgehen in der für die Schiiten wichtigsten Pilgerstadt das Ansehen der Amerikaner im Irak noch weiter sinken lassen.
Al Sadr dagegen geht gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor, auch wenn seine Kämpfer die Imam-Ali-Moschee räumen mußten. Zum einen hatten sie diese ohnehin noch nicht allzulange kontrolliert, zum anderen müssen sie in dem Heiligtum nicht zwingend präsent sein. Die Mehdi-Milizen mögen in Nadschaf geschwächt worden sein, in den Slums von Bagdad und anderen südirakischen Städten sind sie intakt geblieben und haben als Widerstandskämpfer an Ansehen gewonnen. (...)

Aus: junge Welt, 28.082004

Der Kampf um Nadschaf zieht weitere Kreise im Irak und versinnbildlicht die gewachsene Karft des Widerstands. Davon ist Rudolph Chimelli überzeugt, dessen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung bereits vor dem erreichten Waffenstillstand erschien:

(...) Amerikanische Panzer vor dem Mausoleum Alis, des Schwiegersohnes des Propheten, Kampfhubschrauber in der Luft, Granateinschläge in der heiligen Stadt, Hunderte Tote: Was in Nadschaf geschieht, muss fast jeden Iraker empören.
Die Leidtragenden möchten vor allem Ruhe. Aber sie lasten die Kämpfe nicht den Rebellen an, sondern in erster Linie den Besatzern. Diese haben es geschafft, die Volksgruppe der Schiiten von ihrer abwartenden Haltung wohlwollender Neutralität in offene Feindschaft zu treiben.
Nicht nur Nadschaf ist unruhig. Auch in Basra, Kerbela und anderen Städten des einst relativ friedlichen Südens gärt es. Sistanis Forderung, die Kämpfer Sadrs sollten die Moschee räumen und die Amerikaner müssten gehen, entspricht genau dieser Stimmung.
Der mehrmals angekündigte und wieder verschobene Sturm auf die Moschee steht wie ein Rauchschleier vor den Verhandlungen, die hinter der Kulisse geführt werden. In ihnen geht es nicht darum, ob Sadrs Bewegung zur Partei mit Beteiligung an der Macht erhoben wird, sondern um deren Form und Stärke.
Seine Rebellion verkörpert eine Strömung im Irak, die sich nicht mehr ignorieren lässt. Erstmals unter Schiiten vermischt sich in ihr das nationale Element mit dem religiösen. Daraus ergibt sich die Perspektive einer Zusammenarbeit im Untergrund mit den aufrührerischen Sunniten. (...)

Aus Süddeutsche Zeitung, 26. August 2004


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