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Der irakische Nationalrat ist gewählt, kann aber die Gewalt nicht stoppen

Ein Bericht aus Bagdad über die Ergebnisse der irakischen Nationalkonferenz

Karin Leukefeld, Journalistin und Nahost-Expertin, befindet sich wieder einmal in Bagdad, woraus sie für verschiedene Zeitungen berichtet. Der nachfolgende Artikel erschien am 21. August 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland" unter dem Titel "Nationalrat kann Gewalt nicht stoppen".


Von Karin Leukefeld, Bagdad

Der irakische Nationalrat ist gewählt, doch die Lage im Lande entspannt sich nicht. Nach dem Scheitern der Nadschaf-Vermittlungsmission einer Delegiertengruppe weiteten sich die Kämpfe in der heiligen Stadt sowie in der Schiitenhochburg Sadr City aus.

Nach vielen Turbulenzen segnete die irakische Nationalkonferenz schließlich eine Liste ab, die von einer kleinen Gruppe innerhalb des Vorbereitungskomitees vorgelegt worden war: die Kandidaten der »Regierungsliste« werden bis zur Durchführung allgemeiner Wahlen im Januar 2005 einen Nationalrat bilden, der gleichsam als Übergangsparlament fungieren soll. Die Regierungsliste wurde letztlich per Handzeichen von den Delegierten abgesegnet. Das provisorische Gremium, das von Optimisten als Vorläufer für ein neues irakisches Parlament angesehen wird, sollte 100 Sitze haben. Allerdings wurden auf der Nationalkonferenz nur 81 Personen benannt. Die anderen 19 Plätze gingen automatisch an die verbliebenen Mitglieder des Provisorischen Regierungsrates, die keinen Ministerposten in der Interimsregierung erhalten hatten.

Eine zweite Liste – im Gegensatz zur Regierungsliste als Unabhängige Liste bezeichnet – war von unabhängigen Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, kleineren Parteien und Stammesvertretern aufgestellt worden. Beide Listen schafften es zunächst nicht, die 25-prozentige Quotenregelung für die Beteiligung von Frauen einzuhalten. Die Regierungsliste enthielt anfangs nur die Namen von sechs Frauen, während es die Unabhängige Liste immerhin auf 20 Frauen brachte. Die Unabhängige Liste wurde allerdings zurückgezogen. Ein Sprecher beschuldigte die Urheber der Regierungsliste der »schamlosen Manipulation«. Die großen Parteien hätten dafür gesorgt, dass sich mehrere Personen auch für die Unabhängige Liste bewarben, nur um ihre Namen im letzten Moment zurückzuziehen, lautete der Vorwurf. Daher fehlte letztlich die Zeit, eine wirklich unabhängige Liste aufzustellen.

Vertreter der irakischen Zivilgesellschaft wie Jabbar Mustaf, der in einem irakischen Kinderhilfswerk arbeitet, kritisierten die Listenaufstellung. »Keine der beiden Listen war gut«, sagte er gegenüber dem Nachrichtendienst IRIN. »Keine repräsentiert das irakische Volk.« Viele Delegierten teilten seine Ansicht, es wäre besser gewesen, über die Kandidaten und Kandidatinnen einzeln abzustimmen. Auch der UNO-Berater Jamal Benomar sagte, die Vereinten Nationen hätten davon abgeraten, Kandidatenlisten aufzustellen.

Bei der Auswahl der 100 Kandidaten und Kandidatinnen wurden vor allem die konfessionelle, ethnische und geschlechtliche Zugehörigkeit berücksichtigt. Dabei ging es weniger um die persönliche und politische Qualifikation. Eine wesentliche Rolle spielten Leute, die nach dem Krieg 2003 aus dem Exil zurückgekehrt sind, wo sie sich als Regimegegner und Menschenrechtsaktivisten Namen gemacht hatten. In Irak selber sind sie aber bisher weitgehend unbekannt geblieben. Außer der Dawa-Partei, der IKP und den beiden kurdischen Parteien, die es bereits vor oder zur Zeit Saddam Husseins in Irak gab, sind alle anderen im Nationalrat vertretenen Parteien im Ausland entstanden.

Bleibt abzuwarten, wie sich die ernüchternde Erfahrung dieser »Schulung in Demokratie«, wie UNO-Berater Benomar die Nationalkonferenz nannte, auf die Verlierer auswirken wird. Immerhin haben sie versucht, sich unabhängig vom vorgegebenen politischen Rahmen bei der Nationalversammlung politisch zu behaupten. Entweder die erfahrene Ausgrenzung und der politische Kuhhandel bringt sie dazu, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, oder sie fangen an, ihre Gruppen in einer oppositionellen Strömung besser zu organisieren.

Während von der Regierungsliste wohl kaum Gegenwind für die Interimsregierung von Ijad Allawi zu erwarten sein dürfte, könnte in Zukunft neben den bewaffneten Gruppen auch eine politische Opposition in Irak entstehen.



Die Nationalratsmitglieder
gehören alle einer der Parteien an, die auch die Minister der Interimsregierung stellen. Es handelt sich u.a. um
  • die schiitische Dawa-Partei,
  • den ebenfalls schiitischen Obersten Rat für eine islamische Revolution in Irak (SCIRI),
  • um die Sunnitisch-Islamische Partei,
  • die Patriotische Union Kurdistans (PUK)
  • und die Kurdische Demokratische Partei (KDP),
  • den Irakischen Nationalkongress (INC)
  • und die Partei der Irakischen Nationalen Einheit (INA) von Interimspremier Ijad Allawi)
  • und um die Irakische Kommunistische Partei.



Aus: Neues Deutschland, 21. August 2004


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