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Die Leute von Brouhajara

Wie viele Dörfer im nordirakischen Kurdengebiet wirkt der Ort nach Krieg und Dürre menschenleer: Die Bewohner kommen nur zurück, um ihre Felder zu bestellen

Von Karin Leukefeld *

Brouhajara ist ein entlegenes Dorf in der Region Mangej, nordöstlich der nordirakischen Kurdenmetropole Dohuk, nahe der Grenze zur Türkei. Wie eine Festung liegen die wenigen Häuser auf einem Hügel. Rundum dehnen sich Täler und Hügel, Felder und Plantagen endlos in die vier Himmelsrichtungen. Heftige Windböen zerren an Büschen und Bäumen, rütteln an den Fensterläden und werfen Scharen von Vögeln in die Luft, die laut zwitschernd das Spiel mitmachen, um sich aus schwindelnden Höhen wieder auf die niedrigen Lehmhäuser fallen zu lassen. Nach einer kurzen Pause in den Bäumen flattern sie erneut hervor und fliegen, von einer weiteren Böe getragen, davon.

»Die meisten Häuser des Dorfes sind verlassen«, seufzt Mohammed Amin von der kurdischen Hilfsorganisation Derya. »Was können wir nur tun, damit die Bauern zurückkehren?« Die Stromkabel, die sich längs des Feldweges nach Brouhajara ziehen, führen schon lange keinen Strom mehr, der Fluss im Tal, der die Einwohner früher mit Wasser versorgte, ist nur noch ein Rinnsal. Eine einsame Satellitenschüssel hinter einem Haus lässt ahnen, dass das Dorf vor gar nicht langer Zeit noch bewohnt war, doch politische Unsicherheit, das UN-Embargo ab 1990, der Krieg 2003 mit dem folgenden Verfall der Infrastruktur und schließlich die Trockenheit haben die Leute aus Brouhajara vertrieben.

Hinter dem Dorf steuert Nawza, der Fahrer der Hilfsorganisation, den Geländewagen vorsichtig durch tiefe Schlaglöcher den Hügel hinauf. Auf der weiten Hochebene liegt der braune Ackerboden frisch gepflügt, einige Männer bewegen mit großen Schaufeln die schwere Erde, um Bäume zu pflanzen. Mitten auf dem Feld liegt erhöht ein großes Becken, die Wasseroberfläche kräuselt sich im Wind, ab und zu werden Tropfen in die Luft gepeitscht.

Das Land hier oben gehört der Familie Hadschi Ali Omars, der wie schon sein Vater in Brouhajara geboren wurde und die Felder in der dritten Generation bewirtschaftet. Er pflanzt Weinstöcke, Pfirsich-, Apfel- und Aprikosenbäume. Die Gegend gilt als Obstkorb im kurdischen Nordirak.

Früher war das Leben gut in seinem Dorf, erinnert sich Hadschi Ali Omar. 20 Familien hätten dort gewohnt, und alle konnten sich davon ernähren, was die Ernte erbrachte. Im Winter lag der Schnee so hoch, dass sie kaum das Haus verlassen konnten, die Wasserspeicher waren immer gut gefüllt. Doch vor fünf Jahren begann die Trockenheit, viele Bäume seien verdorrt, berichtet der Bauer und blickt auf Mohammed Amin, der mit Notizbuch und Kugelschreiber in den Händen neben ihm steht. »Dieser Mann hat uns geholfen«, sagt Hadschi Ali Omar und lächelt dankbar. »Ohne ihn und die Hilfe seiner Organisation hätten wir nie dieses Becken hier bekommen.«

Als habe der Bau des Wasserbeckens den Bann gebrochen, brachte auch der vergangene Winter viel, viel Regen, so dass reichlich Wasser zusammenlief. »Noch hat der Fluss Wasser, das wir auf unsere Felder pumpen können, doch im Sommer, wenn alles wieder trocken ist, sind wir auf den Vorrat im Becken angewiesen, um Felder und Plantagen zu bewässern.« Gern würde er das Wasser tröpfchenweise und sparsam verteilen, doch dafür fehlten ihm die technischen Voraussetzungen, seufzt der Bauer: »Das Material ist teuer und wir können es uns nicht leisten.«

Fünf Familien kämen regelmäßig ins Dorf, um ihre Felder zu bestellen. Im Sommer wohnten auch einige in den Häusern. Doch weil es weder Strom noch Wasser, keine Gesundheitsstation und keine Schule gibt, lebten alle Familien aus Brouhajara heute in Dohuk. Im Frühjahr, wenn viel Arbeit auf den Feldern ist, fährt Hadschi Ali Omar morgens von Dohuk nach Brouhajara und kehrt oft erst nach Sonnenuntergang zurück. Er wünscht sich, dass die neue Regierung endlich etwas tut, damit die Lebensbedingungen sich bessern, doch erst einmal müsse es natürlich eine neue Regierung geben.

Die Hilfsorganisation Derya (kurdisch: das Meer) arbeitet seit 2006 nicht nur in der Provinz Dohuk. Der Ingenieur Mohammed Amin leitet ein kleines Team, das aus sechs Personen, drei Männern und drei Frauen, Christen und Muslimen, besteht. Sie unterstützen Bauern und vertriebene Christen, bieten Computerkurse und Fortbildung für Frauen an. Fast ständig klingelt das Telefon des lebhaften, schmalen Mannes, fast immer hat er eine Zigarette im Mund, vor sich im Aschenbecher oder in den Fingern. Nie gibt er sein Notizbuch aus der Hand, in dem er Wünsche und Klagen, Anregungen und Gedanken notiert.

Amin hat ein bewegtes Leben hinter sich. Geboren wurde er 1955 in Scheichan, dem Zentrum der Jesiden in Irak. Als Heranwachsender erlebte er die Auseinandersetzungen zwischen der irakischen Armee und der kurdischen Nationalbewegung hautnah mit, der er sich 1974 anschloss. Nach der Einigung zwischen dem Kurdenführer Barsani und der irakischen Zentralregierung wurde der Vater nach Samawa in den Süden Iraks versetzt, die Familie folgte. An der Universität von Mossul machte Amin 1981 seinen Abschluss als Ingenieur und arbeitete im staatlichen Institut für Straßen- und Brückenbau. 1988 floh er in die Türkei, kehrte 1991 in die von der UNO überwachte Zone, den »Sicheren Hafen«, zurück und arbeitete fortan mit unabhängigen kurdischen Organisationen.

»Viele unserer Dörfer waren zerstört, die Menschen lebten in Sammeldörfern, in die Saddam Hussein sie gezwungen hatte. Ihre Felder und Plantagen hatten sie verlassen und mussten erst einmal wieder mit der Landwirtschaft anfangen«, erläutert Amin die damalige Situation.

Er kennt alle ausländischen Hilfsorganisationen, die Anfang der 90er Jahre das Kurdengebiet überschwemmten. »Sie haben viel Geld in die Region gesteckt, und doch ist kaum etwas entstanden«, meint er, »weil sie sich hier einfach nicht auskennen.« Lokale Organisationen seien aus dem Boden geschossen wie Pilze, nachdem bekannt geworden war, dass es Geld zu verteilen gab. »Viele Organisationen waren nur Ableger kurdischer Parteien oder Familienunternehmen.«

Ohne ausländische Hilfsgelder gehe es allerdings nicht, ist Amin überzeugt, denn weder die staatlichen irakischen noch die regionalen politischen Strukturen kümmerten sich wirklich um das Wohlergehen der Bevölkerung. »Deren Interessen lassen ihnen keine Zeit, an die Menschen zu denken«, sagt Amin und blinzelt durch seine dicken Brillengläser. Die Politiker bräuchten Nichtregierungsorganisationen, die ihnen erklären könnten, was die Menschen wirklich benötigen.

Hadschi Ali Omar verwickelt Amin in ein Gespräch über seine Bienenstöcke. Die 150 Stöcke werde er in wenigen Tagen teilen, dafür brauche er neue Kästen oder zumindest das Material dafür. Zwecks Kostprobe lädt der Bauer das Derya-Team zu einem zweiten Frühstück ein, das von seiner Schwägerin Naima Waysi an einer Scheune oberhalb des Dorfes auf einer Decke ausgebreitet wird: Joghurt, heißes Tomatenpüree und Reis, frisch gebackenes Brot und Honig. Anschließend gibt es frisch gebrühten Tee von der Feuerstelle. Mohammed Amin scherzt mit dem Bauern und dessen Schwägerin, die als eigenständige Bäuerin auch Nutznießerin des Wasserprojekts von Derya ist, wie sie stolz erzählt. 14 Kinder hat sie, ist mehrfache Großmutter und seit einigen Jahren verwitwet. »Gäbe es hier Strom, genug Wasser und vor allem eine Schule, ich würde sofort wieder ins Dorf zurückkehren.«

Alle Iraker müssen die gleichen Rechte haben, steht in den Richtlinien von Derya. Amin und seine Mitarbeiter arbeiten dafür Tag für Tag. »Die Assyrer, die Jesiden, die Sabäer, die Kurden, die Schiiten, die Sunniten, alle müssen gemeinsam einen demokratischen Staat aufbauen«, sagt er, nachdem er sich von Hadschi Ali Omar und Naima Waysi verabschiedet hat. »Wir wollen keine ausländische Einmischung und keine Parolen, sondern wir müssen praktisch arbeiten.«

Das Wichtigste ist für Amin aber die Teilhabe der Frauen am politischen und wirtschaftlichen Leben. »Es gibt keine Entwicklung und keine gute Zukunft für eine Gesellschaft, solange nicht die Frauen daran beteiligt sind.«

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2010


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