Müssen wir uns am Wiederaufbau des Irak beteiligen?
Von Chris Patten, EU-Kommissar für Außenbeziehungen
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel von Chris Patten, EU-Kommissar für Außenbeziehungen, über die europäische Haltung zum Wiederaufbau des Irak. Der Beitrag erschien anlässlich der sog. "Geberkonferenz" am 23. und 24. Oktober 2003 in Madrid.
Sollten wir uns am Wiederaufbau des Irak beteiligen? Durch die Differenzen vor,
während und nach dem Konflikt ist es unausweichlich, dass jeder Schritt der
Völkergemeinschaft wohlüberlegt und jede Entscheidung eingehend geprüft werden
muss. Ich beantworte diese Frage nachdrücklich mit Ja, und zwar aus drei Gründen.
Erstens und hauptsächlich, weil wir eine moralische Verpflichtung gegenüber dem
irakischen Volk haben. Zweitens, weil wir mit unserer Hilfe den schnellen Übergang
zu einer unabhängigen und demokratischen Regierung im Irak fördern können. Und
drittens, weil es in unser aller Interesse liegt, zur Stabilität im Nahen Osten
beizutragen.
Heute werden in Madrid circa 70 Länder erste Zusagen zum Wiederaufbau eines
Landes machen, das durch dreißig Jahre brutaler Diktatur und Konflikte zerrüttet ist.
All jene, die nur allzu gern ein Scheitern heraufbeschwören, werden sich im Vorfeld
der Konferenz und vor allem am Tag selbst auf hastige Berechnungen dessen, was
mit den bereitgestellten Mitteln möglich oder - gemessen an dem immensen Bedarf,
der sich aus den vorsichtigen Schätzungen der Weltbank, der UN und anderer ergibt
- eher unmöglich sein wird, konzentrieren. Mit einem bloßen Aufrechnen der Beträge
wird man der Sache jedoch nicht gerecht. Es geht hier nicht um einen Ausverkauf, in
dem Quantität mehr zählt als Qualität.
Nehmen wir den Beitrag der Europäischen Union als Beispiel. Das Geld stammt aus
dem gemeinsamen Topf für den Bereich Außenbeziehungen, in den die
Mitgliedstaaten einzahlen. Die Kommission hat sich auf einen Beitrag von
200 Mio. EUR bis Ende 2004 geeinigt. Mit den Einzelbeiträgen der EU-Mitgliedstaaten
wird die EU insgesamt einen Beitrag in Höhe von ungefähr
750 Mio. EUR zum Wiederaufbau des Irak im nächsten Jahr leisten, also genau
dann, wenn die Hilfe am dringendsten benötigt wird. Diesen Beitrag leisten wir
zusätzlich zu den 100 Mio. EUR, die wir bereits für humanitäre Hilfe in Irak
bereitgestellt und seit März diesen Jahres ausgegeben haben.
Die aus dem EU-Haushalt finanzierte Hilfe ist mit unserer jährlichen Hilfe für
Afghanistan vergleichbar, wenngleich wir in diesem Fall in der Lage waren, Zusagen
für einen Fünfjahreszeitraum zu machen. Heute unterbreiten wir unseren Vorschlag
für die Hilfe in Irak bis Ende 2004. Vergangene Woche haben wir uns darüber hinaus
verpflichtet, den EU-Außenministern im März nächsten Jahres die mittelfristige
Strategie der Kommission für den Irak darzulegen. Ich hoffe und bin gleichzeitig
zuversichtlich, dass wir diesem Bericht eine Vorausschau für zukünftige
Wiederaufbau-Ausgaben beifügen können. Es wird sicher einfacher sein,
Mehrjahrespläne aufzustellen, wenn sich die politische Situation und die
Sicherheitslage in Irak stabilisiert haben.
Unsere Erfahrungen in Irak, die wir mit anderen Organisationen teilen, haben
gezeigt, dass der Erfolg maßgeblich von den Bedingungen vor Ort abhängen wird,
und dass diese schwierig sind. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere die
Verdienste und die Erfahrung der Vereinten Nationen würdigen, deren tragischer
Verlust Sergio Vieira de Mellos und so vieler anderer engagierter UN-Mitarbeiter im
August uns erneut schlagartig vor Augen geführt hat, wie gefährlich die Lage
weiterhin bleibt. Aus unseren Erfahrungen in schwierigen Ländern in der ganzen
Welt wissen wir, dass es nichts nützt, große Geldbeträge zu spenden, wenn keine
realistische Aussicht besteht, dass sie dort eingesetzt werden, wo sie am
dringendsten benötigt werden.
Aus diesem Grund haben wir einige Bedingungen formuliert, die gegeben sein
müssen, damit das heute zugesagte Geld einer angemessenen Verwendung
zugeführt werden kann. Erstens muss die Sicherheitslage verbessert werden. Dies
erfordert einen wirksameren Einsatz des Militärs und eine Verstärkung und
Verbesserung der Zivilpolizei. Zweitens brauchen wir eine klare Zusage für die
Einrichtung einer unabhängigen irakischen Regierung, und ich freue mich, dass wir
diesem Ziel mit der in der letzten Woche verabschiedeten Resolution des UN-Sicherheitsrates
ein Stück näher gekommen sind. Drittens brauchen wir einen
transparenten und operationellen multilateralen Rahmen für den Wiederaufbau, und
konkret die Einrichtung eines multilateralen Treuhandfonds der UN und der
Weltbank zur Bereitstellung der Mittel für den Wiederaufbau. Und wir sind auf die
Beteiligung der Nachbarländer Iraks angewiesen, damit eine regionale
Zusammenarbeit entstehen kann, ohne die langfristige Stabilität in Irak undenkbar
ist.
Das sind keine unerfüllbaren Forderungen. Sie decken sich mit den Ergebnissen der
unter Führung der UN erstellten Bedarfsanalyse, die ergab, dass das
Sicherheitsumfeld unzureichend sei und dass der in allen Bereichen ermittelte
Bedarf ein derart hohes Niveau an Planung und Durchführungskapazitäten
erfordere, dass selbst die fortschrittlichste Volkswirtschaft mit einer solchen Aufgabe
überfordert sei. Daraus ziehe ich zwei Lehren. Erstens, dass wir uns für die nahe
Zukunft realistische Ziele stecken und uns darauf konzentrieren müssen, den Irak
wieder auf die Beine zu bringen. Zweitens, und darauf hoffe und freue ich mich, dass
der Irak eines Tages wieder über eine fortschrittliche Wirtschaft verfügen und in der
Lage sein wird, sein eigenes Schicksal zu bestimmen und in die Hand zu nehmen.
Denn das ist schließlich das Ziel, auf das wir gemeinsam hinarbeiten. Die
Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Ende der 70er Jahre verfügte Irak über ein
größeres BIP pro Kopf als Portugal. Vor dem mörderischen Regime Saddams blickte
Irak auf eine lange Tradition ausgezeichneter Ausbildung und florierenden Handels
zurück. Und nicht zuletzt verfügt Irak über bedeutende natürliche Ressourcen,
wenngleich es diese zurzeit nicht in vollem Maße nutzen kann.
Die EU verfügt über alle Voraussetzungen, um Hilfe zu leisten. Die Kommission stellt
jährlich über 6,5 Mrd. EUR für Hilfe in allen Ländern der Erde bereit. Wir arbeiten
partnerschaftlich mit den Regierungen in den Empfängerländern zusammen und
stimmen unsere Arbeit vor Ort mit anderen Gebern ab. Im Nahen Osten haben wir
allein im letzten Jahr rund 550 Mio. EUR bereitgestellt.
Die EU wird natürlich nicht allein in Madrid sein. Länder aus der ganzen Welt - und
dazu zählen, wie ich mit Freude feststellen konnte, auch einige Nachbarländer des
Irak - haben gezeigt, dass sie trotz aller Differenzen während des Krieges in Frieden
zusammentreffen können. Sie reagieren damit auf unübersehbare Bedürfnisse: die
Wiederherstellung der zerstörten Infrastruktur und der verfallenden öffentlichen
Einrichtungen, den Bau von Straßen, die Bereitstellung von Strom, Wasser,
Gesundheitsversorgung, einer angemessenen Bildungs- und Sicherheitspolitik und
eine Reihe anderer Bedürfnisse.
In die heutige Konferenz sollten wir mit einem realistischen Bild dessen gehen, was
auf kurze Sicht möglich ist, und uns gleichzeitig einen Funken Optimismus bei dem
Gedanken daran gönnen, was das irakische Volk auf lange Sicht erreichen kann.
Natürlich sollten wir sie nicht im Stich lassen und behaupten, dass mit Geld allein
alles zu regeln ist. Wir sollten sicherstellen, dass wir die Lektion, die wir über den
guten Umgang mit Geld gelernt haben, auch umsetzen und dass wir in unseren
Bemühungen nicht nachlassen, um dem irakischen Volk eine Zukunft in Demokratie
und Wohlstand zu sichern. Denn nach all dem Leid, das sie erfahren haben, sind wir
ihnen zumindest das schuldig.
Quelle:www.europa.eu.int
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