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Interessante Stimmen zum drohenden Irak-Krieg

Die Presse zwischen den Jahren - Und Günter Grass in der WamS

Zwischen Weihnachten und Neujahr ging einerseits der US-amerikanische Truppenaufmarsch rings um den Irak weiter, andererseits diskutierte die Öffentlichkeit darüber, ob der angekündigte Krieg überhaupt noch aufzuhalten sei. Die Kommentare und Leitartikel in der deutschen und internationalen Presse zeichneten sich in diesen Tagen durch eine zumeist kritische bis eindeutig ablehnende Haltung gegenüber der US-Politik aus. Wir dokumentieren im Folgenden auszugsweise eine Reihe von Pressestimmen.


Internationale Pressestimmen nach Deutschlandradio (Weihnachten 2002):

Die norwegische Zeitung AFTENPOSTEN (Oslo) notiert:
"Die wichtigste internationale Neuigkeit zu Heiligabend war, dass die Vereinten Nationen heimlich an Plänen arbeiten, der Zivilbevölkerung während eines eventuellen Irak-Krieges zu helfen. UNO-Generalsekretär Annan hatte die Pläne aus Furcht versteckt halten wollen, man werde sie im Irak so auffassen, als seien die Waffeninspektionen sinnlos und ein amerikanischer Angriff unausweichlich. Gleichzeitig berichten die Agenturen von amerikanischen, britischen und israelischen Kriegsvorbereitungen. Das ist der düstere politische Hintergrund für dieses Weihnachtsfest. Immer weniger Menschen glauben, dass es möglich ist, einen Krieg zu umgehen, selbst wenn noch Hoffnung besteht, dass die USA doch noch der UNO-Linie folgen".

Und das norwegische Konkurrenzblatt AFTENBLADET (Stavanger) bezweifelt die Sinnhaftigkeit eines Krieges gegen den Irak:
"Was ist mit den anderen Staaten in der Region, die vielleicht auch über Massenvernichtungswaffen verfügen? Soll gegen diese auch in den Krieg gezogen werden? Es besteht vielmehr Grund zu befürchten, dass die Antwort noch mehr Extremismus und Terrorismus sein wird. Es kann keinen Alleingang zu einem Krieg geben, der nach strategischen Schätzungen eine halbe Million Menschen im Irak das Leben kosten könnte".

Die italienische Zeitung LA REPUBBLICA (Rom) geht davon aus, dass sich "alle auf den Krieg vorbereiten".
"Einige offen, wie Saddam Hussein, der jetzt wissen ließ, dass derzeit Freiwillige aus dem Ausland, sogar aus den USA, auf dem Wege in den Irak sind, um dort als menschliche Schutzschilde den Irak vor den amerikanischen Bombardierungen zu bewahren. Andere tun es eher heimlich, wie etwa die Vereinten Nationen, die bereits dabei sind, ihre Notpläne beschleunigt umzusetzen, um so das eigene Personal aus dem Irak herauszuholen sowie irakischen Flüchtlingen helfen zu können, von denen man Millionen befürchtet. Aber alle erwarten dennoch, dass es die Vereinten Nationen sind, die das letzte Wort über einen möglichen Waffengang sprechen werden".

In der serbischen Zeitung DANAS (Belgrad) war zu lesen:
"Ein neuer Golfkrieg würde nach Einschätzung der UNO-Experten relativ schnell etwa 900.000 Menschen zu Flüchtlingen machen. Das allein ist ausreichend für die UNO, sich auf die Suche nach Geldgebern zu machen. Auch die Erdölkompanien haben mit fieberhaften Vorbereitungen begonnen. Sie wollen möglichst schnell alternative Erdölquellen finden, um mögliche Engpässe besser meistern zu können. Die französischen Firmen wollen Kontakte zur irakischen Opposition knüpfen, um sich die Förderrechte nach einem möglichen Sturz von Saddam Hussein zu sichern. Die Russen dagegen haben völlig andere Sorgen: Sie befürchten, dass sie nach einem neuen Golfkrieg aus dem Irak vertrieben werden könnten. Deswegen haben sie - dem Vernehmen nach - ihre diplomatischen Kontakte zu Washington verstärkt, um ihre Irak-Option auch im Falle eines Regimewechsels zu sichern".

Die deutschsprachige belgische Zeitung GRENZ-ECHO (Eupen) schreibt:
"Dass Bush zum Angriffskrieg entschlossen ist und sich wohl nicht mehr von den Vereinten Nationen oder von gleich welchen Ergebnissen der Waffenuntersuchungen im Irak davon abbringen lässt, daran sollte nicht mehr gezweifelt werden. Die Vorbereitungen für den Angriff sind vor langer Zeit schon gestartet worden, nichts deutet darauf hin, dass Präsident Bush noch bereit ist, zur Umkehr zu blasen. Irak und Nahost sind an diesen Festtagen, wenn von Frieden die Rede ist, Beispiele dafür, dass viele, die Verantwortung zu tragen haben, zu wenig tun, um Frieden herbeizuführen oder ihn zu sichern".

Die österreichische Zeitung KURIER beklagt gar das Fehlen einflussreicher Gegenstimmen zur Irak-Politik der USA:
"Tagtäglich mit martialischen Bildern gefüttert hat man den Eindruck, als ob der Waffengang gegen Iraks Diktator Saddam Hussein schon begonnen habe. Selbst die UNO fügt sich in das scheinbar Unvermeidliche und bereitet sich auf den Krieg vor. Alles folgt offenbar einem exakten amerikanischen Drehbuch, das einen Showdown zum Finale vorsieht. Gegenstimmen im Westen dazu: Einzig der Vatikan, sonst Schweigen. Selbst Deutschlands Kanzler Schröder, der überhaupt erst mit seinem Anti-Kriegs-Kurs wieder im Kanzleramt landete, ist verstummt. Und die Friedensbewegung? - kein Phänomen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Man muss wirklich kein Freund Saddams sein, um diese Entwicklung zu kritisieren".

Ganz anders die rechtskonservative türkische Zeitung HÜRRIYET, die es am liebsten sähe, wenn Ankara sich am Krieg beteiligte:
"Bushs Politik abzulehnen, wird daran nichts ändern. Deshalb darf keine Zeit mit pazifistischen Schwätzereien verschwendet werden. Die Türkei muss die Realpolitik akzeptieren, um sich der Entwicklung anzupassen. Die Regierung in Ankara hat auch keine andere Wahl, als sich an dem Feldzug zu beteiligen. Doch ist es noch zu früh zu sagen, in welcher Art und Weise dies aussehen soll. Die Türkei wird wahrscheinlich Einheiten in den Nord-Irak verlegen und sich an der Operation beteiligen. Aber auf jeden Fall werden die Flughäfen den US-Kampfjets zur Verfügung gestellt und den Bodentruppen eine Genehmigung erteilt, über die Türkei in den Irak einzumarschieren. Dazu gibt es keine Alternative, da sollte sich niemand etwas vormachen. Das hat nicht nur mit der engen Zusammenarbeit mit Amerika zu tun, die Türkei ist auch verpflichtet, einer von der UNO beschlossenen Operation behilflich zu sein".

***

Heribert Prantl schreibt im Leitartikel der Süddeutschen Zeitung am 24. Dezember zum Thema "Kein Friede auf Erden" u.a.:

(...) Der US-Präsident geriert sich, als sei der Krieg gegen den Staatsverbrecher Saddam Hussein der Einstieg in die Erlösung der Welt. Der Einrichtung des Weltstrafgerichtshofs wird von den USA deshalb so heftig widersprochen, weil sie sich selber für das Vollzugsorgan des Jüngsten Gerichts halten. Und so klingt die Regierungspolitik der USA gegenüber den europäischen Verbündeten und den Vereinten Nationen wie eine ultimative Aufforderung zum Mitsingen eines auf die USA umgewandelten Kirchenliedes: "Was Bush tut, das ist wohlgetan."
An Weihnachten 2002 steht die Welt am Rand eines angekündigten Krieges, betrieben von US-Politikern, die ihr Gewissen durch Selbstgerechtigkeit ersetzt zu haben scheinen und die aus der militärischen Überlegenheit der USA eine moralische Überlegenheit ableiten. Man kann sich nur darüber wundern, wer da in Gottes Namen die Welt in Gut und Böse einteilt. Die Manichäer von Washington wollen den Fundamentalismus bekämpfen und es scheint so, als praktizierten sie ihn selbst. Oder ist auch die Kriegsankündigung nur ein Popanz?
Fürchtet euch nicht! Die Weihnachtsbotschaft klingt in diesem Jahr wie ein Einstieg in eine schicksalhafte Entwicklung, von der keiner weiß, wie man ihr entkommt. Gefühle der Unausweichlichkeit haben sich eingestellt - und werden verstärkt von jeder Nachrichtensendung, weil man den Eindruck gewinnt, die USA betrachten die Waffeninspekteure im Irak nur als die Akteure eines lästigen und überflüssigen Vorspiels. "Das Fehlen eines Beweises bedeutet nicht den Beweis dessen Fehlens", sagt der US-Verteidigungsminister Rumsfeld, um darzulegen, dass auch ohne konkreten Hinweis der Verdacht der USA gegen den Irak begründet sei.
Fürchtet euch nicht? Der Krieg gegen den Terrorismus, so heißt es, sei in allem neu und in allem anders als bisherige Kriege. Aber dieser angeblich neue Krieg trägt die Atavismen früherer Kriege in sich. Er erprobt die modernste Technologie - und endet, wie zuletzt, im Höhlenkampf in Afghanistan oder, wie vielleicht demnächst, mit toten Kindern in den zerstörten Krankenhäusern von Bagdad oder Sulaimaniya. Nicht der Krieg ist neu, sondern die Ungeniertheit, mit der er gerechtfertigt wird. Die USA benutzen den 11. September, um die Welt neu einzurichten. Trauer über das Verbrechen verwandelt sich in Angriff.
Nun ist es gewiss nicht so, dass man sich einfach nur Bush & Co. hinwegdenken muss, um die Weltlage zu verbessern. Aber die von Saddam Hussein ausgehende Gefahr ist womöglich erheblich kleiner als das mit seiner Beseitigung verbundene Risiko. Das heißt: Die Bedrohung durch den Irak ist weniger bedrohlich als die angeblich deswegen geplante amerikanische Reaktion. Es besteht unter anderem die akute Gefahr, dass die amerikanische Politik denjenigen radikal- islamistischen Kräften in die Hände arbeitet, die den "Kampf der Kulturen" als neue weltpolitische Konfliktformation inszenieren wollen. Die europäischen Staaten ebenso wie die Vereinten Nationen haben wenig Einfluss auf den Gang der Dinge. Die Amerikaner erklären denn auch ohne Umschweife, dass diese die Wahl hätten, den US-Krieg zu mandatieren und ihn mitzumachen - widrigenfalls er halt ohne UN-Mandat und ohne Mitmacher stattfinde. Es gibt also sehr konkreten Anlass, sich zu fürchten.
(...)

"Friedenspflichten" hieß der Kommentar in der Frankfurter Rundschau zu Weihnachten. Der Autor Stephan Hebel geht mit der US-Politik gründlich ins Gericht. Auszüge:

(...) Naiv, wer hoffen wollte, dass die Protagonisten des Irak-Konflikts die Feiertage nutzen könnten, um sich des rationalen Kerns ihrer Auseinandersetzungen zu vergewissern. Dass das von Saddam Hussein nicht zu erwarten ist, liegt auf der Hand. Er hat, da bedienen sich die Bush-Leute ja eines richtigen Arguments, nicht viel mehr zu bieten als dutzendweise Anlässe, die Befreiung Iraks von diesem Regime zu wünschen und zu betreiben.
Von der Regierung einer demokratischen Weltmacht aber wäre eigentlich anderes zu erwarten, als sich Schritt für Schritt in ein lebensgefährliches Spiel mit dem Feuer zu steigern. Genau das tut die Administration in Washington. Was immer ihre Motive sein mögen - im Ergebnis missbraucht sie die berechtigte Abscheu vor Saddam Hussein und die Angst vor dem Terror zu einer irrationalen Machtprobe. Das begann schon mit der Wahl des Gegners. Dafür, dass der Terrorismus, der islamisch-fundamentalistisch verbrämte zumal, seinen Ursprung oder seine Förderer ausgerechnet in Bagdad hätte, gibt es keinen nachvollziehbaren Beleg. Dass Saddam, dem Washington einst übelste Gräuel großzügig nachsah, nun zum Symbol alles weltweit Bösen stilisiert wird, hat mit US-amerikanischer Interessenpolitik zu tun, mit Öl und strategischem Kalkül und mit der Person des Präsidenten Bush - aber so gut wie nichts mit einer nachvollziehbaren Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus.
Krieg ist kein Mittel, den bin Ladens dieser Welt die Waffen aus der Hand zu schlagen. Der real existierende Terrorismus, mit dem sich die Welt seit dem 11. September herumschlägt, speist sich aus Quellen, die ein Krieg gegen Irak nicht austrocknen wird. Im Gegenteil. Das gilt auch für andere Fixpunkte auf Bushs Achse des Bösen. Etwa das Regime in Nordkorea. US-Bomben auf Nordkorea, weil es sein Volk aushungert und ein gefährliches Atomprogramm zum Faustpfand im Poker um internationale Unterstützung macht? Die USA wollen Krieg gegen so genannte "Schurkenstaaten" zu einer "ganz normalen" Präventiv- oder Notwehr-Strategie erheben. Die Liste der Regime allerdings, die dann zum Kriegsziel werden müssten, wäre lang, und sie würde so viele Freunde Washingtons enthalten, dass ernsthaft niemand eine solche "Strategie" in die Realität umsetzen wollte und könnte. Es gibt zu viele gute Gründe, auf Bomben zu verzichten und politischer Prävention den Vorzug zu geben: konfrontative Politik erzeugt Eskalation, die Gegner werden Faktoren geostrategischer Instabilität, der Schaden für die Zivilbevölkerung wiegt viel schwerer als der unsichere politische Gewinn.
(...)
Krieg gegen Irak ist nicht zu rechtfertigen, wenn Öl eine zentrale Rolle spielt. Und auch nicht, wenn innenpolitische Gründe Bush dazu treiben sollten, dem Bösen, jenseits seiner realen Gestalt, einen Namen zu geben. Am liebsten den jenes Mannes, der "meinen Dad umbringen wollte". Das hat seine innere Logik, aber es ist keine, die die Weltgemeinschaft in Washingtons Gefolgschaft treiben sollte.
Gerhard Schröders Nein, so wahlkampfbedingt es auch war, hatte deshalb gute Gründe. Wenig gute Gründe dagegen gibt es dafür, im Dienste einer abstrakt und schematisch verstandenen Bündnistreue jetzt in die Kriegsbeteiligung zu marschieren. Sollte es unrealistisch sein, der Weltmacht Nein zu sagen, dann stimmt etwas nicht an den Machtverhältnissen unter "Verbündeten" - und ein Irak-Krieg wäre dafür ein hoher, zu hoher Preis.
(...)

Hans-Christian Rößler macht sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 24. Dezember Gedanken über den Krieg hinaus. Selbst für Kriegsbefürworter sind die Aussichten nach einem gewonnenen Krieg nicht gerade gut, stellt er betrübt fest ("Regimewechsel ohne neues Regime. Erwägungen für den 'Tag danach'").

Mit der irakischen Opposition ist noch kein Staat zu machen. Das zeigte die Konferenz der Gegner Saddam Husseins vor einer Woche in London. Obwohl sie um zwei Tage verlängert wurde, kam wenig Konkretes dabei heraus: Uneinigkeit kennzeichnete das Treffen, das ohne amerikanische Organisationshilfe nicht zustande gekommen wäre. Statt einer Exilregierung setzten die Teilnehmer einen Ausschuß ein, sie stellten klar, daß es Sache der Iraker sei, einen Regimewechsel herbeizuführen.
(...) Für den "Tag danach" gibt es zwar hochgesteckte demokratische Ziele. Aber es fehlt die politische und institutionelle Kraft, die sie verwirklichen soll.
Der "neue Irak" könnte deshalb wieder stark dem alten unter Saddam Hussein gleichen: Armee und Sicherheitskräfte werden weiter eine wichtige Rolle spielen - unklar sei nur, ob es irakische oder ausländische Einheiten sein würden. Diese Einschätzung äußerten Irak-Kenner bei mehreren Anhörungen in Washington. Sie beunruhigt eine dann drohende politische Instabilität, weniger die Gefahr, daß Kurden, Sunniten und Schiiten politisch getrennte Wege gehen könnten. Die Oppositionskonferenz in London hat nach Ansicht von Teilnehmern deutlich gemacht, daß über die staatliche Einheit längst Einigkeit herrsche. Dazu werde auch der Ölreichtum des Landes beitragen, an dem alle Bevölkerungsgruppen teilhaben wollten, hieß es.
(...) Im Irak gibt es nicht einmal eine Nordallianz wie in Afghanistan, die den Vormarsch auf Bagdad anführen könnte. Nach Einschätzung von Militärstrategen wäre eine "Befreiung" des Iraks die kostengünstigere Option, mit weniger Verlusten als bei einer längeren Besatzung. Einige sind allerdings im Zweifel darüber, ob diese Art von Regimewechsel den Irak auch auf Dauer zu einem demokratischen Staat ohne Massenvernichtungswaffen machen könne. Die Zweifel daran sind offenbar so groß, daß die Möglichkeit einer längeren Besetzung des Iraks mit einer Militärregierung ernsthaft erwogen wird. Auch wenn praktisch die gesamte Exilopposition das ablehnt, taucht ein solches Szenario, das an die Erfahrungen Deutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, immer wieder in amerikanischen Berichten auf. Sogar genauere Kalkulationen gibt es dafür. Bei Anhörungen vor dem amerikanischen Senat sagten Fachleute, daß dafür mindestens 75.000 Soldaten für längere Zeit nötig wären - etwa 118.000 amerikanische Soldaten waren bisher in Europa stationiert. Auch für die Besatzungskosten liegen Schätzungen von bis zu vier Milliarden Dollar im Monat vor. (...)
(...) Glaubt man amerikanischen Medienberichten, dann dürfte eher ein amerikanischer General der nächste "Herrscher" in Bagdad sein als ein neuer Mann "mit schwarzem Schnauzbart". Aber schon bevor eine neue Führung die irakische Hauptstadt erreicht, könnten die Schwierigkeiten beginnen, über die auch in Washington diskutiert wird: Saddam Hussein könnte wie Usama Bin Ladin verschwinden, aber aus dem Verborgenen heraus weiter versuchen, Einfluß zu nehmen. (...)

Nach Weihnachten war die Süddeutsche Zeitung voll des Lobs über den Papst. Hier habe eine mächtige moralische Stimme das Wort ergriffen. Im Kommentar ("Vatikan contra Weißes Haus") vom 27. Dezember 2002 hieß es u.a.:

(...) Johannes Paul II. mahnt eindringlich zum Frieden, er warnt vor dem Irak-Krieg. Während die Welt vor dem Hegemon in Washington kuscht und dessen Kriegsankündigungen als Fortentwicklung des Völkerrechts akzeptiert, bleibt der Vatikan ungebeugt: Vorbeugung, so haben es die Kirchenführer in den vergangenen Tagen immer wieder gesagt, sei kein Kriegsgrund. Keine andere Autorität widerspricht Bush so klar wie der Vatikan.
Nun kann Bush wie einst Stalin die Frage stellen: "Wie viele Divisionen hat der Papst?" Aber damit unterschätzt er dessen moralische Macht. Und Bush unterschätzt auch, worauf sich der überragende internationale Einfluss der Vereinigten Staaten stützt: nicht nur auf ihre unerreichte Fähigkeit, Kriege zu führen, sondern auf die Tatsache, dass die Mehrheit der Staaten und die Weltgemeinschaft an die guten Absichten der USA glaubt. Dieser Glaube gerät ins Wanken. In Deutschland und anderen europäischen Staaten waren die Predigten der Bischöfe unmissverständlich. Es klang bisweilen, als sei der Humanist Erasmus von Rotterdam wieder auferstanden, um den Bellizisten sein "dulce bellum inexpertis" entgegenzuschleudern: Süß ist der Krieg nur den Unerfahrenen.
Dass die Kirche von dieser Materie nichts verstünde, kann man nicht behaupten. Die katholische Kirche zumal hat in ihrer Geschichte fast alle Fehler gemacht, die Machtpolitik nur machen kann. Sie redet also mit der Weisheit einer Institution, die weiß, worauf kein Segen ruht.

***

Zuguterletzt noch die Stimme des deutschen Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Er wurde von der Welt am Sonnstag interviewt (29. Dezember 2002) und parierte die Fragen gekonnt. Auszüge:

Günter Grass über George W. Bush:
Ich betrachte diesen Mann als eine Gefahr, eine Bedrohung des Weltfriedens. Er erinnert mich an eine jener Gestalten in Shakespeares Historiendramen, deren einziger Ehrgeiz es ist, vor den Vater, den alten, sterbenden König, zu treten und zu sagen: "Siehe, ich habe deine Aufgabe vollbracht." Er ist dazu bestimmt, den ersten Golfkrieg einem neuen Höhepunkt zuzuführen, indem er einen zweiten anzettelt. Bush jr. wird dabei von privaten, familiären Motiven geleitet; ihn treibt das Erbe seines Vaters. Auch die wirtschaftlichen Interessen der Bushs spielen eine Rolle. Die Familie steckt tief im Ölgeschäft drin. Hinter der Forderung nach einem Irakkrieg stecken vor allem politische und ökonomische Interessen.
Der dritte Grund ist natürlich der Status der USA als einzige allmächtige Supermacht der Welt. Sie will den Rest der Welt kontrollieren und dirigieren, aber sie weiß viel zu wenig vom Rest der Welt. Sie weiß fast nichts.

Günter Grass zum Zusammenhang von Neoliberalismus und Terrorismus:
Unmittelbar nach dem schrecklichen Anschlag vom 11. September habe ich darauf hingewiesen, dass die Gründe dieses Angriffs im Zorn und Hass der so genannten Dritten Welt auf den Überfluss der Ersten Welt liegen. Solange wir nicht die Ursachen dieses tief verwurzelten, gerechten Zorns ausrotten, wird der Terror weitergehen. In den siebziger Jahren lenkte Willy Brandt unsere Aufmerksamkeit auf die schreckliche Ungleichheit, die die Welt plagt, diese tiefe Trennungslinie zwischen den Reichen und den Armen. Er prophezeite, wenn es uns nicht gelänge, eine gerechte, neue Weltordnung zu errichten, werde es zu Gewaltausbrüchen kommen. Diese Gewalt trifft uns nun in der Form des Terrorismus. Es gibt darüber hinaus natürlich kulturelle, regionale, historische Gründe, aber die Hauptursache, die schockierende Ungleichheit, sollte nicht unterschätzt werden.

Günter Grass über die Verantwortung der reichen Länder des Nordens und des Westens:
Wir in der Welt des Überflusses haben versagt, weil wir unsere eigenen Interessen auf Kosten anderer geschützt haben. Diese egoistische Haltung, dieses Geschäft der eigenen Bereicherung, ist natürlich ein Ergebnis der neoliberalen Theorie und Praxis, die sich weigert, über den Tellerrand hinauszuschauen. Daraus folgt: Wenn Bush sein afghanisches Experiment in einem anderen Teil der Welt wiederholt, fördert er damit eine neue Welle des Terrorismus.

Günter Grass über den Kapitalismus:
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus blieb der Kapitalismus ohne Rivalen übrig. In dieser außergewöhnlichen Situation hat er sich als eine habgierige und vor allem selbstmörderische Kraft erwiesen. Er glaubt, dass er sich alles und jedes erlauben kann. Was an der Börse jetzt geschieht, ist nicht mehr und nicht weniger als die Zerstörung von Kapital - und damit einhergehend die Zerstörung von Beschäftigung, von Arbeitsplätzen und von menschlichen Ressourcen. Wenn eine Firma ankündigt, sie werde 200 Jobs streichen, steigt ihr Aktienkurs. Das ist Wahnsinn. Die gegenwärtige Form des marktblinden Kapitalismus hat ihren eigenen Feind, ihren eigenen Frankenstein hervorgebracht. Dieses System könnte eines Tages kollabieren.

Auszüge des Grass-Interviews aus Welt am Sonntag, 29. Dezember 2002


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