Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gott oder Staat?

Irak: Die Angst vor den Schiiten

Am 13. Juli 2003 setzte der US-Gouverneur im Irak, Bremer, einen "Regierungsrat" ein, der aus 25 Irakern besteht. Darunter bilden die Schiiten erstmals in der Geschichte des Landes eine Mehrheit. Der folgende Beitrag, den wir der Schweizer Wochenzeitung WoZ entnommen haben, thematisiert die Rolle der Schiiten im Land.


Von Inga Rogg, Nadschaf

Die Macht ist unter den schiitischen Geistlichen noch längst nicht aufgeteilt. Ihre politische Zurückhaltung entspricht der Stimmung im südlichen Irak.

Freitagmittag in Nadschaf. Immer dichter wird das Gedränge vor der Moschee Imam Ali. Auf kleinen Karren bieten Verkäufer Obst, Erfrischungsgetränke und kleine Imbisse feil, fliegende Händler versuchen mit Devotionalien aller Art ihr Glück. Im Schatten der Moscheemauer haben sich pilgernde Familien niedergelassen. Dazwischen bahnen sich Gruppen von Männern mit Särgen den Weg, die gekommen sind, um mit ihren Verstorbenen die Wallfahrt zum Grabmal des Vetters und Schwiegersohns des Propheten Mohammeds und des ersten schiitischen Imams Ali zu machen, der 661 christlicher Zeitrechnung im benachbarten Kufa ermordet wurde. Neben Kerbela, wo sich das Grab von Imam Hussein findet, ist Nadschaf die bedeutendste Pilgerstätte für die SchiitInnen.

Seit dem Ende der Diktatur Saddam Husseins können die SchiitInnen des Irak, die mit etwa sechzig Prozent die Mehrheit der Bevölkerung bilden, erstmals frei ihre religiösen Feste und Riten zelebrieren. Sie tun dies mit einer Leidenschaft, die bei manchem den Verdacht nährt, daraus könnte eine politische Bewegung für die Errichtung einer Theokratie nach iranischem Vorbild entstehen. Unter den Gläubigen vor der Moschee findet man dafür allerdings wenig Anzeichen.

Er wolle, dass die Amerikaner so schnell wie möglich abziehen, sagt ein alter Mann. Aber einen Gottesstaat? «Nein, wir wollen eine frei gewählte, demokratische Regierung.» Viel mehr als die Frage nach der Regierungsform plagen ihn die Alltagssorgen fast aller IrakerInnen. «Es gibt nicht genügend Wasser und Strom, sagen Sie das den Amerikanern», fordert er die Journalistin auf. Von denen ist an diesem Freitag in Nadschaf freilich weit und breit nichts zu sehen. Sie haben ihr Quartier am Stadtrand aufgeschlagen, und auch an Wochentagen taucht nur hin und wieder eine Patrouille auf. Die auf gepanzerten Fahrzeugen montierten Maschinengewehre und die Panzer vor den öffentlichen Einrichtungen, die in Bagdad das Bild bestimmen – in Nadschaf fehlen sie fast gänzlich.

Von einem Abzug der US-Truppen hält Kasim Dschebar, der dem Alten aufmerksam zugehört hat, gar nichts. «Sie haben uns von Saddam befreit», sagt der Kellner. «Wir möchten, dass sie bleiben und uns die Freiheit bringen, damit jeder tun und lassen kann, was er will.» Seinetwegen könne auch George Bush das Land regieren, wenn die Rechte des Einzelnen gewahrt würden. In der Runde macht sich Heiterkeit breit. Er wolle endlich reisen können, etwas von der Welt sehen, sagt ein Junger mit einem Stapel Plakaten des Imams Ali auf dem Arm. Zu lange habe er in diesem Gefängnis gelebt. Hinaus in die Welt, das ist auch das Anliegen von Abbas Rasak. Dabei hat der 27-jährige Coiffeur schon einiges gesehen. In Libyen, Ägypten, Syrien, Katar und Jordanien war er schon, aber jetzt möchte er auch mal nach Europa. Vor allem zu seiner bulgarischen Freundin, die er in Katar kennen gelernt hat, und zu seinem deutschen Freund in Berlin.

Die Rolle al-Hakims

Es ist Zeit für die Freitagspredigt. Halten wird sie Ajatollah Mohammed Baker al-Hakim, das Oberhaupt des «Hohen Rats für die islamische Revolution im Irak» (Sciri). Nach 23 Jahren Exil im Iran war der Geistliche im Mai mit dem Segen der US-Regierung in seine Geburtsstadt Nadschaf zurückgekehrt, aus der seine Familie im Zuge der Säuberungen nach der iranischen Revolution vertrieben worden war. Seitdem versucht er, wieder einen Platz in der religiösen und politischen Ordnung des Irak zu finden.

Zwar wolle er einen möglichst baldigen Abzug der Koalitionstruppen, sagt der Geistliche im Gespräch. Doch sei er der Koalition für die Befreiung vom Saddam-Regime dankbar. In seiner Predigt vor einer Woche hat sich Ajatollah al-Hakim ausdrücklich gegen einen bewaffneten Kampf ausgesprochen. Von seinen AnhängerInnen wird das Wort so interpretiert, dass der baldige Abzug der Besatzungstruppen nur erreicht werden kann, wenn sich die Lage schnell stabilisiert. Gleichzeitig wirft al-Hakim den BesetzerInnen massives Versagen bei der Herstellung der Sicherheit im Zentralirak vor. Aus diesem Grund hat sich der Sciri dagegengestemmt, seine im Iran ausgebildeten Badr-Truppen zu entwaffnen. Derzeit gehe es vor allem um die Bildung einer Übergangsregierung, die alle Fraktionen und Schichten der Gesellschaft repräsentiere, sagt der Geistliche. Diese dürfe keinesfalls radikal oder gar fanatisch sein und dürfe die religiösen Minderheiten nicht diskriminieren. Zudem müsse den Frauen und der Jugend ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Landes eingeräumt werden. Auch der von Kurden und Turkmenen gewünschte Föderalismus sei für den Sciri annehmbar. Was geschehe, wenn die fremden Truppen über längere Zeit im Land bleiben, will er indes nicht sagen. «Das wird sich dann zeigen. Wir reden nicht über die Zukunft.» Ähnlich kryptisch äussert sich der 66-Jährige auch zur Frage, welche Rolle der Klerus im künftigen Irak spielen soll. «Wir wollen eine irakische Regierung und eine Verfassung nach irakischem Stil.»

In einer Fatwa, einem religiösen Erlass, hat sich der Führende unter den Gelehrten von Nadschaf, Ajatollah Ali as-Sistani, Ende Juni gegen die Ernennung eines Verfassungsrats ausgesprochen, wie er von den USA vorgesehen ist. «Dieser Rat muss von den Irakern gewählt werden», fordert Ajatollah as-Sistani. Eine solche Fatwa ist im Irak allerdings nicht bindend, da hier – mit Abstrichen – weiterhin irakisches und nicht religiöses Recht gilt.

Der Makel des Exils

Ob die Mischung aus Kooperation mit und Opposition gegenüber den BesetzerInnen den politischen Ambitionen des Sciri zum Durchbruch verhelfen wird, ist fraglich. Die anfängliche Begeisterung, die Ajatollah al-Hakim bei seiner Ankunft entgegenschlug, scheint verflogen. «Sie waren im Iran, während wir das Joch Saddams ertragen mussten», schimpft einer der Gläubigen vor der Moschee. Mit dem Makel, sich ins Exil zurückgezogen zu haben, während die Schergen Saddam Husseins den schiitischen Widerstand erbarmungslos niederschlugen, haben derzeit fast alle politischen Parteien zu kämpfen. Zehntausende SchiitInnen wurden in den achtziger Jahren und nach den Aufständen 1991 ermordet. Über achtzig Massengräber wurden bislang im Irak entdeckt, die meisten davon in den schiitischen Gebieten. 1991 verübten die Republikanischen Garden von Saddam Hussein in Nadschaf ein Massaker und beschossen die Grabmoschee. Dass Saddam Hussein die goldene Kuppel des Heiligtums aufwendig sanieren liess, konnte dies nicht wieder gutmachen. Die Gläubigen scharten sich nur noch enger um den Klerus. Der war es auch, der nach dem Sturz des Regimes erst einmal die Rolle der Ordnungshüter übernahm. Seine Leute sorgten für die Versorgung mit Trinkwasser und die Rückgabe von Diebesgut, aber auch für die Sicherheit der Spitäler.

Kerbela ist das «Lourdes» der SchiitInnen. Hier wird mit aller Leidenschaft dem Martyrium des Imam Hussein gedacht. Aber Nadschaf war bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts ihr «Rom», das Zentrum der religiösen Gelehrsamkeit. Obwohl diesen Platz mittlerweile das iranische Kom eingenommen hat, lehren in der Stadt auch heute noch viele angesehene Theologen. Mit ihren Moscheen und Seminaren bilden sie die Hausa, einen Rat, der sich nicht nur um religiöse Fragen, sondern auch um die sozialen Belange der Gläubigen kümmert. Ihre Stellung im Rat erlangen die Geistlichen durch eine Art Abstimmung mit den Füssen: Wer die meisten Schüler und Anhänger um sich scharen kann, dem gebührt das höchste Ansehen. Jene mit der profundesten Ausbildung und Erfahrung gelten als Mardscha at-Taklid, «Vorbilder der Nachahmung», von denen es in Nadschaf ein gutes Dutzend gibt.

In einer Seitengasse unweit der Moschee drängen sich Gläubige vor dem Haus von Said Ali as-Sistani. Frauen in schwarzen Tschadors küssen die schmale Eingangstür, auf kleinen Zetteln bitten sie um eine Spende oder Hilfe bei der Aufklärung über das Schicksal ihrer seit Jahren verschwundenen Männer. Wächter sichern den Eingang und schauen darauf, dass die Verhüllung der Frauen ordentlich sitzt. Noch ist as-Sistani das unumstrittene Oberhaupt der Hausa. Doch er ist alt und gebrechlich und verlässt sein Haus nur noch selten. Längst drängen Jüngere in seine Fussstapfen.

Vielstimmige Geistlichkeit

Einer von ihnen ist Moktada as-Sadr, ein Spross der einflussreichen Sadr-Familie. Sein Onkel Mohammed Baker as-Sadr, der 1980 zusammen mit seiner Schwester Bint Huda hingerichtet wurde, hat in zahlreichen Schriften die Grundzüge für eine islamische Staats- und Wirtschaftsordnung entworfen. Zusammen mit dem 1999 bei einem inszenierten Unfall ermordeten Mohammed Sadek as-Sadr wird er bis heute im ganzen Land verehrt. Von Bagdad bis Basra kann man ihre Bildnisse dort finden, wo früher Saddam-Porträts prangten. Aber auch jede gewichtige schiitisch-religiöse Partei beruft sich auf das Erbe der Familie Sadr, zumal diese – anders als viele andere Familien – ihre Wurzeln im Irak hat. Allen voran steht dabei die von as-Sadr gegründete Daua-Partei. Ob sie sich aber von der Vernichtungskampagne, die das frühere Regime gegen sie führte, und den innerparteilichen Zerwürfnissen jemals erholen wird, ist ungewiss.

Der erst 31-jährige Moktada as-Sadr gilt als Heisssporn. In der Gasse, die zu seinem Haus führt, wurde im April der Vertraute von as-Sistani, Abdul Madschid al-Choi, ermordet. Der Geistliche war erst wenige Tage zuvor unter dem Schutz der US-Truppen aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt. Augenzeugen berichten, dass al-Choi auf dem Weg zu einer Unterredung mit as-Sadr war, als er von Kugeln eines Unbekannten getroffen wurde. Der genaue Tathergang ist aber unbekannt. Vorwürfe, as-Sadr sei in den Mord verwickelt, weist sein Sprecher zurück. Al-Choi sei zum Verhängnis geworden, dass er sich mit dem vom ehemaligen Regime eingesetzten Schlüsselverwahrer für die Grabmoschee eingelassen habe, sagt er.

Im Gespräch zeigt sich as-Sadrs Repräsentant Mustafa Dschafar al-Jakubi als Fürsprecher eines demokratischen Staats, der dem islamischen Erbe des Irak ebenso Rechnung trägt wie den Rechten der religiösen und ethnischen Minderheiten. «Wir wollen weder das iranische System noch ein Regime wie das der Taliban», sagt er zwischen zwei Zigaretten. Wie schon heute werde auch in der künftigen Rechtsordnung das islamische Recht, die Scharia, eine der Quellen sein. Nur in einem Punkt will die Hausa keine Kompromisse eingehen. «Die politischen Vertreter müssen gewählt werden, von der Koalition ernannte werden wir nicht anerkennen», sagt der 31-jährige al-Jakubi.

Dass die Hausa ihre Forderungen auch durchsetzen kann, haben die Demonstrationen gegen den von den USA eingesetzten Gouverneur gezeigt. Unter dem Verdacht der Korruption und des Amtsmissbrauchs wurde er vor einer Woche festgenommen. Sein Nachfolger soll vom neu gebildeten Stadtrat gewählt werden. Doch im Namen der Hausa sprechen viele Geistliche. Dabei geht es auch um Spendengelder von Millionen von Franken, die für fromme Stiftungen ausgegeben werden können. Dieses Geld verschafft Prestige und Macht. Die BesatzerInnen tun sich schwer mit dieser Macht der Gottesmänner.

Wie viele Junge will auch Abbas Rasak raus aus dem Irak, nach einem autoritären religiösen Regime steht ihm nicht der Sinn. Das wissen auch die Hausa-Gelehrten. Angesichts der anhaltenden Attacken auf die US-Truppen im sunnitischen Zentralirak haben sie sich zu einem stillschweigenden Pakt mit der Besatzungsmacht durchgerungen. Das könnte sich freilich ändern, wenn es dieser nicht gelingt, ein sichtbares Zeichen für die Einbindung der Iraker in die politische Neugestaltung des Zweistromlandes zu setzen.

Aus: WoZ, 10. Juli 2003


Zurück zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage