Tschetschenien-Streit auf der Bühne Irak
Von Vougar Aslanov*
Entführer richten russische Diplomaten hin, im Nordkaukasus dauern Kämpfe an
Am Montagabend musste das Moskauer Außenministerium die Meldungen über die Ermordung von
vier russischen Diplomaten in Irak bestätigen. Im Internet waren am Sonntag Videoaufnahmen von
der Hinrichtung der Entführten aufgetaucht.
Am 3. Juni war ein Auto der russischen Botschaft in Irak von unbekannten Kämpfern angegriffen
worden. Botschaftsmitarbeiter Vitali Titow kam bei der Attacke ums Leben, vier seiner Kollegen –
Fjodor Saizew, Oleg Fedossejew, Rinat Agliulin und Anatoli Smirnow – wurden als Geiseln
genommen und verschleppt. Bis zum 19. Juni blieb jedoch unklar, wer die Russen entführt hatte. An
jenem Tag übernahm der »Rat der Schura-Mudschahedin« die Verantwortung für den Überfall. Der
Rat soll sechs verschiedene Gruppierungen vereinigen, darunter Al Qaida in Irak.
Die Entführer stellten Moskau ein Ultimatum: Binnen 48 Stunden habe der Abzug der russischen
Truppen aus Tschetschenien zu beginnen, überdies seien alle Muslime (»unsere Brüder und
Schwestern«) aus russischen Gefängnissen zu entlassen. Schon am 21. Juni sollte die Frist zur
Erfüllung der Forderungen auslaufen.
Am 20. Juni meldete sich der Präsident der Tschetschenischen Republik, Alu Alchanow, zu Wort
und sprach von einer »gezielten Provokation«. Die dahinter stehenden Kräfte verfolgten destruktive
Ziele und wollten das tschetschenische Volk schädigen, sagte Alchanow der Nachrichtagentur
Interfax. Die irakischen Terroristen hatten keinen Grund, Erklärungen über Tschetschenien
abzugeben. Ihre Forderungen seien absurd und lächerlich, niemand könne sie ernst nehmen.
Tschetschenien sei ein Teil der Russischen Föderation, dort herrsche Frieden. Das Volk sei dabei,
mit Hilfe des föderalen Zentrums die Wirtschaft und den sozialen Bereich wieder aufzubauen,
erklärte Alchanow, und äußerte die Hoffnung, dass es den russischen Behörden gelingt, die
Freilassung der Diplomaten zu erreichen.
Nachrichten aus jüngster Zeit belegen indes, dass die Situation in Tschetschenien wie im
benachbarten Inguschetien gar nicht friedlich ist. Erst am 24. Juni teilte Interfax mit, dass in der
inguschetischen Siedlung Slepzowskaja ein »Brigadegeneral des Sicherheitsdienstes der
Itschkeria« namens Scharpudi Anajew festgenommen wurde. Außerdem wurden in den letzten
Tagen acht weitere Mitglieder »illegaler bewaffneter Einheiten« – wie die Rebellen offiziell
bezeichnet werden – festgenommen. Die Separatisten ihrerseits griffen am 19. und 20. Juni die
föderalen Kräfte in Tschetschenien mehrmals an. In Wedensk töteten sie nach eigenen Angaben
sechs Soldaten und verletzten zehn. Tschetscheniens Innenministerium meldete den Tod eines
Soldaten und die Verwundung dreier weiterer in Nodschaj-Jurtowsk. Am 18. Juni hatten die
russischen Streitkräfte eine Operation gegen vier Terroristen in der inguschetischen Siedlung
Nesterowskaja abgeschlossen: Einer der Gesuchten wurde getötet, die anderen drei konnten
fliehen.
Russlands Außenminister: Koalitionskräfte müssen Sicherheit im Irak gewährleisten
MOSKAU, 27. Juni (RIA Novosti). Der russische Außenminister Sergej Lawrow erachtet es als direkte Pflicht der von den USA geleiteten Koalitionskräfte, die Sicherheit im Irak, darunter auch die der ausländischen Vertretungen, zu erhöhen.
"Die Sicherheit im Irak muss sowohl von der Regierung dieses Landes, die entsprechende Strukturen gebildet hat, als auch von den dortigen Koalitionskräften unter Leitung der USA gewährleistet werden", sagte Lawrow vor Journalisten. "...Vor allem die Koalitionskräfte sind verpflichtet, erhöhte Aufmerksamkeit auf die Gewährleistung der Sicherheit, darunter auch der Sicherheit der ausländischen Vertretungen im Irak, zu richten, die sich im Lande aufhalten, um den Irakern zu helfen, nach dem blutigen und immer noch anhaltenden Krieg ein friedliches Leben zu beginnen", so der russische Außenminister. Lawrow bemerkte, Russland habe wiederholt um Maßnahmen gebeten, um die Sicherheit der russischen Bürger, darunter auch der Diplomaten, im Irak zu erhöhen. "Wir werden weiterhin darauf hinarbeiten, dass dieses Problem gelöst wird", betonte der russische Außenminister.
Meldung von RIA Novosti vom 27. Juni 2006
»Erfolgreicher« verlief am 17. Juni der Schlag gegen die Gruppe des »Präsidenten der
tschetschenischen Republik Itschkeria« Abdul- Halim Saidullajew, der in diesem Amt erst vor knapp
anderthalb Jahren Aslan Maschadow gefolgt war. Russische Geheimdienste hatten Maschadow im
März 2005 bei einer Spezialoperation »liquidiert«. Nun traf es Saidullajew. Tschetscheniens
offizieller Regierungschef Ramsan Kadyrow bezeichnete dessen Tötung als »durchschlagenden
Erfolg« bei der Terrorismusbekämpfung im Nordkaukasus und sprach sogar von einem
»Enthauptungsschlag«. Die Rebellen riefen freilich sofort einen neuen »Präsidenten der Itschkeria«
aus, den bekannten Feldkommandeur Doku Umarow.
Einige Tage vor den jüngsten Kämpfen, am 15. Juni, hatte der berüchtigte Terrorist Schamil
Bassajew die Verantwortung für den Tod Achmad Kadyrows übernommen. Kadyrow, Vorgänger
Alchanows im Amt des offiziellen Präsidenten und Vater des jetzigen tschetschenischen
Regierungschefs, war bei einem Bombenanschlag in Grosny am 9. Mai 2004 ums Leben
gekommen. Auf der Internetseite der Separatisten nannte Bassajew die Summe, die seinerzeit für
die Ermordung Kadyrows ausgesetzt worden war: 50 000 US-Dollar. Zugleich wurde ein Kopfgeld in
Höhe von 25 000 Dollar auf seinen Sohn, Ramsan Kadyrow, ausgeschrieben.
Ramsan, der eigentliche starke Mann der von Moskau unterstützten tschetschenischen Führung,
reagierte heftig: Jetzt sei es seine Pflicht als Sohn, Bassajew aufzuspüren und ihn für die Ermordung
seines Vaters zu bestrafen. Möglicherweise haben die neuesten Operationen in Tschetschenien
ihren Grund eben darin, dass Kadyrow endlich seinen Todfeind Bassajew ausschalten will.
Der radikale Flügel der Separatisten, der einen islamischen Gottesstaat zwischen Schwarzem und
Kaspischem Meer anstrebt, dürfte derweil noch aggressiver als bisher versuchen, den
Tschetschenien-Konflikt in die Nachbarregionen zu exportieren: nach Inguschetien, Dagestan,
Kabardino-Balkarien. In Irak haben sie – wie sich zeigt – schon Bundesgenossen gefunden.
Russische Experten analysieren inzwischen Bild für Bild des Videos, das die Ermordung der
Diplomaten »im Namen Allahs« zeigt.
* Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2006
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