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Was hat der Hafenarbeiterstreik in den USA mit dem drohenden Irak-Krieg zu tun?

Interessante Zusammenhänge und verblüffende Einsichten. Ein Streik ist mehr als ein Streik

Unter dem Titel "Nicht die Wirtschaft, der Krieg ist es!" berichtet der USA-Korrespondent Hermann Denecke aus Los Angeles vom Hafenarbeiterstreik an der Westküste. Ein Streik, der eine ungeahnte politische Dimension erfuhr, sodass sich schließlich der US-Präsident persönlich eingeschaltet hat - um die Kriegsvorbereitungen gegen Irak nicht zu gefährden. Dies jedenfalls ist das Fazit des Artikels, der am 19. Oktober im "Neuen Deutschland" erschien und den wir im Folgenden gekürzt dokumentieren.

... Ramon Ponce de Leon jr. ist Boss der Ortsgruppe 13 der ILWU, der International Longshore and Warehouse Union, der Hafenarbeiter-Gewerkschaft an der US-amerikanischen Pazifikküste, und dies ist sein Revier: ein flaches Gebäude in Weiß und Blau mit dem kräftig gelben Emblem der Gewerkschaft darauf, an einem freien Platz zwischen Autofriedhöfen und Öltanks mitten im Industriegelände von Wilmington, im Innersten des Hafengeländes von Los Angeles. Ramon steht hinter der bruchsicheren Glasscheibe, Kopfhörer auf den Ohren, Mikrofon vorm Kinn, vor ihm auf dem Platz drängeln sich einige hundert Männer, sie alle wollen an die Scheibe, an das halbkreisförmige Loch am unteren Ende, durch das Ramon die Marschbefehle ausgibt. In zwei Stunden wird die Arbeit in den Häfen wieder aufgenommen und dies, das Hauptquartier der Gewerkschaft, ist der Platz, an dem die Arbeit zugeteilt wird. ...

In einem Winkel sind die Protestplakate einstweilen abgestellt, mit denen die Dockarbeiter gegen die Aussperrung protestiert hatten. »Macht das Tor auf, wir wollen arbeiten«, steht auf einem, »Aussperrung ist unfair« auf einem anderen. Am Mittag noch war das Protestmaterial in vollem Gebrauch, da ging es hoch her auf dem Platz vorm Gewerkschaftsquartier: Reverend Jesse Jackson, der immer da ist, wenn irgendwo in den USA dem einfachen Manne Unrecht angetan wird, war eigens aus Chicago gekommen, um den Hafenarbeitern Mut zuzusprechen, und mit ihm kamen ein Dutzend Kamerateams und zwei Dutzend Journalisten von der schreibenden Zunft, mit ihm kamen lokale Abgeordnete, stadtbekannte Linke und alte Liberale, die auch alle mit ins schöne Bild der Solidaritätskundgebung wollten. Für eine paar Programm-Minuten war Ramon eine Figur von nationaler Bedeutung und auf allen Bildschirmen der Nation. ...

Die ILWU ist ein kleiner, feiner, exklusiver Klub. Die 29 Häfen an der Westküste von San Diego im Süden bis hinauf nach Seattle im Norden sind ihr Territorium, und das hat sie fest im Griff. 10500 Mitglieder: Sie bedienen die Kräne, sie fahren die Gabelstapler, sie zählen die Container, sie laden die Laster, sie regeln den Umschlag der Güter, und das waren im vergangenen Jahr 250 Millionen Tonnen mit einem Wert von 300 Milliarden Dollar. Die Longshore-Männer im Westen sind die bestbezahlten Arbeiter des Landes: Durchschnittseinkommen 80000 bis 100000 Dollar pro Jahr, je nach Menge der Überstunden. Da kann selbst ein mittlerer Professor nicht mithalten.
Die Aussperrung ist über sie gekommen wie ein Gewitter im Winter. Seit Mai wird mit den Arbeitgebern, den Betreibern der Häfen und Hafenanlagen in der Pacific Maritime Association, um einen neuen Tarifvertrag verhandelt. Und seit Mai ist man sich einig in allen materiellen Dingen. Es geht nicht um Prozente und Profite in diesem Arbeitskampf, nicht um Urlaubsanspruch und Vergünstigungen, um Krankengeld oder Feierschichten. Es geht vielmehr und ausschließlich: um Macht. Die Modernisierung der Häfen, die Digitalisierung des Umschlags, die elektronische Steuerung der Warenströme verändern die Arbeitsinhalte. Das ist den Long-shore-Männern klar und recht. Nicht mehr Papier und Bleistift und Frachtbriefe in mehrfacher Ausfertigung, sondern elektronische Leser, Bildschirme und Handcomputer sind die Werkzeuge ihres Gewerbes geworden. Aber die Arbeitgeber bestehen darauf, dass die neuen, computergestützten Arbeitsplätze und die auf ihnen eingesetzten Arbeitnehmer außerhalb der Zuständigkeit der Gewerkschaft angesiedelt werden. Das ist der Kern des Konflikts, der weltweit Schlagzeilen gemacht hat: die Abschaffung des Grundrechts auf gewerkschaftliche Organisation im Zuge der Einführung neuer Technologien in den Häfen an der Pazifik-Küste. Es geht um rund 400 Arbeitsplätze, die »entgewerkschaftet« werden sollen.

Am 1. September lief der alte Vertrag aus und die Gewerkschaft glaubte, wie immer und üblich, durch einen Bummelstreik vor dem Weihnachtsgeschäft zu einem annehmbaren neuen kommen zu können. Und dann saßen die Dockarbeiter plötzlich auf der Straße und dann saß ein Vermittler des Arbeitsministeriums aus Washington mit am Verhandlungstisch und dann sahen sich die wackeren 10.500 plötzlich hineingerissen in den Sog eines Machtkampfes weit über ihr kleines Hafenterritorium hinaus. Der Präsident griff ein, um rechtzeitig vor den Kongresswahlen vorzuführen, wer der Herr im nationalen Haus und im Zweifel auch in den kalifornischen Häfen ist. Und nicht nur den Arbeitern kommt der Verdacht, dass die zehn tollen Aussperrungstage nur zu diesem Zweck und Ergebnis in schnödem, stillen Zusammenspiel zwischen den Arbeitgebern und ihrem Präsidenten in Washington veranstaltet worden sind.
Die Umwandlung von gewerkschaftsgebundenen in gewerkschaftsfreie Arbeitsplätze – so hat es der Nation noch niemand erklärt, das ist zu kompliziert für die atemlosen bunten Magazine der Medien und die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums. Und das hat Ramon Ponce de Leon schwer verbittert. Die Bilder im Fernsehen berichteten von den Containergebirgen, die sich in den Häfen aufstapeln, und den Frachtern, die voll geladen vor der Küste dümpeln, von den faulenden Bananen und dem verrottenden Broccoli, den Fabriken, die aus Mangel an Ersatzteilen schließen und den Lkw-Fahrern, die ihre Zeit tatenlos und ohne Fracht auf den Parkplätzen vertrödeln mussten, von den Sorgen der armen US-amerikanischen Kinder, dass der Plastik-Plunder aus China, mit dem sie sich zu Halloween zu erschrecken lieben, noch immer nicht in den Regalen steht. 20 Milliarden Dollar Schaden für die Volkswirtschaft, so lauten die ersten Schätzungen. »Wofür«, fragt Ramon und wundert sich, dass ein kleiner Verein von ein paar Dutzend Hafenunternehmern der Nation und ihrer kränklichen Wirtschaft ungestraft einen solchen Schaden zufügen darf.
Ramon reicht die Laufzettel für die Dockarbeiter durch die Öffnung in der Scheibe und hat für jeden seiner Kollegen eine ernsthafte Mahnung zur Hand: »Sicherheit geht vor Schnelligkeit«, sagt er wieder und wieder und die Lautsprecher verstärken die Botschaft bis in den letzten Winkel und jedes Mal murmeln die Wartenden ihre Zustimmung. Ramon gibt damit die Strategie der Gewerkschaft für die kommenden Wochen aus. Im letzten Jahr sind fünf Dockarbeiter in den Westhäfen bei Unfällen ums Leben gekommen, sie wurden von herabfallender Ladung erschlagen, sie fielen in offene Luken und brachen sich den Hals, sie kamen unter die Räder schwerer Transportfahrzeuge. »Sicherheit geht vor Schnelligkeit«, so hatte die Gewerkschaft bereits ihren Bummelstreik erklärt und so will sie, ungeachtet der gerichtlichen Aufsicht, unter die der Präsident sie hat stellen lassen, ungeachtet der Gütermengen, die auf Entladung warten, so will sie es auch in den nächsten Wochen halten. Der Machtkampf ist unterbrochen, aber längst nicht beendet. Die Dockarbeiter jedenfalls sind weit davon entfernt, klein beizugeben.

»Wir haben uns verschätzt«, räumt Ramon im privaten Gespräch ein, »Wir haben die Lage in den Häfen, aber nicht die Lage der Nation bedacht.« An dem Tag, an dem der Präsident eingriff, ist ihm die ganze Dimension des Machtkampfes, in den hinein der Tarifstreit geraten ist, erst voll zu Bewusstsein gekommen. Dieser Dienstag gehört zu den bisher bittersten im Leben des Arbeiterführers Ramon Ponce de Leon. An diesem Dienstag saßen die Verhandler der ILWU im Arbeitsministerium in Washington, um eine Vereinbarung zu unterschreiben: ein 30-tägiger freiwilliger Waffenstillstand im Arbeitskampf. Aber ehe sie unterschreiben konnten, ehe sie ihm die Suppe hatten versalzen können, ging Präsident Bush in einer eilig vorverlegten Pressekonferenz an die Öffentlichkeit und schwang sich zum Herrn des Verfahrens auf und die Arbeitgeber waren mit ihm.
Ramon hörte in seinem Quartier in Wilmington im Fernsehen, was der Präsident zur Begründung anführte: nicht nur die Wohlfahrt, auch die Sicherheit der Nation sind gefährdet. Und da dämmerte es ihm: Es ist nicht die Wirtschaft, stupid, es ist der Krieg. Mit der gerichtlich angeordneten Zwangspause sind die Häfen nicht nur offen am Wahltag im November, nicht nur offen über das ganze Weihnachtsgeschäft hinweg, sie stehen vielmehr offen für die Verschiffung von Bomben und Kanonen, von Material und Mannschaft für den Krieg gegen Irak. Und der wäre schwer behindert, wenn in den Pazifikhäfen gebummelt wird oder gar die Arbeit ruht. ...

Aus: Neues Deutschland, 19. Oktober 2002


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