Hat der UN-Sicherheitsrat kapituliert?
Die UN-Resolution 1441 (2002) im Spiegel der Presse - Kommentare und Meinungen
Eric Chauvistré ist in der taz entschieden der Meinung, dass der
UN-Sicherheitsrat "kapituliert" hat. Bei so vielen "unscharfen
Formulierungen" und dem Offenhalten der Frage, ob denn nun der
Sicherheitsrat über weitere Maßnahmen entscheidet oder ob dies einzelnen
UN-Mitgliedern überlassen bleibt, hat der Sicherheitsrat die Vereinten
Nationen "untergraben", schreibt Chauvistré in seinem Kommentar und
fährt fort:
... Bis dahin werden alle beteiligten Regierungen das in die
UN-Resolution hineininterpretieren, was sie für
politisch
opportun halten. Die ständigen
Sicherheitsratsmitglieder werden
alle gut mit dieser Situation leben können:
Frankreich, Russland
und China ging es vor allem darum, ihr Gesicht
zu wahren. Sie
wollen die Illusion der Macht des
Sicherheitsrates bewahren -
und damit ihren eigenen Großmachtstatus
aufrechterhalten. Mit
einem formellen Beschluss, und sei er noch so
inhaltsleer, haben
sie dies zunächst einmal erreicht.
Aber: Ob es letztendlich einen Krieg gegen den
Irak geben wird
und ob dieser Krieg mit oder ohne Zustimmung des
UN-Sicherheitsrates geführt wird, ist mit der
Resolution von
gestern keineswegs klar. Darüber wird weiterhin
im Weißen
Haus in Washington entschieden - und nicht im
New Yorker
UN-Hauptquartier. Faktisch hat der
UN-Sicherheitsrat gestern
kapituliert: Er hat entschieden, nicht zu
entscheiden. ...
taz, 9. November 2002
Eric Chauvistré hat in der taz einen weiteren Artikel verfasst ("Ein
logisches Problem - Der Weg zum Krieg"). Darin befasst er sich mit der
Unmöglichkeit für die Waffeninspekteure, einen "negativen Beweis" zu
liefern. Es heißt dort u.a.:
Zu gewinnen gibt es für die Unmovic-Inspektoren im Irak
.. praktisch nichts: Sollten die Teams vor Ort
Anzeichen
für laufende Programme zur Produktion von
Chemie- und
Biowaffen oder gar Aktivitäten zur Entwicklung
einer
Atombombe finden, könnte die US-Regierung dies
zum Anlass
nehmen, mit einem Angriff zu beginnen. Der Job
der Inspektoren
bestünde dann nur noch darin, das Land so
schnell wie möglich
zu verlassen, um den Bombardements zu
entgehen.
Finden die Team nichts, werden sie aus
Washington wohl den
Vorwurf hören, sie hätten nicht gründlich genug
gesucht.
... Sollten die Inspekteure auf keine Hinweise
für
Waffenprogramme stoßen, so die absehbare
Argumentation aus
Washington und London, wäre dies schlicht ein
Beleg für die
geschickten Vertuschungstechniken des Irak.
Weil eine absolute Kontrolle unmöglich ist,
müsste der
Sicherheitsrat genauer definieren, welche
Aktivitäten des Irak in
jedem Fall kontrolliert und verhindert werden
sollen und welche
notfalls toleriert werden können.
Da solch differenzierte Kriterien fehlen, wird
es stets Streit über
Erfolg oder Misserfolg der Waffeninspektionen
geben. ...
Aus: taz, 9. November 2002
In der Frankfurter Rundschau ging Rolf Paasch ("Das Irak-Szenario")
zunächst ähnlich kritisch mit den USA ins Gericht, um aber weiter unten
einen sonderbaren Schwenk zu vollziehen, indem die alleinige
Verantwortung für einen Krieg auf Saddam Hussein geschoben und George
Bush gewissermaßen exkulpiert wird. Paasch attestiert der
Bundesregierung die richtige Haltung gegen den Krieg, fordert sie
schließlich aber auf, diese Haltung zu überdenken. Dabei sein ist alles
- auch beim Krieg?
... Falls der irakische Diktator die Suche der UN-Inspektoren nach
Massenvernichtungswaffen behindert, muss der
Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen zu einer neuen "Einschätzung" der Lage
angerufen werden. Gleichzeitig
dürfen die USA tun, was sie in Irak glauben, tun zu
müssen. So viel zum
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen unter den
Bedingungen des US-"Empire".
... Die Beantwortung der Frage, ob der Vollzug der Inspektionen
schon Strafe genug ist oder ob Irak zum Präzedenzfall für einen
"Regimewechsel" wird, liegt jetzt bei Saddam Hussein.
Wenn demnächst rund 100 Waffeninspektoren an die Tore
seiner Fabriken und
Paläste klopfen, wird der Diktator die Spuren seines
ABC-Waffen-Arsenals, dessen
Existenz er weiter dementiert, nur verleugnen und
verwischen können. Denn die
Geschichte des modernen Irak und die Biografie seines
brutalen Herrschers legen
nahe, dass sich die programmatische Differenz
zwischen Entwaffnung und
Regimewechsel bei näherem Hinsehen der Kontrolleure
rasch auflösen dürfte. Als
Stalinist ohne die Ausstattung mit nicht
konventionellen Machtmitteln, als ein Tikriti
der vor den USA Schwäche zeigt, dürfte Saddam die
mandatierte Invasion der
Aufseher nicht lange überleben: sei es, weil sich die
Stützen seiner Macht doch
noch zum Coup aufraffen oder weil seine Verweigerung
der Inspektionen George
W. Bush Gelegenheit zum Waffengang mit ausgewählten
Alliierten gibt. ...
Die entschiedenen Gegner einer militärischen Lösung müssen dagegen ihre
Haltung für den Fall überdenken, dass der Krieg
kommt, weil Saddam Hussein mit
Donald Rumsfeld koaliert. Dies ginge dann auch das
neue Sicherheitsratsmitglied
Deutschland etwas an an. Und was ist, so sollten sich
die Europäer schon heute
gemeinsam fragen, wenn der Krieg in Irak war und die
befürchtete, aber gar nicht
so wahrscheinliche Apokalypse ausbliebe? Von den
Opfern des Kriegs einmal
abgesehen wäre dann der Schaden am Völkerrecht
angerichtet. Jeder Versuch zu
einer konstruktiven Nahost-Politik träfe auf noch
tiefere Ressentiments in der
arabischen Welt. Aber sollte der Nebenkläger Europa
den USA als Vollstrecker
des Urteils eine solche Situation konkurrenzlos
überlassen? Mit der so harten wie
ambivalenten Resolution des UN-Sicherheitsrats gehört
der "Tag danach" nicht
mehr allein in das Szenario der Pentagon-Planer und
der irakischen Opposition.
Aus: Frankfurter Rundschau, 9. November 2002
Zwei Tage später kommentiert Rolf Paasch von neuem die Implikationen
der Resolution und kommt zum Ergebnis:
... Aber ebenso problematisch wie das Führen des Krieges scheint dessen
Erklärung
zu werden. Saddam dürfte mit den Inspektoren
kooperieren, doch mit Sicherheit
nicht zur Zufriedenheit Washingtons. Wer entscheidet
dann über Krieg und
Frieden? George W. Bush oder der von russischen,
französischen oder syrischen
Einsprüchen zurückgehaltene UN-Sicherheitsrat? Die
UN-Resolution gibt darauf
keine Antwort. Deswegen stehen in der Regierung Bush
und in der von ihr
angestrebten Allianz noch Auseinandersetzungen bevor.
Aus: Frankfurter Rundschau, 11. November 2002
Auch die schwedische Zeitung "Dagens Nyheter" betont den
uneindeutigen Charakter der Resolution. Es heißt dort u.a.:
... Niemand
wird glauben, dass eine auch noch so wohlformulierte
Resolution alle Probleme der Zukunft lösen wird. Sie
ist nur ein
Schritt, auch wenn dieser noch so wichtig ist. Was
wird zum
Beispiel geschehen, wenn Hans Blix dem Irak
attestiert, das
Land arbeite zufriedenstellend mit der UNO zusammen,
wenn
die USA gleichzeitig das Gegenteil behaupten? Was
wird
geschehen, wenn der Irak, wovon man wohl ausgehen
kann,
nicht vollständig kooperationsbereit ist, sondern
ständig neue
Bedingungen stellt? Und wie wird die EU handeln? Für
die Union
waren die Diskussionen um den Irak kein Ruhmesblatt,
und die
gemeinsame Außenpolitik hat sich als alles andere
als
gemeinsam erwiesen.
Aus, Dagens Nyheter, 11. November 2002 (Übersetzung:
Deutschlandfunk)
Die Neue Zürcher Zeitung sieht in der UN-Resolution in erster Linie
einen politischen Erfolg für Präsident Bush. Der Kommentar von H.K.
lautet denn auch "Bushs zweiter Etappensieg". Ein Auszug, in dem es vor
allem um die Haltung der drei US-kritischen Sicherheitsratsmitglieder
Russland, China und Frankreich geht:
... Dass Frankreich, Russland und China nach Ablauf der
für
Verhandlungen vorgesehenen Schonfrist im
Sicherheitsrat
einlenkten, ist keine Überraschung. Die Uno ist für
sie ein
Instrument, um die eigene Weltgeltung zu zelebrieren.
Die Administration Bush kalkulierte richtig und hatte
in
Staatssekretär Powell einen versierten Unterhändler an
der
diplomatischen Front, der diesem
Profilierungsbedürfnis
Rechnung trug, die Kirche aber doch im Dorf liess.
Bush
kam die ganze Irak-Diskussion auch aus
innenpolitischen
Gründen nicht ungelegen, und die Uno war das richtige
Forum, um ihr Wirklichkeitsgehalt zu geben. Die
eigentliche Nagelprobe steht aber erst bevor.
Saddam kann durch sein Verhalten immer noch einen
Krieg erzwingen. Die Entscheidung darüber ist nun im
Sicherheitsrat vorgespurt. Alle Beteiligten haben neue
Bedenkzeit. Russland und China erhalten politische
Deckung für eine allfällige Kurskorrektur, um gegen
Saddam Front zu beziehen. Für Bush käme die
Unterstützung eines Waffengangs durch die Uno einer
Stärkung seiner Position auch in Amerika gleich. Die
Entschliessung des Sicherheitsrats öffnet somit die
Tür für
Krieg oder Frieden. Das Endspiel hat begonnen.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 11. November 2002
Unter der Überschrift "Schicksalsstunden in Damaskus" befasst sich
der Leitartikel von Heiko Flottau in der Süddeutschen Zeitung mit dem
regionalen Umfeld Iraks. Alle arabischen Staaten stimmen der Resolution
des Sicherheitsrats zu, nicht um die USA zum Krieg zu ermuntern, sondern
ausdrücklich um einen Krieg zu verhindern. Sollte es zum Krieg kommen,
stünde Saddam einer geschlossenen arabischen Front gegenüber, mit einer
Ausnahme: Saudi-Arabien.
... Zu einer existenziellen Bedrohung für das Königshaus könnte
aber besonders ein erfolgreicher Irak-Feldzug der USA
werden,
dessen Strategie offensichtlich schon feststeht.
Beherrschten die
USA den Irak, würde das saudische Öl womöglich
weniger
gebraucht. Denn Saudi-Arabien könnte, langfristig,
als so
genannter „Swing Producer“ an Wichtigkeit verlieren:
Steigen die
Ölpreise, hat das Königreich bisher seine fast
unermesslichen
Reserven genutzt, um die Förderung zu erhöhen und die
Preise
zu stabilisieren. Für den Großverbraucher USA ist
diese Fähigkeit
des Verbündeten von lebenswichtigem Interesse. Nun
fürchtet
die Königsfamilie, die USA wollten Saudi- Arabien mit
dem Irak
einen zweiten Swing Producer an die Seite stellen.
Die fragile
wirtschaftliche und politische Stabilität des
Königreiches wäre
einem neuen Beben ausgesetzt.
Die UN-Resolution gibt dem gefährdeten Saddam-Regime
eine
letzte Chance. Langfristig gefährdet ist aber auch
das Regime
der Familie Saud – besonders dann, wenn der Diktator
in Bagdad
seine letzte Chance nicht nutzt.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 11. November 2002
Auch der Kommentar im Berliner Tagesspiegel beschäftigt sich
vornehmlich mit der Haltung der arabischen Staaten und unterstellt ihnen
eine notorische Wankelmütigkeit. "Im Zweifel mit den Siegern" hat
Clemens Wergin seinen Artikel überschrieben. Darin heißt es u.a.:
... Wer nicht zu den Verlierern gehören will,
sucht die Nähe der USA.
Wer vor einer Destabilisierung der
ganzen Region im Falle eines Krieges
warnt, wird vielleicht erstaunt sein
darüber, dass die moderaten
arabischen Staaten sich mit den
Amerikanern arrangieren. Wie wollen sie
das ihren im Westen so gefürchteten
arabischen Massen erklären? Die
Antwort lautet: Indem sie diese
vorbereiten. Denn der öffentliche Druck auf
den Irak dient ja auch dazu, beim
Scheitern der Abrüstungsbemühungen
einen Schuldigen präsentieren zu können.
Dann könnten sich die
moderaten arabischen Staatsoberhäupter
hinstellen, mit dem Finger auf
Saddam zeigen und sagen: Er hat seine
Chance gehabt, er hat sie nicht
genutzt.
Aus: Tagesspiegel, 11. November 2002
In der spanischen Zeitung El Mundo werden wesentlich kritischere Töne
angeschlagen. Hier beginnt schon die große Demonstration von Florenz (9.
November) zu wirken.
"Alle Analysen und alle Wetten
konzentrieren sich auf das Wann eines Angriffs auf
den Irak.
Dabei ist der Zeitplan für die
UNO-Waffeninspektionen gerade
erst angelaufen. Es ist beunruhigend, dass schon
jetzt der
Eindruck erweckt wird, als sei eine militärische
Aktion
unabwendbar. Es wäre nicht gut, wenn US-Präsident
Bush die
UNO-Resolution als einen Freibrief betrachten und
einen
Irak-Angriff vorbereiten würde, ohne sich groß um
den Ablauf
der Inspektionen zu kümmern. Die USA mit ihrem Hang
zum
Unilateralismus sollten wissen, dass weite Teile der
westlichen
Gesellschaft gegen eine militärische Intervention
sind. Dies hat
gerade erst die Demonstration von Hunderttausenden
von
Menschen in Florenz gezeigt."
Aus: El Mundo, 11. November 2002 (Übersetzung: Deutschlandfunk)
Für Werner Pirker von der jungen Welt ist die Sache im Wesentlichen schon gelaufen. In seinem Kommentar ("Irak-Krieg: Ende der Debatte") zieht er ein pessimistische Fazit aus dem wochenlagen "Feilschen" um die UN-Resolution.
... Die USA und Großbritannien wollten eine
Resolution, die automatisch Kriegshandlungen nach sich zieht,
sollte der Irak dagegen verstoßen. Die anderen Mitglieder des
Sicherheitsrates, wobei Frankreich und Rußland wortführend
waren, widersetzten sich einem solchen Automatismus. Bei
irakischen Verstößen gegen die Resolution sollte die
Entscheidung über Kriegshandlungen auch weiterhin dem
Sicherheitsrat obliegen.
Diesen Grundsatz meint Putin in der jüngsten Irak-Resolution
durchgesetzt zu haben. Nun belehren ihn die Amerikaner, daß
er und andere Beschwichtigungspolitiker wochenlang umsonst
verhandelt haben, weil das Ergebnis längst feststand.
Washington behauptet, das Mandat zum Krieg bereits in der
Tasche zu haben. Und wer könnte oder wollte das auch schon
widerlegen? Jedenfalls nicht Leute, die einen UN-Beschluß mit
zu verantworten haben, der dem Irak keine Chance läßt. Die
"Verstöße", deren sich der Irak schuldig machen wird, sind in
Washington jetzt schon aufgelistet. Das UN-Diktat ist so
angelegt, daß es zu amerikanischen Provokationen, die
irakisches "Fehlverhalten" entweder auslösen oder ein
solches suggerieren, geradezu herausfordert.
"Null-Toleranz-Politik", nennt das die US-Sicherheitsberaterin
Condoleezza Rice.
Das ist das Ende des nach 1945 entstandenen internationalen
Völkerrechtsregimes. Die UNO hat der Pax Americana ein
Mandat ausgestellt und sich damit überflüssig gemacht.
Aus: junge Welt, 12. November 2002
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