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Allawi sieht sich schon als Iraks Premier

Regierungschef Maliki bestreitet Wahlergebnis

Von Karin Leukefeld *

»Al-Irakija hat einstimmig beschlossen, Ijad Allawi als Kandidaten für das Amt des Premierministers zu nominieren«, verlautete am Sonntag aus den Reihen der Irakischen Nationalistenbewegung Al-Irakija, die sich als Gewinnerin der jüngsten Parlamentswahlen betrachtet. Doch könnte die Bildung einer neuen Regierung noch Monate in Anspruch nehmen.

Drei Wochen nach den irakischen Parlamentswahlen gab die Wahlkommission am späten Freitag die Ergebnisse bekannt. Danach hat die Al-Irakija Liste des früheren Ministerpräsidenten Ijad Allawi mit 91 Abgeordnetenmandaten das Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem gegenwärtigen Premierminister Nuri al-Maliki für sich entschieden. Maliki und seine Koalition für einen Rechtsstaat gewann 89 der insgesamt 325 Mandate, gefolgt von der religiösen Liste Irakische Nationale Allianz mit 70 Mandaten. Die Kurdische Allianz, das Bündnis der beiden großen kurdischen Parteien KDP und PUK mit elf weiteren Parteien, kam auf 43 Mandate, andere kurdische Parteien, darunter die Goran-Bewegung und zwei islamistische Parteien, brachten es auf 14 Sitze. Auf christliche und andere religiöse Minderheiten entfallen acht Mandate, zwei weitere Parteien (Irakische Einheit und Tawafuk) erhielten zusammen 10 Mandate.

Für eine große Überraschung sorgte die Bewegung des Schiitenpredigers Muktada al Sadr, die sich locker der Irakischen Nationalen Allianz angeschlossen hatte. Mit 40 Mandaten zeigte sie sich den anderen Parteien der Allianz deutlich überlegen. Al-Sadr, der sich zum Zwecke seiner religiösen Ausbildung, wie es heißt, seit Jahren im iranischen Qom aufhält, könnte künftig eine stärkere Rolle im religiösen Zentrum der Schiiten in Nadschaf spielen, dem derzeit Großajatollah Ali al-Sistani vorsteht. Sistani hatte die Iraker aufgerufen zu wählen, schiitischen Geistlichen aber empfohlen, sich aus der Politik herauszuhalten.

Formal muss das Wahlergebnis zunächst von Präsident Dschalal Talabani unterzeichnet und damit legalisiert werden. Die Partei mit den meisten Mandaten erhält den Auftrag zur Regierungsbildung, wofür eine Mehrheit von 163 Stimmen erforderlich ist. Gelingt es Allawi nicht, eine Regierung zu bilden, geht der Auftrag an die Partei mit den zweitmeisten Stimmen, also an die Rechtsstaatskoalition Nuri al-Malikis. Das neue Parlament muss innerhalb von 15 Tagen zusammentreten, 30 Tage später sollte ein neuer Präsident, möglichst mit Zweidrittelmehrheit, gewählt sein. Weitere 14 Tage später sollte ein Ministerpräsident benannt sein, der dem Parlament sein Kabinett binnen Monatsfrist zur Abstimmung vorstellen muss.

Ob dieser Zeitplan eingehalten wird, ist freilich völlig unklar. Der noch amtierende Ministerpräsident Nuri al-Maliki hat eine manuelle Neuauszählung der Stimmen in Mossul und Bagdad gefordert. Hintergrund sind Spekulationen, wonach möglicherweise Hacker der iranischen Volksmudschaheddin, die seit der Zeit Saddam Husseins im irakischen Exil leben, ins Netzwerk der Wahlcomputer eingedrungen sind und die Ergebnisse zugunsten der Al-Irakija Liste manipuliert haben könnten. Maliki hat inzwischen das Verfassungsgericht angerufen.

Allawi dagegen, der während der wochenlangen Auszählung mehrfach Wahlfälschung und Betrug innerhalb der Wahlkommission reklamiert hatte, erklärte nun, er akzeptiere die Ergebnisse und wolle Koalitionsgespräche mit allen Seiten aufnehmen. Auch ein Gespräch mit der Partei Malikis habe es schon gegeben, doch könne von einer Annäherung keine Rede sein. Allawi und Maliki hatten vor der USA-Invasion kooperiert, gelten inzwischen aber als persönlich verfeindet.

Das westliche Ausland beglückwünschte derweil Irak zu den Wahlen. In den USA wurde von einem »Meilenstein der Demokratisierung« gesprochen. Ad Melkert, Leiter der UN-Mission zur Unterstützung Iraks (UNAMI), rief »alle Politiker und Fraktionen auf, das Wahlergebnis zu akzeptieren«, die Iraker verdienten »Anerkennung für eine historische Errungenschaft«.

Gleich nach dem Wahltag machten sich derweil in Bagdad die Ärmsten der Armen auf, um die großen Wahltafeln auszuschlachten, die überall aufgehängt waren. Daud Salman, Journalist des von europäischen Geldgebern finanzierten Instituts für Kriegs- und Friedensberichterstattung (IWPR), befragte Hassan Obaid, einen Vater von acht Kindern, der einen zehn Meter langen Metallrahmen über die Straße zu seiner Hütte zog. Er habe in der Nacht nach der Wahl kaum geschlafen und sei aufgebrochen, sobald die Ausgangssperre aufgehoben war, berichtete der 49-Jährige dem Reporter: »Ich will ein Dach für die Lehmhütte bauen, in der ich mit meiner Familie wohne«, sagte er. Den Rest aus Holz, Pappe und Metall könne er verscherbeln, um Lebensmittel zu kaufen.

Bei einem Anschlag in der nordirakischen Stadt Kaim wurden am Sonntag (28. März) Polizeiangaben zufolge drei Menschen getötet.

* Aus: Neues Deutschland, 29. März 2010


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