Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Besatzungswahlen

Im Westen wird die Abstimmung vom 7. März über das irakische Parlament gefeiert. An der US-Vorherrschaft und am Widerstand dagegen hat sich wenig geändert

Von Joachim Guilliard *

Viele westliche Kommentatoren reagierten mit Begeisterung auf die jüngsten Parlamentswahlen im Irak. Allein aufgrund der Wahlbeteiligung von 62 Prozent sahen sie die Demokratie im Irak gefestigt. Manche, wie Jan Ross in der Zeit vom 11. März, sehen nun sogar George W. Bush, Dick Cheney, Tony Blair und die anderen Drahtzieher des Krieges nachträglich im Recht. Dagegen bezeichnete Scheich Harith al-Dari, Generalsekretär der einflußreichen Vereinigung irakischer Schriftgelehrten (AMSI) und offizieller Sprecher eines bedeutenden Flügels des militärischen Widerstands, die jüngsten Parlamentswahlen im Irak als »ein Mittel, die Besatzung zu rechtfertigen und die US-amerikanische Hegemonie über den Irak zu bestätigen.« Die bisherige Entwicklung habe bewiesen, daß sie keinesfalls ein Weg zum Wiederaufbau eines souveränen Staates seien. Der politische Prozeß sei immer noch nach ethnisch-konfessionellen Kriterien ausgerichtet und werde nicht zum Rückzug der USA führen.

Tatsächlich waren auch die jüngsten Wahlen von vielfältigen Manipulationen, verstärkter Repression, Ausschluß von Kandidaten und Ermordung politischer Gegner geprägt. Dennoch werden ihre Ergebnisse international anerkannt und haben erhebliche Wirkung auf die weitere Entwicklung des Landes. Letzteres war ein Grund für viele Besatzungsgegner, sich an den Wahlen zu beteiligen. Auch der Widerstand hat diesmal nicht zum Boykott aufgerufen.

Während die Wahlbeteiligung insgesamt zurückging, war sie in den Provinzen, in denen der Widerstand besonders stark ist, überdurchschnittlich hoch. Ein Zeichen dafür, daß viele sich erhoffen, durch die Wahlen das von den USA eingesetzte sektiererische Regime beseitigen und so dem Ende der Besatzung näher kommen zu können. Sollten die USA die Verpflichtung einhalten, ihre Truppen bis Ende 2011 abzuziehen, wäre die neue Administration eine Übergangsregierung.

Die Stimmen der Opposition konzentrierten sich auf die säkulare »Irakische Nationalbewegung«, Al-Iraqija, ein Wahlbündnis aus der Partei des Ex-Interimspremiers Ijad Allawi und nationalistischen Parteien, die in mehr oder weniger radikaler Opposition zur Besatzung stehen. Dieses Bündnis mit dem einstigen engen US-Alliierten, der als Premier u.a. für die verheerenden Angriffe auf Falludscha im April 2004 mitverantwortlich war, fiel vielen Besatzungsgegnern sicherlich schwer, erwies sich jedoch als erfolgreich. Trotz der zahlreichen Manipulationen wurden ihm die meisten Sitze zugesprochen. Es erhält nach jetzigem Stand 91, die »Rechtsstaatkoalition« des Amtsinhabers 89 der 325 Sitze. Dennoch ist wenig wahrscheinlich, daß Allawi neuer Ministerpräsident wird.

Da die schiitische »Irakische Nationale Allianz« (INA) 70 und die »Kurdische Allianz« 43 Mandate errangen, hätten die von den Regierungsparteien geführten Listen zusammen mit rund 200 der 325 Sitzen rein rechnerisch wieder eine ausreichende Mehrheit. Allerdings entfallen nur 17 der 70 Mandate von INA auf den Obersten Islamischen Rat (ISCI), die zweite schiitische Regierungspartei, während 39 Sitze der vom Iran geschmiedeten Zweckallianz an die anti-amerikanische Bewegung des prominenten Geistlichen Muqtada Al-Sadr fielen. Dieser hat bisher die Unterstützung einer zweiten Amtszeit Malikis ausgeschlossen und zudem schwer verdauliche Forderungen für eine Regierungsbeteiligung gestellt, darunter Druck auf Washington, den Abzug der US-Truppen zu beschleunigen, und keine Zugeständnisse an die Kurden zu machen. Ohne solche Zusagen, insbesondere bezüglich der von den Parteien der »Kurdischen Allianz« PUK und KDP beanspruchten ölreichen Region um Kirkuk, bekommt Maliki diese aber nicht ins Boot. Ungeachtet dessen haben die Spitzen der schiitischen und kurdischen Parteien bereits Verhandlungen aufgenommen – in Teheran, wo sie, so die arabische Zeitung al-Hayat, keine Gefahr laufen, von US-amerikanischen Spionen belauscht zu werden.

Kaum eine Parteienkombination ist auszuschließen. Eine echte Alternative zur bisherigen Regierung wäre aber nur durch ein Bündnis von Al-Iraqija mit der Sadr-Bewegung möglich. Inhaltlich gibt es zwar zwischen beiden große Übereinstimmungen, aber die Abneigung zwischen den Anhängern Al-Sadrs und den sunnitischen Nationalisten, die von ersteren als »Baathisten« bekämpft werden, wird wohl zu groß für eine feste Koalition sein. Vermutlich wird nach langen Verhandlungen, diversen Deals und gehörigem Nachdruck der Besatzungsmacht eine Koalition die Regierung übernehmen, die weitgehend der jetzigen entspricht, verstärkt durch Teile anderer Wahlbündnisse. Bei einer Neuauflage der kurdisch-schiitischen Regierung, dürfte die Wut ihrer Gegner groß sein und sich in heftigen Protesten über Wahlmanipulationen entladen, die rasch auch eskalieren könnten. Viele werden es vermutlich nicht bei verbalen Protesten belassen und der militärische Widerstand wird zunehmen.

* Aus: junge Welt, 3. April 2010

Ergebnisse: Völkische und Konfessionelle geschwächt

Die Beteiligung am 7. März war mit 62 Prozent wesentlich geringer als bei den vorangegangen Wahlen am 30. Januar 2005, in Bagdad lag sie z. B. nur noch bei 53 Prozent. Über 500000 Stimmen wurden für ungültig erklärt – einer der vielen Hinweise auf möglichen Betrug.

Die säkulare »Irakische Nationalbewegung«, Al-Iraqija, liegt mit 25,9 Prozent der 10,2 Millionen gültigen Stimmen knapp in Führung und erhält 91 Sitze. Die vom amtierenden Ministerpräsidenten geführte, überkonfessionelle Rechtsstaat-Koalition erhielt 25,8 Prozent der Stimmen und 89 Sitze im von 275 auf 325 Abgeordnete vergrößerten Parlament.

Drittstärkste Liste wurde mit 70 Mandaten die rein schiitische »Irakische Nationale Allianz« (INA), die von der zweiten schiitischen Regierungspartei, dem Obersten Islamischen Rat (ISCI), angeführt wird, gefolgt von der »Kurdischen Allianz« aus PUK und KDP mit 43 Mandaten. Die neue oppositionelle »kurdische Bewegung für den Wandel« (Gorran) schnitt schlechter ab als bei den Provinzwahlen, zieht aber mit acht Abgeordneten ins Parlament.

Die von der Islamischen Partei geführte sunnitische »Irakische Einheitsfront« kann nur sechs ihrer bisher 44 Sitze behalten und zählt damit, zusammen mit dem ISCI, zu den größten Verlierern der Wahl. Der sich ideologisch am iranischen System orientierende ISCI hat selbst nur 17 der 70 Mandate von INA gewonnen.

Auch die kurdischen Regierungsparteien, die 2005 massiv vom Boykott der Sunniten profitierten, haben in den Provinzen mit ethnisch gemischter Bevölkerung stark verloren. In Kirkuk erhielten sie trotz der massiven Ansiedlung kurdischer Familien und eines zweifelhaften Wahlregisters weniger Stimmen als Al-Iraqija – ein schwerer Rückschlag für ihr Bemühen, die ölreiche Region ihrem Herrschaftsbereich anzugliedern.

Insgesamt zeigt das Wahlergebnis eine deutliche Schwächung völkischer und religiös-konfessioneller Kräfte.

junge Welt, 3. April 2010



Wahlen im Irak

Von der Fälschung zu Verhaftungen und Attentaten

Von Joachim Guilliard **


Wahlmanipulationen reichten nicht, um der Allianz des amtierenden Premierministers Nuri Al-Maliki am 7. März den Sieg zu sichern. Nun greift er zu allen Mitteln staatlicher Repression, um seinen Posten zu sichern. Mindestens vier Kandidaten der siegreichen oppositionellen Al-Iraqija-Liste wurden von Malikis »Sicherheitskräften« ins Visier genommen. Das prominenteste Opfer ist Najm Abdullah Al-Harbi, ein Abgeordneter des Provinzparlaments von Diyala, einer mehrheitlich sunnitischen Provinz, nördlich von Bagdad. Al-Harbi, der mit 28000 Stimmen das zweitbeste Ergebnis in der Provinz erzielte, wurde bereits am 7. Februar inhaftiert. Nachdem ein Gericht seine Freilassung angeordnete hatte, entführten ihn Spezialeinheiten Malikis in ein Bagdader Gefängnis, wo er seither ohne Kontakt zur Außenwelt eingekerkert ist. Rechtzeitig untertauchen konnten, Raad Dahlaki, Vorsitzender des Stadtrates der Provinzhauptstadt Baquba, und Mohammed Othman, ehemaliger Bürgermeister einer Nachbarstadt. Der Aufenthalt der vierten Person, einer Frau, ist unbekannt.

Parallel bemüht sich das ominöse Debaathifizierungs-Komitee der Regierung, das vor den Wahlen hunderte oppositionelle Kandidaten ausgeschlossen hatte, weitere 52 nachträglich zu disqualifizieren. Die Stimmen, die auf sie entfielen, sollen annulliert werden. Sechs der Betroffenen haben ein Mandat errungen, mindestens drei von ihnen auf der Liste Al-Iraqija. Das von den berüchtigten schiitischen Spitzenpolitikern Ahmed Chalabi und Ali al-Lami geführte Debaathifizierungs-Komitee geht noch auf eine Verordnung des einstigen US-Statthalters Paul Bremer zurück und arbeitet, seitdem das Parlament ein eigenes Gesetz dazu erließ, ohne Rechtsgrundlage.

Zudem hat Maliki nach Informationen der Los Angeles Times bereits vor den Wahlen die Armeeeinheiten in und um Bagdad unter das Kommando loyaler Offiziere gestellt sowie 190 hochrangige Offiziere von Einheiten ausgetauscht, die an sich dem Innenminister unterstehen. Dieser war in einer konkurrierenden Wahlallianz angetreten.

Sicherheitsleute oppositioneller Parteien hatten dem Blatt gegenüber auch die Befürchtung geäußert, daß es bald zu Anschlägen auf die von ihnen Beschützten kommen werde. Diese Befürchtungen bestätigten sich schnell. So richtete sich in Qaim, einer Stadt an der syrischen Grenze, zwei Tage nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine Bombenserie gegen Mitglieder von Al-Iraqija, wobei es mehrere Tote gab.

** Aus: junge Welt, 3. April 2010


Zurück zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage