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Klares Votum - unklare Zukunft

Irak nach der Auszählung der Stimmen zur Parlamentswahl - Kommentare

Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe von Kommentaren, die sich mit den Parlamentswahlen vom 30. Januar 2005 im Irak befassen. Das Endergebnis wurde am 13. Februar verkündet (siehe: "Schiitenpartei Vereinigte Irakische Allianz mit 48 Prozent klarer Wahlsieger").
Zwei Kommentare, der eine von Karl Grobe, der andere von Sabine Kebir, wurden bereits vor diesem Endergebnis geschrieben. Die anderen - einschließlich des folgenden kurzen Kommentars von Karl Grobe - wurden in Kenntnis des Endergebnisses verfasst. Das Ergebnis selbst brachte indessen kaum Überraschungen, zumal Teilergebnisse bereits vorher bekannt gegeben worden waren.


Wir beginnen mit der Frankfurter Rundschau, die den Wahlausgang mit gehöriger Skepsis sieht. Karl Grobe schreibt unter dem Titel "Klares Votum":

Der Wahlsieg der Vereinigten Irakischen Allianz ist eine Vorentscheidung über die Verfassung, die die neue Nationalversammlung jetzt schreiben muss. Unter der Autorität des Großayatollah Ali al-Sistani fasst die Allianz mehr als zwanzig Parteien zusammen, von denen zwei, die alte Widerstandspartei ad-Dawa und die früher von Teheran aus wirkende Sciri, bisher scharf miteinander konkurrierten. Sie vertreten - mit mehr als nur nebensächlichen Unterschieden - eine schiitische Tendenz, die eine unmittelbare Einmischung in die Staatsgeschäfte ablehnt, aber keinen Zweifel lässt, dass der künftige Staat ein islamischer sein solle. Von der Zusammenarbeit der Allianz mit der Kurdenliste hängt es ab, wie der irakische Staat aussehen wird.
Dagegen steht der Niedergang der Irakischen Liste. Die Unterstützer des Übergang-Premiers Iyad Allawi galten als Befürworter eines säkularen Staats und heimliche Favoriten der US-Verwaltung. Sie haben knapp 14 Prozent bekommen. Ein deutliches Votum.
Rund 60 Prozent der Berechtigten hatten sich als Wähler registrieren lassen, doch nur ein Drittel der Berechtigten gab auch tatsächlich die Stimme ab. Die anderen sind nicht sämtlich sunnitische oder baathistische Unbelehrbare. Doch die radikale Opposition wird diese Zahl für wichtiger halten als die Stärke der Parteien.

Aus: Frankfurter Rundschau, 14. Februar 2005

Zuversichtlich gibt sich dagegen der Kommentator Clemens Wergin im Berliner "Tagesspiegel". Selbst die schlappen 13 Prozent für die Liste des Interims-Ministerpräsidenten Allawi gelten ihm als "respektables" Ergebnis. Auch ist ihm um die Zukunft nicht bang:

(...) Die Sitzverteilung im neuen Übergangsparlament ist ein Spiegel der Herausforderungen, die der nun zu formierenden Regierung bevorstehen. Nur etwa zwei Prozent votierten für sunnitische Parteien, in der Unruheprovinz Anbar gingen gar nur etwa zwei Prozent der Bürger zur Wahl. Neben der Bekämpfung der Terroristen, die weiter fast jeden Tag durch Anschläge auf sich aufmerksam machen, sind die nationale Aussöhnung mit den Sunniten und deren Integration in das politische System die wichtigste Aufgabe.
In den letzten Wochen zeichnete sich schon ab, dass manche der sunnitischen Gruppen, die noch zum Boykott der Wahlen aufgerufen hatten, nun bereit sind, in Verhandlungen über eine politische Beteiligung zu treten. Sie haben gesehen, dass ihre Rechnung nicht aufgegangen ist, eine Mehrheit der Iraker von den Urnen fernzuhalten. Und die meisten Sunniten wissen, dass sie sich jetzt in Stellung bringen müssen, wenn sie sich bei den nächsten Wahlen Ende des Jahres einen Teil des Kuchens sichern wollen.
Die Wahlsieger haben auch selbst ein Interesse daran, sich intensiv um die Sunniten zu bemühen. Nicht zuletzt deshalb, weil die nun zu schreibende Verfassung nur dann als angenommen gilt, wenn mindestens 16 der 18 Provinzen zustimmen. Diese eigentlich auf die Kurden gemünzte Regel gibt auch den Sunniten eine Sperrminorität – und eine starke Verhandlungsbasis.
Auch al Sistani weiß, dass es nicht im Interesse der Schiiten ist, die anderen Gruppen auszuschließen. Der Irak hat keine homogene schiitische Bevölkerung wie Iran. Jede schiitisch geprägte Regierung ist im Irak also gut beraten, nicht durch Ausgrenzung einen Bürgerkrieg zu entfachen. Dass al Sistani die Schiiten davon abgehalten hat, gegen sie gerichtete, zum Teil verheerende Attentate zu erwidern, zeigt, dass der alte Mann sich dieser Gefahr durchaus bewusst ist.
Das kommende Jahr wird darüber entscheiden, welchen Weg Staat und Gesellschaft im Irak in Zukunft gehen. Bis zum 15. Oktober muss die nun gewählte Übergangsregierung den Wählern eine neue Verfassung zur Abstimmung vorlegen. Nach den dort festgelegten Regeln soll dann erneut gewählt werden, damit die erste ordentliche Regierung spätestens zum Jahresende die Geschäfte aufnehmen kann. Ob es so kommen wird und ob die Iraker die Extremisten erfolgreich bekämpfen können, ist offen. Aber diese Wahl war zumindest ein guter Start.

Aus: Der Tagesspiegel, 14. Februar 2005

Vorsichtiger argumentiert die "Neue Zürcher Zeitung" und lenkt die Aufmerksamkeit auf die künftige Verfassungsdiskussion:

(...) Wie der neue Irak aussehen wird, entscheidet sich vor allem beim Entwurf der neuen Verfassung, den die Nationalversammlung bis Mitte August vorlegen muss. Dabei werden sich die Abgeordneten zwischen so gegensätzlichen Modellen wie säkulare oder islamische Republik, zentralistischer oder föderaler Staat entscheiden müssen. In diesen Fragen liegt beträchtlicher Zündstoff, den es durch ausgewogene Kompromisse zu entschärfen gilt. So werden die Kurden auf grösstmöglicher Autonomie beharren, während die Schiiten ihre demographische Mehrheit als politische Stärke in einem Einheitsstaat am besten ausspielen können. Beide Ansprüche bringen nicht nur das Zusammenleben der Iraker selbst, sondern auch die Beziehungen des Iraks mit den Nachbarn in Gefahr.
Auf die Perspektive kurdischer Selbstbestimmung reagiert die Türkei mit unverhohlener Aggressivität, während die Aussicht auf eine schiitische Dominanz bei den arabischen Nachbarn auf Ablehnung stösst. Wollen Kurden und Schiiten die innere Stabilität und die äusseren Beziehungen auf eine gesunde Grundlage stellen, müssen sie unter sich und mit den Sunniten einen tragfähigen Kompromiss suchen.
Die starke religiöse Komponente im Selbstverständnis der siegreichen schiitischen Parteien, aber auch das beträchtliche Gewicht, das die Vereinigung der Geistlichen bei den Sunniten hat, lassen erwarten, dass der Islam in der künftigen Verfassung eine bedeutende Stellung einnehmen wird. Dass eine «Herrschaft des Gottesgelehrten» nach iranischem Muster entsteht, scheint allerdings unwahrscheinlich. Für Kurden und Sunniten wäre sie unannehmbar; auch die Sprecher der aus dem iranischen Exil heimgekehrten schiitischen Parteien versichern, das iranische Modell sei auf den Irak nicht anwendbar. Zudem lehnt Ayatollah Sistani, die graue Eminenz der irakischen Schiiten, den direkten Eingriff der Geistlichkeit in die Politik ab.
Der Druck, islamisches Zivilrecht und traditionelle Moralvorstellungen in die neue Gesetzesordnung zu übernehmen, könnte aber die rechtliche Stellung der Frauen und die persönlichen Freiheiten des Einzelnen in Gefahr bringen. Wie stark die liberalen und progressiven Kräfte in der Nationalversammlung sind, lässt sich heute kaum abschätzen. Den Säkularisten, den Verfechtern der Menschen- und Frauenrechte sowie den Anwälten eines toleranten Islams dürften aber einige schwierige Auseinandersetzungen bevorstehen.

Aus: Neue Zürcher Zeitung (Online-Ausgabe), 13. Februar 2005

Brian Whitaker widmet sich im britischen "Guardian" dem Schicksal des Interims-Ministerpräsidenten Allawi, der trotz seines Amtsbonus' und viel Geld enttäuschende 14 Prozent eingefahren hat. ("Shunned prime minister Allawi becomes outsider"):

(...) Although Allawi has had some opportunities to play the role of world statesman, such as playing host to Tony Blair in Baghdad and addressing Congress, he seems to have been unable to translate that into electoral success.
His campaign, on which he reportedly spent $4m (£2.14m), was one of the slickest. Despite security problems, he managed to do some campaigning around the country and offered traditional inducements to voters, such as promising to create 250,000 jobs in Baghdad. More controversially, his campaign sent food baskets to Baghdad's poor (with a political message attached) and handed out gifts and cash to Iraqi journalists.
(...)
Since becoming caretaker prime minister he has cultivated a tough-guy image - Saddam without the moustache, as some Iraqis refer to him. His backing for military offensives against rebellious cities has won him credit in some places, but others note how much he has had to rely on the Americans and how his approach has not brought the country any closer to stability.
His brief tenure has also put Iraq on familiar ground in other areas, with a recent report by Human Rights Watch accusing the new Iraqi police of systematic torture.
But Mr Allawi's secularism appeals to Iraqis who fear attempts to impose strict Islamic rules, either by militant Sunnis or the majority Shias.

Monday February 14, 2005, The Guardian

Irakische Interessen

VON KARL GROBE

Der Vizepräsident der USA, Richard Cheney, entrichtet den irakischen Wahlsiegern seinen Tribut. Die neue Ordnung im Lande, teilte er am Sonntag dem Fernsehpublikum mit, werde nicht so sein wie die der Vereinigten Staaten. Gegen eine starke islamische Prägung der Verfassung, welche die neue Nationalversammlung mit ihrer wahrscheinlich überwältigenden schiitischen Mehrheit schreiben wird, hat er nichts einzuwenden.

Das ist erstaunlich. Präsident Bush (Vater) hat den Volksaufstand im Süden Iraks im Stich gelassen, weil die Schiiten Agenten Teherans seien. Präsident Bush (Sohn) und sein Vize Cheney haben die westgeprägte Demokratisierung Iraks zum Leitmotiv gemacht, nachdem die anderen Kriegsgründe - Massenvernichtungswaffen, Terroristenförderung, akute Gefahr für Amerika - sich in ein blasses Nichts aufgelöst haben. Hinzunehmen ist jetzt also ein auf der Scharia basierendes Rechtssystem, das Frauen mindere Rechte einräumt und den Wünschen des säkularen Sektors der irakischen Gesellschaft widerspricht. Man mag das als Verbeugung vor dem Wahlergebnis betrachten; doch es ist wieder ein opportunistisches Hakenschlagen.

Der Hase läuft anders, als das offizielle Washington glaubte. Vorausgesetzt, der Einfluss der von Großayatollah Ali al-Sistani verkörperten schiitischen Richtung setzt sich durch: Dann wird Irak eben kein Gottesstaat iranischer Art, und nicht die Ayatollahs werden unmittelbar und unanfechtbar regieren. Die Herren in Teheran beunruhigt diese Aussicht. Also böte der Rückfall hinter die laizistischen, säkularen Traditionen der irakischen Städte dennoch eine Art Gegenmodell zur iranischen Theokratie.

Die größeren Anteile an der faktischen Macht bleiben freilich in US-Hand. Botschafter John Negroponte, ein mit allen Wassern der Konterguerilla gewaschener Spezialist für "Kriege geringer Intensität", wird aus der Grünen Zone von Bagdad heraus stärker wirken können als die irakische Regierung. Über 100 000 US-Soldaten werden in Irak bleiben, bis - so Verteidigungsminister Donald Rumsfeld - die Bagdader Regierung genügend Truppen hat, sich zu verteidigen. Ihre Militärstützpunkte, bisher vier, werden die USA auf lange Zeit nicht aufgeben. Den ungeschmälerten Zugriff auf die Erdölwirtschaft wird Bagdad nicht erhalten, da Privatisierung angesagt ist, bei der einheimische Interessenten mangels Kapital nicht entscheidend mitbieten können. Und so fort.

Doch wenn die Wahl-Nachfragen nicht ganz in die Irre führen, haben die Wähler den Mut zum Wahlakt gerade auch um der Souveränität willen aufgebracht. Das bedeutet: in der Annahme, die Vormundschaft der Fremden werde bald beendet. Das wahrscheinlich sehr schwache Abschneiden der Liste, die Übergangs-Premier Ijad Allawi für sich gesammelt hatte, hängt auch damit zusammen. Mit dieser Liste aber ist auch die weltlichere Linie abgestraft worden.

Das Überwiegen der zentralistischen, religiös definierten, den Einheitsstaat anstrebenden Allianz im Süden bringt das nächste Problem mit sich. Zweite Kraft dürfte, wenn endlich alles redlich ausgezählt ist, die kurdische werden: autonomistisch, weltlich, föderal. Was sofort zu allerhöchstem Misstrauen der türkischen Regierung führt: Sie fürchtet, kurdische Autonomie werde ausstrahlen. Und wie sich die knappe Hälfte der Wahlberechtigten verhält, die nicht abgestimmt hat, bewusst boykottierte, durch Terror oder Terrorfurcht von den Wahllokalen ferngehalten wurde, ist gar nicht ausgemacht.

Die Sprachregelung, die Sunniten hätten den Machtverlust nicht verschmerzt, trifft nicht den Kern. Nicht "die Sunniten" haben bisher geherrscht, sondern gezielt geförderte Eliten sunnitischer Konfession, die im übrigen Sunniten, Schiiten, Christen und Unreligiöse gleichermaßen unterdrückt haben. Saddam Husseins Machtgehilfen stützten ihre Diktatur ja nicht auf Menschen eines bestimmten Bekenntnisses, sondern auf den geheimdienstlichen Repressionsapparat, den eine kleine Gruppe von Clanführern beherrschte - worunter übrigens auch Schiiten waren. Den antidiktatorischen, demokratischen Impuls gegen die Sunniten schlechthin zu lenken hat die ethno-religiösen Konflikte erst verschärft. Den Anheizern des terroristischen Widerstands kommt das zupass.

Das notwendige Werk nationaler Versöhnung, das erst die Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung schaffen kann, ist schwierig genug. Opportunismus à la Cheney ist das alles andere als hilfreich. Freilich, er vertritt die Interessen der USA und nicht die Iraks.

Aus: Frankfurter Rundschau, 8. Februar 2005

Spaltung

Kalkuliert Bushs Angebot zu einem möglichen Truppenabzug mit einem Zerfall des Landes?

Von Sabine Kebir*


Als "erste freie Wahl seit 50 Jahren" wurde das Votum im Westen gepriesen, als ob es unter der Mandatsmacht Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts je freie Wahlen für die Iraker gegeben hätte. Manche Journalisten verstiegen sich gar zu dem Urteil, die Abstimmung sei ein wegweisendes Ereignis für eine ganze Region. Schnell bei der Hand war man mit der Behauptung, dass 70 Prozent ihre Stimme abgaben - eine Zahl, die schließlich auf 60 Prozent korrigiert wurde, obwohl ein genaues Wahlergebnis erst zehn Tage nach dem 30. Januar vorliegen soll.

Die mediale Maschinerie des Westens war nicht willens oder fähig, ein einziges konkretes Programm, geschweige denn konkurrierende Programme der über 111 Parteien zu referieren oder gar zu analysieren. Manche Kandidaten waren ohnehin nur als Nummern auf den Wahllisten präsent - manche hatten sich nirgendwo öffentlich vorgestellt.

Als Hauptrivalen erschienen stets die zwei größten, von Schiiten geführten Gruppierungen - die Irakische Liste des vom Westen favorisierten Ministerpräsidenten Ijad Allawi und das religiös gefärbte Bündnis der Vereinigten Irakischen Allianz, hinter der zwar nicht als Kandidat, aber als Mentor der schiitische Großayatolla al-Sistani steht. Zu dieser Koalition gehören - wenig überraschend - auch Anhänger von Muqtada al-Sadr, der im Mai 2004 den schiitischen Aufstand gegen die Besatzer im Süden geführt hatte. Ein Teil der in Bagdad lebenden Parteigänger al-Sadrs konnten allerdings dem sunnitischen Wahlboykott einiges abgewinnen. Diese Schiiten wollten nicht wählen, solange das Land besetzt ist.

Allein der Wahlboykott im "sunnitischen Dreieck" scheint der Weltöffentlichkeit bislang der einzige Vorgang von zukunftsweisender Bedeutung zu sein. Schälen sich damit die Konturen eines ethnisch und religiös gespaltenen Landes heraus? Nur höchst vorsichtig erklärten Kenner, diese ethnischen und religiösen Demarkationslinien hätten - ähnlich wie im ehemaligen Jugoslawien - im Irak Saddam Husseins an Bedeutung verloren. Seit dem Krieg und mit der Besatzungszeit sei das wieder anders. Einen gespalteten Irak - so behaupten sowohl die zur Wahl angetretenen Kräfte als auch die Besatzer - wolle niemand wirklich. Ob die jetzt in Angriff genommene neue Verfassung dazu führen wird, das Land zusammenzuhalten, ist jedoch fraglich.

Nachdem eine Woche vor den Wahlen die Niederlande bekannt gegeben hatten, das Mandat für ihr Irak-Korps nicht zu verlängern, verkündeten überraschenderweise auch Präsident Bush und Premier Blair als eine Art Wahlgeschenk, dass ihre Truppen ebenfalls in absehbarer Zeit abziehen könnten, angeblich schon in anderthalb Jahren. Obwohl dies die bedeutungsvollste Nachricht am Tage der Irak-Wahl war, schien kaum jemand imstande oder willens, sie zu interpretieren. Bisher sorgte stets "die Sicherheitslage" dafür, dass schon der Gedanke an Rückzug abwegig schien. Da sich in dieser Hinsicht nichts zum Besseren gewendet hat, muss nach anderen Gründen für die Bush-Blair-Offerte gefragt werden. Einerseits scheinen sowohl die materiellen als auch die moralischen Kosten des Krieges ein Ausmaß erreicht zu haben, das selbst in den Augen Bushs höchst gefährlich zu werden verspricht. Andererseits mag er glauben, seinem eigentlichen Kriegsziel tatsächlich näher gerückt zu sein. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine Sezession der Kurdengebiete im Norden bereits in den zwölf Jahren nach dem Irak-Krieg von 1991 vorbereitet wurde, dann deutet vieles daraufhin, wie sehr der Irak um seine Integrität fürchten muss. Für Bush wäre ein zerfallender Staat auf jeden Fall beherrschbarer, auch wenn die politischen Risiken eines solches Szenarios - man bedenke nur, was die Türkei gegen einen Kurdenstaat alles unternehmen würde - kaum zu kalkulieren sind. Von der bevorstehenden Vertreibung Zehntausender arabischer Bewohner aus dem Raum um Kirkuk und Mossul wird schon heute wie von einer sicheren Perspektive gesprochen.

Auch die Errichtung eines stärker religiös geprägten Schiitenstaates im Süden würde Amerikaner und Briten temporär entlasten. Für die dort ansässige Bevölkerung wäre eine solche Entwicklung ein erheblicher zivilisatorischer Rückschritt - selbst dann, wenn es sich um ein weniger fundamentalistisches Gebilde handeln sollte als der Iran eines ist. Warum eigentlich sollte eine Spaltung des Irak den USA nicht behilflich sein, sich als "Schutzmacht" für eine ganze Region empfehlen zu können, ohne Besatzungsmacht an Euphrat und Tigris bleiben zu müssen?

* Aus: Freitag 05, 4. Februar 2005


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