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Bagdads Bürger bilden Wehren

Neue Polizei kann die Sicherheit der Bevölkerung nicht garantieren

Von Karin Leukefeld*

Mehr als 240 Fälle von Misshandlungen an Frauen durch die neuen irakischen Streitkräfte und die Besatzungstruppen hat die Irakische Frauenrechtsorganisation (WAR) seit Juli 2005 registriert. Besonders gefährdet seien Frauen bei Militärrazzien, erklärte die Sprecherin der Organisation, Sarah Muthulak, gegenüber dem UN-Informationsdienst IRIN.

Rasha Obeid, eine 25-jährige Frau, erinnert sich an ihre Festnahme: »Ich schrie sie an und sagte, niemand solle es wagen, mich anzufassen. Doch im Gefängnis beleidigten mich die Armeeangehörigen, sie beschimpften mich und berührten mich in unanständiger Weise.« »Wir untersuchen solche Vorwürfe«, behauptet Hassan Jaffar vom Innenministerium. »Aber ich garantiere, dass unsere Offiziere sich so nicht verhalten.« Viele Frauen hätten die angeblichen Misshandlungen »erfunden«, glaubt Jaffar, der regierungsunabhängigen Organisationen vorwirft, die Sache aufzubauschen.

Es sind indes nicht nur Frauenorganisationen, die Polizei und irakischer Armee Fehlverhalten vorwerfen. Bewohner verschiedener Stadtteile Bagdads haben Bürgerwehren aufgebaut. Denn Raubüberfälle, Entführungen und Diebstähle werden in den wenigsten Fällen aufgeklärt oder auch nur untersucht. Das Innenministerium berichtet nicht so gern, dass sogar gegen das eigene Personal wegen Straftaten ermittelt wird. Vielmehr beklagt sich Ministeriumssprecher General Adnan Abdul-Rahman, die Polizei sei selbst Opfer von Überfällen. Täglich gebe es mindestens einen Angriff, Hunderte von Polizisten hätten deswegen ihren Job wieder aufgegeben.

Zu Zeiten Saddam Husseins gab es landesweit rund 76.000 Polizisten. Die wurden von der USABesatzungsbehörde entlassen. Dem Innenministerium zufolge soll es – auch dank Ausbildungshilfe der EU – inzwischen wieder mehr als 82 000 Polizisten geben. Nach nur zweimonatiger Ausbildung werden sie in den Dienst entlassen und erhalten ein Monatsgehalt von rund 200 US-Dollar. Wegen der hohen Zahl an Beamten, die dem Dienst fernbleiben, ist es für die Polizei allerdings unmöglich, ständig für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Örtliche Sicherheitskomitees seien dennoch unakzeptabel, sagt Adnan Abdul-Rahman.

Die Männer der Bürgermilizen sehen das anders: »Wir hatten die Wahl, ob wir auf die Räuber warten, bis sie in unsere Häuser kommen, oder ob wir auf den Straßen Präsenz zeigen und uns selber schützen«, erklärt Ahmed Salam aus dem Stadtteil Hay al-Adel. Dort und in sechs weiteren Vierteln Bagdads haben sich Sicherheitskomitees gebildet, die mit jeweils 50 Freiwilligen den Schutz der Bevölkerung organisieren.

Die Männer arbeiten rund um die Uhr in drei Schichten zu acht Stunden. Ausgerüstet sind sie mit Kalaschnikows und einfachen Pistolen, die überall auf dem Schwarzmarkt erhältlich sind. Sie errichten stets wechselnde Straßensperren, wo sie Autos anhalten, Ausweise der Insassen und die Fahrzeuge kontrollieren.

Die Entscheidung, solche »Bürgerwehren« zu bilden, wurde konfessionsübergreifend von sunnitischen, schiitischen und christlichen Geistlichen getroffen. »Wenn man seine Familie beschützen will, gibt es keine religiösen Unterschiede«, sagt Hassan Baduk, der ein solches Sicherheitskomitee im Bezirk Hay Jamia'a leitet. »Es ist sehr selten, dass wir hier mal ein Polizeiauto sehen«, berichtet Baduk. »Und wenn eines kommt, dann fährt es so schnell, dass wir es gar nicht anhalten können, um sie um Hilfe zu bitten.«

* Aus: Neues Deutschland, 22.02.2006


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