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Rückzug aushandeln

Täglich werden die Besatzungskräfte im Irak angegriffen, es gibt für sie keinen Ausweg, es sei denn, sie gehen endlich nach Hause

Von Haifa Zangana *

Die US-Politik im Irak funktioniert nicht, und George W. Bush sollte einen radikalen Wechsel in Erwägung ziehen. Das jedenfalls schlägt ihm ein Beratergremium vor, das derzeit nach politischen Möglichkeiten sucht, wie Bush langsam und ohne das Gesicht zu verlieren, die Vereinigten Staaten aus dem Krieg wieder herausholen kann. Zu diesem Gremium »weiser Männer« gehört der alte texanische Republikaner James Baker, dessen Netzwerk von der Westlichen Sahara bis nach Aserbaidschan reicht. Durch die Carlyle Gruppe vertritt er wohl die pragmatischste der »kommerziellen« Rückzugsoptionen der gescheiterten Neokons-Abenteurer. Im Irak beschleunigen sich derweil die Ereignisse, sowohl was den Widerstand betrifft als auch an der politischen Front.

Das Ganze erinnert an Ereignisse vor 40 Jahren. Im Spätjuli 1965 wollte US-Präsident Lyndon B. Johnson von seinen Beratern wissen, wie es um die Zukunft der amerikanischen Truppen in Vietnam bestellt sei. Man teilte ihm mit, daß die Lage schlechter sei als im Jahr zuvor. Die Vietnamesen im Süden machten keine Fortschritte und die Vietnamesen im Norden weigerten sich, zu seinen Bedingungen zu verhandeln. Der Gedanke, noch mehr Truppen dorthin zu schicken, deprimierte ihn. Einer der Berater, Unterstaatssekretär George Ball, war dagegen, den Krieg weiter zu eskalieren. Er sagte zu Johnson: »Es gibt keine Garantie dafür, daß wir unsere Ziele mit einer Aufstockung der US-Truppen in Südvietnam erreichen.« Ball war der Meinung, es sei die letzte Chance für die USA, Vietnam zu verlassen. Obwohl Johnson wußte, daß er diesem Rat hätte folgen sollen, entschied er sich dafür, seine Linie beizubehalten. Erst zehn Jahre später zogen die USA ihre Soldaten aus Vietnam zurück. Drei Millionen Vietnamesen wurden getötet, 15 Millionen wurden vertrieben, mehr als eine Million flohen, die Infrastruktur war zerstört, 58000 Amerikaner waren getötet und weit mehr verletzt.

Das Gleiche passiert heute im besetzten Irak. In einer kürzlich in The Lancet veröffentlichten Studie der Bloomberg-Schule für öffentliche Gesundheit an der John Hopkins Universität heißt es, daß seit der von den USA geführten Invasion im März 2003 vermutlich insgesamt 654965 Iraker – ungefähr einer von 40 – gewaltsam ums Leben kamen. Kein Akademiker und kein Statistiker haben die Methode und die Schlußfolgerungen der Studie in Frage gestellt. Doch die Regierung Nuri Al Malikis mußte sofort den Bericht und die Schlußfolgerungen anzweifeln. Während die irakischen Leichenhallen, die Krankenhäuser und die Straßen Zeugen des täglichen Blutbades sind, kritisierte Regierungssprecher Ali Al Dabagh schamlos aus der gut geschützten »Grünen Zone« heraus die »Methode« der Studie.

Die Realität: Tausende werden vertrieben. Gefolterte, verstümmelte, verbrannte Leichen tauchen überall auf. Namenlos und ohne Ende werden junge und alte Menschen gefunden, getötet durch einen Kopfschuß. Die Leichen stapeln sich auf den Straßen, werden auf Müllkippen abgeladen oder in die Flüsse geworfen. Der Tigris, das Herz Bagdads, schreit voller Schrecken über die Leichen, die den Fluß hinabtreiben, bis sie in einem der Netze bei Suwaira, südlich von Bagdad, hängen bleiben. Die Stadt weint über die Toten, um die sich niemand zu kümmern wagt. Der geplante Abstieg in die Hölle vollzieht sich so schnell, daß keine Fatwa ihn aufhalten kann.

Inzwischen ist es so, daß Besatzungstruppen, Milizen, Sicherheitskräfte, Söldner und Unternehmer Straffreiheit vor dem irakischen Gesetz genießen. Es ist in der Tat so, daß das irakische Gesetz, das einst zum Schutz der irakischen Bürger da war, heute zahnlos ist und die Bürgerrechte der Iraker nicht gewährleisten kann. Kein Wunder, wenn die Unterstützung für den nationalen Volkswiderstand zunimmt und die meisten Iraker sich freuen, wenn Angriffe auf die Besatzungstruppen erfolgreich sind.

Im zurückliegenden Jahr hat sich das sogenannte sunnitische Dreieck entgegen jeder geometrischen Definition ausgeweitet. Im Norden, im Zentrum und im Süden des Landes gab es täglich Angriffe auf die Besatzungstruppen und ihre Lager. In manchen Berichten heißt es, die USA versuchen, die hohen Verluste an Soldaten ebenso zu verschleiern, wie die Zerstörung von militärischem Gerät auf ihrer Hauptbasis Al Sakr (Falcon), südlich von Bagdad. Der Schaden, der kürzlich durch den Dauerbeschuß von Raketen und Mörsergranaten auf ihr zentrales Munitionslager angerichtet wurde, soll mehr als eine Milliarde US-Dollar betragen. Der Angriff erleuchtete Bagdad taghell und Bombensplitter der zerstörten Munition verteilte sich in einem Umkreis von 20 Kilometern.

Die Neokonservativen sind gescheitert. Zwei Drittel der Amerikaner lehnen den Irak-Krieg mittlerweile ab. Bei den Besetzten wächst die Unterstützung für den Widerstand. Ein Team der Maryland Universität führte im Oktober eine Umfrage durch. Sie zeigt, wie sehr sich die Haltung der Iraker gegenüber der Besatzung in allen Provinzen verhärtet. 78 Prozent der Befragten aus allen 18 Provinzen sagen heute, daß die Anwesenheit der US-Truppen der Hauptgrund für den Aderlaß ist. 60 Prozent davon haben gegenüber den Befragern offen zugegeben, daß sie die Angriffe auf die Besatzungstruppen unterstützen.

Die US-Regierung ist frustriert darüber, daß die Maliki-Regierung unfähig ist, Fortschritte zu machen. General George Casey, Oberkommandeur der US-Truppen im Irak, zeigte sich ernsthaft besorgt über die Fähigkeit der irakischen Sicherheitskräfte, im Kampf mit den »Aufständischen« zu bestehen. Die Sorge ist berechtigt, wenn diese von 60 Prozent der Iraker unterstützt werden.

Wie schon in Vietnam, Algerien und Südafrika gibt es nur eine Option für die Besatzungskräfte im Irak: Sie müssen mit dem Widerstand ihren Rückzug aushandeln. Es gibt Anzeichen dafür, daß das bereits geschieht. Doch die USA hielten die Vietnamesen über Jahre hin, bevor sie sich endlich zurückzogen. Wollen wir hoffen, daß sie aus dieser Erfahrung lernen und bald die Konsequenzen ziehen.

* Haifa Zangana ist irakische Schriftstellerin und war Gefangene unter dem Regime von Saddam Hussein.

(Übersetzung aus dem Englischen: Karin Leukefeld)
Der Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung Al Ahram.

Aus: junge Welt, 11. November 2006



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