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Verfall der Zivilisation

Seit dem Überfall der USA am 20. März 2003 fanden etwa 1,5 Millionen Iraker einen gewaltsamen Tod. Durch konstruierte religiöse Auseinandersetzungen und die kriegsverpesteten Landschaften ist der Alltag ein Überlebenskampf geworden

Von Karin Leukefeld *

»Ich habe immer davon geträumt, ein Arzt zu werden oder ein Architekt, aber die Umstände haben dazu geführt, daß nichts daraus wurde«, erzählt Wissam Jamal Jabbar Mitte März einem Journalisten in Bagdad. »Heute arbeite ich, um meine Familie und meine Eltern zu unterstützen, das ist aus mir geworden«. Wissam ist 23 Jahre alt und hat ein kleines Café im Zentrum von Bagdad. Hier trinken die Männer Tee, Kaffee, Saft, rauchen eine Zigarette nach der anderen, sehen Fernsehen und spielen Billard. Nachdem die USA und Großbritannien vor zehn Jahren mit der Operation »Iraqi Freedom« am 20. März 2003 seine Heimat überfallen und von da an besetzt hatten, habe er keine Chance mehr für ein Studium gehabt. »Es war, als wenn etwas in mir zerbricht«, beschreibt er die letzten zehn Jahre, die seine Träume zunichte machten.

Die Generation der 20- bis 30jährigen wurde während der US-Besatzung erwachsen. Bewußt und voller Angst erlebten sie den Krieg und den Einmarsch von fremden Soldaten aus 39 Ländern, wie Yasmine, eine 25jährige Angestellte des Ministeriums für Sport und Jugend einem AFP-Reporter in Bagdad erzählt. Sie erinnere sich gut an die Bomben, die knapp drei Wochen lang auf Bagdad niedergingen. Mit Eltern und Schwestern saß sie damals in einem Raum in der Wohnung zusammen und betete. Jederzeit erwarteten sie ihr Ende. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Bagdad habe eine chaotische Phase begonnen. Das sei »die schwerste Zeit« gewesen, sagt Yasmine. »Es gab kein Gesetz, keine Sicherheit, nichts, nur die Besatzung. Es war, als sei das Leben verschwunden.« Vor der Besatzung habe sie davon geträumt, eine gute Ausbildung zu machen und sich eine Zukunft in ihrer Heimat aufzubauen. Sie wollte helfen, den Irak zu entwickeln, der seit 13 Jahren durch UN-Sanktionen seine Unabhängigkeit verloren und international isoliert worden war. Heute wolle sie nur noch das Land verlassen, um irgendwo Sicherheit und Stabilität zu finden, nur noch weg »aus diesen erbärmlichen Zuständen.«

Folter statt Menschenrechte

Internationale Hilfsorganisationen nennen in vielen Stellungnahmen und Berichten zum zehnten Jahrestag der Invasion die »erbärmlichen Zustände« beim Namen. Amnesty International (AI) veröffentlichte einen düsteren Bericht über die Lage der Menschenrechte im Zweistromland. Angriffe auf Zivilisten, Folter von Gefangenen und unfaire Gerichtsverfahren seien an der Tagesordnung. Während des vergangenen Jahrzehnts hätten sich sowohl die ausländischen Besatzungstruppen als auch staatliche Polizei- und Sicherheitskräfte systematisch an Menschen vergangen. In der Studie mit dem Titel »Ein Jahrzehnt der Menschenrechtsverletzungen« (www.amnesty.de) werden Beispiele für geheime Gefängnisse und Folter aufgelistet, für die von den Besatzungstruppen vor allem die USA und Großbritannien verantwortlich gemacht werden. Viele Iraker erfreuten sich zwar heute größerer Freiheiten als unter der Herrschaft von Saddam Hussein, sagt Hassiba Hadj Sahraoui, Leiterin der Abteilung für den Mittleren Osten und Nordafrika bei AI. »Aber die fundamentalen Menschenrechte, die man eigentlich hätte erreichen sollen, sind bis heute nicht zu sehen.« Weder die Besatzungsmächte noch die verschiedenen irakischen Regierungen und Übergangsräte hätten sich an »die Standards des Völkerrechts gehalten«. Fast vom ersten Tag an hätten die Besatzungstruppen gefoltert. Namen wie »Abu Ghraib« haben sich den Irakern in das Gedächtnis gebrannt. Anfang März begann in London eine öffentliche Untersuchung gegen Angehörige der britischen Streitkräfte. Ihnen wird vorgeworfen im Mai 2004 mindestens 20 irakische Zivilgefangene in Basra und Al-Amarah ermordet zu haben.

Die Todesstrafe, die für kurze Zeit nach der Invasion 2003 ausgesetzt worden war, wurde 2004 erneut eingeführt. Hinrichtungen begannen sofort, darunter auch die Strangulierung des früheren Präsidenten Saddam Hussein nach einem zweifelhaften Gerichtsverfahren. Mindestens 447 Gefangene wurden seitdem getötet, allein im Jahr 2012 sind 129 gehängt worden. Der ehemalige Außenminister Iraks, Tariq Aziz, sitzt ebenfalls in der Todeszelle. Häufig basieren die Todesurteile auf Geständnissen, die unter Folter entstanden. In Sachen Hinrichtungen steht der Irak weltweit an vierter Stelle.

Nach Angaben des stellvertretenden Ministerpräsidenten Hussein Al-Scharistani soll es derzeit rund 30000 Gefangene im Irak geben. Viele von ihnen gelten als Oppositionelle zur amtierenden Regierung von Nuri Al-Maliki von der islamischen Da’wa-Partei. Der Protest, der sich vielfach gegen die politische Ausgrenzung bestimmter Regionen und Personen richtet, wird immer mehr von Extremisten angeheizt. Sie werfen dem Ministerpräsidenten eine »Vernichtungspolitik« gegen die Sunniten vor. Maliki selbst gehört der religiösen Gruppe der schiitischen Muslime an, gilt allerdings weniger als Extremist denn als irakischer Nationalist. Zweifelsohne ist er in einen undurchsichtigen Machtkampf mit dem Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi verstrickt, dem er die Bildung von paramilitärischen Truppen und politische Morde vorwirft. Al-Hashimi ist Generalsekretär der Irakischen Islamischen Partei, die in Opposition zu Al-Maliki steht. Al-Hashimi, der heute in der Türkei lebt, beschuldigte Al-Maliki, einen »Vernichtungsfeldzug gegen die irakischen Sunniten« zu führen. In einem Schnellverfahren wurde er im September 2012 in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

Inzwischen greifen sunnitische Extremisten schiitische Zivilisten, deren Wohnviertel und religiösen Stätten an, der politische Konflikt eskaliert auf religiöser Ebene. Angeheizt wird die Lage durch den Krieg in Syrien, in den Al-Qaida-Gruppen aus dem Irak und andere Gotteskrieger aktiv involviert sind. Die sunnitische Organisation »Islamischer Staat im Irak« rief im Februar 2013 die sunnitische Bevölkerung offen dazu auf, die Waffen gegen die Regierung in Bagdad zu richten, die von Schiiten geführt werde. Zwischen Oktober und Dezember 2012 habe man 82 Angriffe auf die staatlichen Sicherheitskräfte geführt, sagte Abu Mohammed Al-Adnani, der Sprecher von »Islamischer Staat im Irak« in seiner Botschaft. Man könne die »Ehre nicht ohne Blutvergießen« zurückerlangen.

In den kurdischen Autonomiegebieten im Nord­irak kommt es zwar weniger zu Anschlägen und Morden, dennoch ist auch dort die Menschenrechtslage alles andere als in Ordnung, heißt es in dem AI-Bericht. Die beiden kurdischen Familienclans hätten mit ihren Parteien das Gebiet fest im Griff: Der Barzani-Clan stellt den Präsidenten und Ministerpräsidenten der Autonomiegebiete, der Talabani-Clan hat mit Dschelal Talabani das repräsentative Amt des Staatspräsidenten übernommen. Auch aus den kurdischen Gebieten wird über Mißhandlungen in den Gefängnissen berichtet, zudem setzt die Autonomieregierung immer wieder Journalisten und Medien unter Druck, die kritisch über den Barzani-Clan und dessen Politik berichten.

Hoffnungsloser Kreislauf

»Die Bevölkerung leidet unter der schweren Last von Jahrzehnten des Konflikts«, überschreibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine Stellungnahme zum zehnten Jahrestag der Invasion. Öffentliche Versorgung und Infrastruktur funktionieren kaum, die Armut ist groß. Mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren – wobei 38 Prozent der irakischen Bevölkerung jünger als 14 Jahre ist – bezahlt vor allem die Jugend den Preis von drei kriegerischen Jahrzehnten: 1980–1988 Iran-Irak-Krieg; 1990/91 Beginn der 13 Jahre währenden UN-Sanktionen wegen der irakischen Invasion in Kuwait und die US-Operation »Desert Shield«; von 2003 bis 2011 dann die US-Besatzung. Errungenschaften, die das Land mit den fünftgrößten Ölreserven der Welt seit der Verstaatlichung seiner Ölressourcen (1968/1972) in Wissenschaft, Medizin und Bildung vorzuweisen hatte, sind zerstört.

»Vor allem in ländlichen und umkämpften Gebieten« hätten die Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und sauberem Trinkwasser, betroffen seien neun Prozent der städtischen Bevölkerung und etwa die Hälfte der ländlichen Bevölkerung. Trockenheit und der fallende Wasserstand in Euphrat und Tigris führe zu »chronischem Wassermangel« im Zweistromland, das Flußdelta bei Basra sei versalzen, die gesamte Landwirtschaft des Irak sei schwer geschädigt. Der Irak sei bis heute mit schätzungsweise 25 Millionen Landminen und anderen Kriegsrückständen verseucht, das gelte insbesondere für die Grenzgebiete zum Iran und zur Türkei.

Irak ist das Land, das am stärksten unter den Folgen der uranabgereicherte Munition (DU) zu leiden hat. Sie wurde in den Kriegen von 1991 und 2003 eingesetzt. Sogar während der Besatzungszeit kam sie bei der Belagerung der westlich von Bagdad gelegenen Stadt Falludscha im April 2004 zum Einsatz. 1991, nach dem Iran-Irak-Krieg, fehlten den irakischen Behörden Mittel und Geld, um die Gebiete zu entseuchen und zu entsorgen; das ist auch eine Folge der Sanktionen des UN-Sicherheitsrates. Anfang der Besatzungszeit, 2003, weigerten sich USA und Großbritannien noch immer, den Irakern die Art der eingesetzten DU-Munition offenzulegen und die Orte, an denen sie die Geschosse einsetzten. Mehr als 300 verseuchte Gebiete werden landesweit analysiert und dekontaminiert; »eine große finanzielle Last für die irakische Regierung«. Noch immer gibt es Mißgeburten, wie zuletzt aus Falludscha und noch immer aus den südlichen Provinzen gemeldet wird. Weil Teile von verseuchtem Militärschrott der früheren Kriege aus Unwissenheit im Irak weiter verwertet und verarbeitet wurden, ist das ganze Land betroffen.

Unsicherheit, Krankheit und Arbeitslosigkeit bilden den hoffnungslosen Kreislauf, in dem die Iraker sich heute bewegen. Als Anfang März 2013 nördlich von Basra auf dem Ölfeld »West Qurna 2« ein Aufstand ausbrach, schickte Bagdad Militär. 400 Arbeiter waren durch das Haupttor auf das Gelände gestürmt und forderten Arbeit, doch sie wurden zurückgetrieben. Das bisher nicht entwickelte Ölfeld wird von der russischen Lukoil betrieben, die derzeit neue Förderanlagen installiert. Auch die südkoreanische Firma Samsung ist dort vertreten. Der irakische Ölminister Abdulkarim Al-Luaybi verkündete nun am vergangenen Wochenende, in den nächsten fünf Jahren mehr Geld in den Energiebereich zu investieren. Mit 173 Milliarden US-Dollar sollen die Förderanlagen und Raffinerien erneuert werden, um die Ölförderung auf neun Millionen Barrel pro Tag zu erhöhen und zusätzlich 600 Milliarden Dollar in die irakischen Haushaltskassen zu spülen. Derzeit produziert Irak täglich 3,15 Millionen Barrel, so viel wie vor dem Krieg im Jahr 2002. Der Ölreichtum wird den Menschen vorenthalten. Die Arbeitslosigkeit im Irak liegt offiziell bei zehn Prozent. Das »Babel-Zentrum für Menschenrechte und zivile Entwicklung« geht davon aus, daß 89 Prozent der Männer unter 30 Jahren den Irak verlassen will, um im Ausland Arbeit zu finden.

Gewalt und der zunehmende Einfluß von Religion auf die Politik hat die Lage der Frauen beständig verschlechtert. Zwar verfügt das irakische Parlament über ein Quorum, wonach 25 Prozent der Abgeordneten Frauen sein müssen, ihr realer politischer Einfluß ist aber gering. Die UN-Organisation für Frauen (UNIFEM) wies kürzlich auf die schlechten Lebensbedingungen der irakischen Frauen und ihre Marginalisierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hin. Sie hätten unzureichend Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung und würden auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt. Die Gewalt gegen Frauen habe zugenommen. Die Ausgrenzung von Frauen verschärfe sich durch ein »falsches Verständnis von Tradition, kulturellen und sozialen Werten«, so UNIFEM. In der Gesellschaft, in Institutionen und Behörden fehle es an Kenntnis und Wahrung von Frauenrechten. Die Lage von Frauen in bewaffneten Konflikten, ihre aktive Beteiligung an Friedensverhandlungen, Schlichtung und Wiederaufbau (UN-Sicherheitsratsresolution 1325) wird ignoriert. Irak hat zwar die Internationale Vereinbarung über zivile und politische Rechte ebenso unterzeichnet, wie die Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen (CEDAW), in den vergangenen zehn Jahren hat aber keine der eingesetzten, vorübergehenden oder gewählten Regierungen etwas zu deren Umsetzung beigetragen.

Tausende Familien sind nach Angaben des IKRK noch immer auf der Suche nach vermißten Angehörigen. 1,5 Millionen Witwen wissen nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Die Irakerin Sabiha Obeid Hamza erzählte Anfang März einem Reporter ihre Geschichte: Er traf sie in Bagdad im Ministerium für Menschenrechte. Ihr Ehemann Kerayim Ahmed Abed Aoun war am 13. Juli 2006 von einer Fahrt nach Mahmudiyah nicht zurückgekommen, seitdem ist sie mit ihren sieben Kindern allein. Nur Gott wisse, was ihm widerfahren sei, sagte die Frau, die ihn in Leichenhallen und Massengräbern gesucht, aber nirgends gefunden habe – »weder tot noch lebendig«. Sie hoffe auf Hilfe des Menschenrechtsministeriums, doch dort ist man skeptisch. 16000 Personen sind dort als vermißt gemeldet, die meisten verschwanden in den Jahren zwischen 2006 und 2008, als monatlich bis zu 3000 Menschen ermordet wurden. »Die wirklichen Zahlen könnten höher liegen«, sagt Arkan Thamer Saleh, der im Menschenrechtsministerium die Abteilung für Angehörige von Vermißten leitet. »Es ist viel Zeit vergangen, wir glauben, die meisten von ihnen sind tot.«

Religiöse Konflikte

Eine bemerkenswerte Dokumentation des britischen Guardian und der BBC Arabisch, enthüllte kürzlich die mörderische Rolle des US-amerikanischen »Antiterrorexperten« Oberst James Steele im Irak. Der pensionierte Oberst ist Veteran des Vietnamkrieges, wo er das schmutzige Handwerk der Aufstandsbekämpfung erlernte. In Nicaragua und El Salvador war er in den 1980er Jahren für den Krieg gegen die Guerillabewegungen zuständig. Er organisierte innerhalb der Armeen Todesschwadronen. Mit der Erfahrung aus Mittelamerika – der »El Salvador Option« – wurde Steele 2004/2005 im Irak eingesetzt, wo er – nach dem Vorbild von El Savador – unter US-General David Petraeus den Aufbau von Spezialpolizeikommandos organisierte. Diese paramilitärischen Truppen rekrutierten sich zumindest teilweise aus den Badr-Brigaden, einer im Iran ausgebildeten schiitischen Miliz. Deren Kämpfer waren voller Haß auf Angehörige der ehemaligen Regierung von Saddam Hussein. Nun wurden sie ausgebildet, diejenigen zu stoppen, die gegen die US-geführte Besatzung kämpften. Innerhalb kurzer Zeit entstand eine gefürchtete Sondereinheit von bis zu 15000 Mann. Gesetzlos und mit Wissen der US-Streitkräfte, ließ sie Menschen verschwinden, folterte und ermordete in geheimen Gefängnissen, die über das ganze Land verstreut waren. Steele erstattete direkt dem damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney und Präsident George W. Bush Bericht. Er arbeitete also auf höchsten Befehl.

Die Saat der »El Salvador Option« ging 2006 auf, als die Sprengung der Goldenen Kuppel der Askariya-Moschee in Samara ein furchtbares Blutbad auslöste, dem in den folgenden Jahren Zehntausende Menschen zum Opfer fielen. Bis heute ist unklar, wer für die Sprengung verantwortlich ist, allerdings erfolgte sie vor den Augen der dort eingesetzten paramilitärischen Kommandos, die der »Antiterrorexperte« Steele aufgebaut hatte. Die Todesschwadronen unterhielten in Samara ein großes Quartier, die örtliche Bibliothek war zu einer Folterkammer geworden. Im Mai 2005 hatte der Journalist Peter Maass darüber ausführlich im New York Times Magazine berichtet.

Eine Nation wird zerstört

In seiner Rede zur Nation im Januar 2002 markierte der damalige US-Präsident George W. Bush eine »Achse des Bösen«, auf der er die Staaten Irak, Iran und Nordkorea verortete. Diese Staaten bewaffneten sich, um »den Frieden in der Welt« zu bedrohen, indem sie den »Terrorismus« unterstützten. Um die Darstellung zu untermauern, wurden in den folgenden Wochen und Monaten politisch und medial »Beweise« vorgelegt, die den militärischen Aufmarsch der USA vom Mittelmeer bis zum Persisch-Arabischen Golf rechtfertigten. Der Irak habe Al-Qaida unterstützt und strebe nach Massenvernichtungswaffen, hieß es. Ein vom Bundesnachrichtendienst geführter Agent namens »Curveball« wurde zum Kronzeugen für den Vorwurf der Massenvernichtungswaffen. Bush erklärte den »Krieg gegen den Terrorismus« – nach Afghanistan war der Irak das nächste Ziel.

Alle Vorwürfe gegen den Irak waren falsch. Nie gab es Al-Qaida im Irak, eine Truppe, die vom CIA und Saudi-Arabien zum Kampf gegen die Sowjetarmee in Afghanistan organisiert und finanziert worden war. Der Irak hatte keine Massenvernichtungswaffen, entsprechende Waffenprogramme der 1980er Jahren waren eingestellt worden, wie der irakische Unterhändler Amer Al-Saadi nachdrücklich bewies und wie der UN-Unterhändler Hans Blix später einräumte.

Der Krieg zerstörte eine durch vorherige Kriege und UN-Sanktionen zwar geschwächte, aber doch intakte Gesellschaft, er zerstörte die irakische Nation. Von 2003 bis Anfang 2012 habe der Irak »schätzungsweise 1,5 Millionen Todesopfer durch kriegerische Gewalteinwirkung zu verzeichnen«, heißt es in einer Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges IPPNW. Mindestens zwei Millionen Menschen flohen aus dem Irak, das UN-Flüchtlingshilfswerk sprach von der größten Fluchtwelle seit der Flucht und Vertreibung der Palästinenser nach der Gründung des Staates Israel 1948. Mindestens ebenso viele Menschen flohen vor Gewalt innerhalb des Landes, kaum ein Iraker lebt heute noch in dem gleichen Haus wie vor zehn Jahren.

Der Krieg gegen den Irak machte das Land zu einem Rückzugsort für islamistische Kampfgruppen, die in Libyen, in Syrien und Mali neue Verwendung fanden und finden. Ihre dogmatische religiöse Rhetorik täuscht über den eigentlichen Zweck ihres Daseins hinweg. Tatsächlich sind sie Söldner im Dienst von Staaten, die aus finanziellen und innenpolitischen Gründen eigene Truppen nicht senden können. Die USA und Europa bedienen sich dieser Gruppen, weil sie im Mittleren Osten, den sie als ihr Interessensgebiet markiert haben, Einfluß behalten wollen. Nicht selten lassen sie zu, daß die irregulären Kampfgruppen mit privaten Sicherheitsfirmen und Geheimdiensten durchsetzt werden, um sie zu »kontrollieren«. Ihr Einsatz unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges destabilisiert die Region mit einem »Krieg niedriger Intensität«. Die nationale Entwicklung wird verhindert.

Katar und Saudi-Arabien bezahlen und bewaffnen die Kampfgruppen, um alte Rechnungen mit unliebsamen politischen Konkurrenten zu begleichen, wie in Libyen und aktuell in Syrien. Sie wollen den Einfluß der Islamischen Republik Iran in der Region stoppen. Darum wird von einem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten gesprochen, den es in der Bevölkerung nicht gibt. Die Türkei bedient sich dieser Söldner, um ihre regionalen Großmachtpläne als führende Kraft der Muslimbruderschaft zu untermauern. Sie destabilisieren das syrisch-türkische Grenzgebiet, um einen Brückenkopf im Norden Syriens zu errichten. Der Krieg gegen den Irak 2003 hat sich ausgeweitet.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 20. März 2013


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