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Wahlen im Irak: Fortschritt, Augenauswischerei oder einfach nur Schwindel?

Nur Eines dürfte sicher sein: Die Gewalt wird zunehmen

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare, die sich mit der Situation im Irak vor der Wahl zu einer Nationalversammlung am 30. Januar 2005 befassen. Die Autoren sind Robert Fisk, langjähriger Korrespondent im Nahen Osten und Kommentator im britischen "Independent", und Karl Grobe, Nahost- und Mittelasien-Experte und Redakteur der Frankfurter Rundschau.
Außerdem geben wir weiter unten einen Überblick über wichtige Parteien bzw. Listen, die im Irak zur Wahl stehen.


Was für ein Schwindel

Von Robert Fisk

In Bagdad und in den sunnitischen Provinzen hat eine Demokratie von Bushs Gnaden keine Chance Flying Carpet" ist unterhalb der Pilotenkanzel zu lesen, und so steht es auch auf der Bordkarte. Der Schonbezug am Kopfende des Passagiersitzes zeigt ein Flugzeug, das auf einem Teppich durch die Lüfte gleitet. Auf jeden Fall gehört die gepflegte 20-sitzige Propellermaschine zur Fluggesellschaft Flying Carpet Airlines, die mit einer einzigen Maschine die neue Verbindung Beirut - Bagdad anbietet.

Irgendwie merkwürdig erscheint auch alles andere im Flughafen von Beirut, einem neuen Komplex ganz aus Glas und Stahl. Als ich hier nach Bagdad einchecken will, treffe ich betrübte Amerikaner, Angehörige von privaten Sicherheitsdiensten, deren vergnügtes Wochenende "an den Fleischtöpfen" nun zu Ende geht. Ich sehe libanesische Geschäftsleute, die genauso verängstigt sind wie ich. Jenseits von Sicherheitsschleuse und "Duty-free-shop" gehen wir zu jenem Gate, das auch die Mekka-Pilger benutzen. Ein kleiner blauer Bus bringt uns zum Flugzeug. Der zerbombte Frachthangar, die Erinnerung an Beiruts eigenen vergessenen Krieg, ist deutlich zu sehen.

Ich brauche eine Weile, um den symbolischen Charakter der Szenerie zu begreifen. Erst als ich im Flugzeug sitze, fällt mir ein, dass nur einige hundert Meter entfernt die alte US-Marinebasis von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wurde. Damals, am 23. Oktober 1983, starben 242 Amerikaner. Ich erinnere mich noch, wie sich der Luftdruck in meinem Beiruter Apartment zur Zeit der Explosion veränderte, und wie ich, einige Tage später, aus dem Munde von Vizepräsident George Bush senior inmitten der Trümmer hörte: "Wir werden nicht zulassen, dass eine Gruppe von terroristischen Feiglingen die Außenpolitik der Vereinigten Staaten verändert."

Was für ein Schwindel - innerhalb weniger Monate entschied Präsident Reagan, dass die Marines nur noch auf Schiffen stationiert sein durften. Ein Manöver, das an andere "große Siege" wie seinerzeit Napoleons Truppenrückzug vor Moskau erinnerte. Während mir diese ketzerischen Gedanken in den Sinn kommen, fliegen wir über die schneebedeckten libanesischen Berge, überqueren die syrische Grenze und fliegen weiter östlich über die dunklen, tiefbraunen Wüsten Syriens und des Irak. Ich schlage meine Morgenzeitung auf. Da sehe ich George Bushs selbstgerechten Sohn, wie immer mit diesem dümmlichen Lächeln. Er lässt der Welt mitteilen: Es gibt da noch ein paar Probleme im Irak, aber die Wahlen werden am 30. Januar auf jeden Fall stattfinden. Die Gewalt werde man besiegen, und die üblen Burschen hätten keine Chance, den Marsch der Demokratie zu stoppen. Auch Bush junior "will nicht zulassen, dass eine Gruppe von terroristischen Feiglingen die Außenpolitik der Vereinigten Staaten verändert".

Was für ein Schwindel. Als wir auf dem Boden des großen demokratischen Experiments von George Walker Bush landen, sieht natürlich alles ganz anders aus. Kein Wunder, denn hier in Bagdad freut man sich auf die Wahlen mit dem gleichen Enthusiasmus wie seinerzeit die Menschen in Dresden, als die ersten Lancaster-Bomber über dem Elbetal auftauchten.

Der Flughafen von Bagdad ist voll von Söldnern und freundlichen, gleichfalls schwer bewaffneten britischen Elitesoldaten. Ganz in der Nähe des Terminals hängt ein riesiges Poster, das eine Szene nach einem Attentat in der Hauptstadt festhält, ganz unten rechts zeigt es den Körper einer halbnackten Frau. Im Text unterhalb dieser obszönen Szene heißt es auf Arabisch: "Sie wollen unser Land zerstören, nicht einmal Schulen werden geschont. Diese Hunde wollen unsere Kinder in Unwissenheit halten, um ihnen dann Hass und Feindschaft predigen zu können. Wir brauchen die Hilfe der multinationalen Streitkräfte, um zu zeigen, dass wir alles tun werden, um unser Land zurückzubekommen und die Killer und Plünderer auszurotten. Für ihre schrecklichen Verbrechen gegen das friedfertige irakische Volk werden wir sie zur Verantwortung ziehen. Das irakische Volk weigert sich, Opfer des Terrors zu sein, weil wir eine starke Gemeinschaft sind, die niemals sterben wird."

Was für ein Schwindel. Die Iraker wollen Sicherheit, keine Frage. Aber immer mehr Bürger des Landes unterstützen die "Hunde" und immer weniger setzen auf die multinationale Streitmacht, weil sie - wie man gerade in Bagdad und in den sunnitischen Provinzen weiß - eine Armee von Bushs Gnaden ist. Natürlich zeigen die Meinungsumfragen, dass eine Mehrheit der Iraker durchaus einen Teil der von Mr. Bush versprochenen Demokratie möchte. Demokratie wollten sie schon, als wir Amerikaner noch dem Killer-Regime von Saddam Hussein zur Seite standen. Meinungsumfragen zeigen auch, dass die meisten Menschen im Irak vor den Mördern und Plünderern geschützt werden wollen.

Eine überwältigende Mehrheit im Lande würde sogar, kein Zweifel, einen amerikanischen Pass akzeptieren, um endlich in Ruhe leben zu können. Ich glaube in der Tat, dass der sicherste Weg, den Krieg in diesem Land zu beenden, darin bestünde, jedem Iraker die amerikanische Staatsbürgerschaft zu geben, genau so wie es die Römer mit den eroberten Völkern taten. Das allerdings ist wohl eine Idee, die Herrn Bush und den Architekten seines Empires nicht gefällt, und deshalb müssen die Iraker mit einer "Demokratie" zurechtkommen, die sehr viel Gewalt, aber weder Elektrizität noch Benzin zu bieten hat.

Die Schiiten warten seit zwei Jahren ungeduldig auf die Wahlen. Paul Bremer, der erste Prokonsul der USA in Bagdad, verweigerte sie unmittelbar nach der Invasion im Frühjahr 2003. Die Abstimmung hätte ohne große Gewalt stattfinden können, allerdings mit dem Ergebnis einer schiitischen Theokratie. Die Kurden warten ebenfalls darauf, ihren eigenen kleinen Staat im Norden zu legitimieren. Aber ohne die Beteiligung der sunnitischen Moslems werden die Wahlen zwar freier als unter Saddam Hussein, aber nicht repräsentativer sein. Die Amerikaner drohen bereits damit, einige handverlesene, nicht gewählte Sunniten in das Parlament zu entsenden.

Wenn am Wahltag und danach die Gewalt weiter zunimmt, werden Bush und Blair verkünden: Die Mörder und Plünderer sind wütend, weil die Demokratie voranschreitet. Und: "Wir werden nicht zulassen, dass eine Gruppe von terroristischen Feiglingen die Außenpolitik der Vereinigten Staaten verändert." Was für ein Schwindel.

* Aus: Freitag 04, 28. Januar 2005

Ungewissheit in Irak

VON KARL GROBE

Wahlen können Auskunft geben über den Zustand der Demokratie und die politischen Neigungen eines Volkes. Demokratie stiften können sie nicht. Sie setzen sie nämlich voraus. Die irakischen Hoffnungen, am Sonntag werde alles die Wende zum Besseren nehmen, wenn das Volk sich ausführlich an der Abstimmung beteiligen kann, sind überzogen. Nur auf den formalen Vorgang können sich Hoffnungen realistischerweise beziehen.

Rund hundert Parteien und Bündnisse stellen sich zur Wahl. Ziele und Programme der meisten sind den Wählern nicht bekannt. Die Majorität der 7 785 Kandidaten hat sich in berechtigter Angst vor Attentaten nicht zu erkennen gegeben. Die aussichtsreichsten Listen werden von Personen angeführt, denen man mit Gründen enge Kontakte mit den Geheimdiensten der Besatzungsmächte nachsagt. Von einer Verankerung der Parteien in der Gesellschaft kann kaum die Rede sein; die kurdischen Organisationen und einige im Politiker-Ornat antretende religiöse Gruppen sind wohl die einzige Ausnahme.

Zugleich nennen hohe Offiziere der Besatzungsmacht vier der fast 30 Provinzen so unsicher, dass dort eigentlich nicht gewählt werden kann und vielleicht auch nicht wird. Eine Zahl ist hinzuzufügen: In diesen vier Provinzen lebt fast die Hälfte aller Iraker. Sie müssen beträchtlichen Mut aufbringen, wenn sie sich entschließen, die Wahllokale aufzusuchen, deren genauer Ort überdies - aus Sicherheitsgründen - so etwas wie eine geheime Staatssache ist.

Das sind ungünstige Vorzeichen, was allein den formalen Akt betrifft. Inhaltlich ist die Wahl schwerer vorbelastet. Sie wurde von vornherein als eine Entscheidung über den künftigen Einfluss von Schiiten, Sunniten und Kurden bewertet, wobei man übersah, dass die meisten Kurden Sunniten sind, dass es auch noch andere Ethnien und Bekenntnisse in Irak gibt und dass die Aufteilung auf religiöse Richtungen überaus künstlich ist.

In den urbanen Zentren Iraks hat die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Großgruppe bereits seit Jahrzehnten keine besondere Rolle mehr gespielt. Saddam Hussein hat sie nach seinem Kuwait-Krieg wiederbelebt, als er begann, sich auf bestimmte tribalistische Zusammenhänge zu stützen und die Schiiten unter den Generalverdacht stellte, sie seien heimliche Agenten Teherans. Die Besatzungspolitik knüpfte hat daran an, im Gegensatz zum vorgebenen Ziel, Demokratie und Zivilgesellschaft wieder herzustellen. Saddam Husseins Machtinstrumente - die Geheimdienste und der harte Kern der Baath-Partei - begannen das Werk der gesellschaftlichen Atomisierung, die Besatzungspolitik setzte es fort und die terroristischen Gruppen ziehen größtmöglichen Nutzen daraus.

Das Auftreten mancher Besatzungssoldaten und ihrer irakischen Hilfstruppen trägt zur weiteren Destabilisierung des Landes bei. Jedes Flächenbombardement, jeder Fall von Gefangenenfolter führt den gewaltbereiten Vereinigungen neue Sympathisanten und Rekruten zu. Und da es einen nationalen Widerstand mit einigender, überzeugender, mobilisierender Programmatik schlechterdings nicht gibt, gewinnen die islamistischen Ideologen und Gewalttäter den Tag. Für Irak, den vor Jahren noch religiös tolerantesten und am deutlichsten säkularen arabischen Staat, ist das ein neues Phänomen. Es wird nach dem Wahltag nicht verschwinden.

Es dürfte, im Gegenteil, stärker werden. Die Übergangsgremien, die am Sonntag bestimmt werden, sind mit den Aufgaben des Wiederaufbaus überfordert. Jede neue Regierung wird am Tropf der bisherigen Besatzung hängen, die noch auf Jahre präsent bleiben dürfte. Keine Regierung wird sich der Ausplünderung der Ressourcen und dem Bau-Monopol von Halliburton und Co. entziehen können. Folglich behält die Seite ihre Argumente, die jeden erdenklichen Wahlsieger für nichts anderes halten wird als ein neokoloniales Instrument. Allzu weit entfernt von der Realität ist das auch nicht.

Die irakische Gesellschaft ist nachhaltig zertrümmert worden von der Baath-Diktatur, den Kriegen Saddam Husseins, den Folgen der UN-Sanktionen und zuletzt der unter der Besatzung entstandenen Situation. Der Neuaufbau ist unendlich schwierig. Er muss dennoch gewagt werden. Mangels anderer Möglichkeiten eben auch durch diese Wahl. Danach ist die internationale Mithilfe gefordert. Die "alten" Europäer, die sich mit sehr guten Gründen dem Krieg George W. Bushs widersetzt haben, können und müssen helfen; weil sie, kein Kunststück, glaubwürdiger sind als die USA und immer noch fähig zur Solidarität.

* Aus: Frankfurter Rundschau, 29. Januar 2005



Die wichtigsten irakischen Wahllisten Teil I

ListeIrakische ListeVereinigte Irakische Allianz
Spitzenkandidat(en)Iyad Allawi (Premierminister)Mohamad Baqir al-Hakim, Ibrahim al Jaa´fari
Zahl der nominierten Kandidaten233228
vertretene ParteienIrakische Nationale Eintracht,
Irakische Demokratische Bewegung
und zwölf weitere Parteien
Hoher Rat der islamischen Revolution,
Da´wa-Partei (Islamischer Ruf),
Irakischer Nationalkongress (INC)
und 13 weitere Parteien
ProgrammWiederherstellung der öffentlichen Sicherheit,
säkularer Staat,
nationale Einheit und nationale Versöhnung
mit "ehrbahren Baathisten"
nationaler Wiederaufbau,
säkularer Staat,
Hauptreligion ist der Islam,
schrittweiser Abzug aller fremden Truppen
Orientierungüberwiegend säkularüberwiegend religiös (Schiiten)

Die wichtigsten irakischen Wahllisten Teil II

ListeListe IrakerKurdische AllianzListe Einheit des Volkes
Spitzenkandidat(en)Ghazi Ajeel al-Yawer
(Interimspräsident)
Masud Barsani
(Parteichef KDP),
Jalal Talabani (Parteichef PUK)
Hamid M. Mousa
(Nat. Sekret. der ICP),
Mufid al Jaza´iri (Kulturminister)
Zahl der nominierten Kandidaten250165275
vertretene Parteienkeine Parteien, sondern
Einzelpersönlichkeiten,
unter anderem Hazim al-Sha´lan
(Verteidigungsminister),
Hachim al-Hassani
(Industrieminister)
Kurdische Demokrat. Partei (KDP),
Patriotische Union Kurdistans (PUK),
Kurdische Islamische Union (KIU)
und neun Parteien
Kommunistische Partei des Iraks (ICP)
Programmnationaler Wiederaufbau
und nationale Einheit,
Abzug aller fremden Truppen
und Ersetzung durch Kontingente
der UNO
Föderaler Staat
mit drei Gliedstaaten
(Autonomes Kurdistan,
Vilayet Bagdad,
Vilayet Basra),
säkulares System,
nationaler Wiederaufbau
demokratischer säkularer Staat,
nationale Einheit,
Abzug aller ausländischer Truppen,
sobald die öffentliche Sicherheit
wiederhergestellt ist
Orientierungsäkular und religiös (sunnitisch)säkular und religiös (Schiiten)säkular

Quelle: Freitag, 28. Januar 2005


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