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Abrechnung in Falludscha

Islamistische Rebellen heizen mit ihrem Vormarsch in Irak den interreligiösen Konflikt an

Von Karin Leukefeld, Bagdad *

Über zehn Jahre nach dem US-Einmarsch in Irak ist die ehemalige Rebellenhochburg Falludscha wieder in die Gewalt islamistischer Aufständischer gefallen. Der sunnitisch-schiitische Konflikt eskaliert.

Die Auseinandersetzungen um die Kontrolle der westirakischen Städte Falludscha und Ramadi haben mindestens 100 Todesopfer gefordert. Seit Tagen liefern sich die Gruppe »Islamischer Staat in Irak und Syrien« (ISIS) auf der einen und die irakische Armee und Milizen der Stammesverbände (Sahwa) auf der anderen Seite blutige Kämpfe.

Nachrichtenagenturen berichteten unter Berufung auf Einwohner von Falludscha, ISIS-Kämpfer hätten die Kontrolle der Stadt übernommen und das Militär verdrängt. Ein hochrangiger, namentlich nicht genannter Sicherheitsbeamter bestätigte gegenüber Journalisten, man habe die Kontrolle über Falludscha verloren. Nur in den Außenbezirken der Stadt seien noch Polizeikräfte stationiert. Auch in der Stadt Ramadi soll die ISIS Militär und Polizei verdrängt haben.

Beide Städte waren nach der von den USA angeführten Invasion 2003 Ausgangspunkt für Angriffe von Al-Qaida und der irakischen Opposition gegen die Besatzungsmacht. Deren Truppen wiederum griffen Falludscha mehrmals an und belagerten die Stadt 2004 wochenlang. Damals entstanden Wüstenlager der Al-Qaida in Irak entlang der westlichen irakischen Grenze, die heute Rückzugs- und Ruhegebiete für ISIS und die Nusra-Front sind, die beide in Syrien gegen die dortigen Regierungstruppen kämpfen. Politische Beobachter gehen davon aus, dass ISIS und Nusra Teile aus Syrien und Irak herausbrechen und die Kontrolle übernehmen wollen.

Dass die Kämpfe hart und die Verluste der Armee hoch sind, ist in verschiedenen Krankenhäusern der irakischen Hauptstadt zu beobachten.

Am Wochenende waren selbst vor einem Kinderkrankenhaus im Westen Bagdads Ambulanzfahrzeuge der Armee vorgefahren und hatten Verletzte und Tote eingeliefert. Mit schwarzer Plastikplane abgedeckte Leichname wurden auf Bahren in die Leichenhalle des Krankenhauses transportiert, wo Angehörige sie dann später für die Beerdigung abholten. Nach islamischen Bestattungsriten sollen Tote innerhalb von 24 Stunden beigesetzt werden. Auslöser der neuen Gewaltwelle in den beiden Städten war die Räumung eines der ältesten und größten Protestlagers durch die Armee vor einer Woche bei Ramadi. Das Lager, das von den Organisatoren als »Gebetsstätte für die Einheit« bezeichnet wird, war auf der Autobahn Bagdad-Amman errichtet worden und hatte den internationalen Güter- und Personenverkehr erheblich behindert. Teilweise hielten sich Tausende Demonstranten in dem Camp auf, von einer Bühne herab wurden Reden gegen die Regierung gehalten.

Ursache der Proteste ist der Vorwurf mehrerer Stämme in Zentral- und Westirak, dass die Regierung sie systematisch verfolge und von der politischen Macht ausschließen wolle. Die Stämme sind mehrheitlich sunnitische Muslime und stehen religiös, ökonomisch und kulturell Saudi-Arabien nahe. Das Königreich wird von dogmatischen Wahabiten regiert, die andere Strömungen des Islams als »Ungläubige« brandmarken und verfolgen. Religiöse Prediger warnen nun davor, dass »die Perser« Irak übernommen hätten und bekämpft werden müssten. Mit »Persern« sind schiitische Muslime und insbesondere die regierende Dawa-Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki gemeint. Die Dawa-Partei war unter dem früheren Präsidenten Saddam Hussein verboten und hatte sich vor der Verfolgung nach Iran zurückgezogen, wo sie von der Regierung geistlicher Rechtsgelehrter (Velayet-e Faqih) unterstützt wurde. Nach der US-Invasion kehrte die Partei nach Irak zurück und übernahm die Macht. Der kürzlich in Ramadi festgenommene Parlamentsabgeordnete Ahmed al-Awlani hatte Berichten zufolge in einer Rede erklärt, dass man diese »Anhänger Irans (….) gnadenlos köpfen« könne.

Die ehemalige Diplomatin Suha al-Turaihi sagte gegenüber »nd« in Bagdad, die sunnitischen Herrschaftshäuser hätten seit 1400 Jahren fast ununterbrochen die Macht in den arabisch-islamischen Ländern ausgeübt. Nur zwischen 1500 und 1720 habe ein schiitisches Königshaus in Damaskus geherrscht. Dass nun in Irak die Schiiten das politische Geschehen bestimmten, sei für viele Sunniten unerträglich.

Manche Kritiker der Regierung Maliki halten die Auseinandersetzungen um die beiden Städte für beabsichtigt. Maliki versuche möglicherweise auf diese Weise, die für April anberaumten Parlamentswahlen zu verschieben. Andere verweisen auf die Ausgrenzungspolitik Malikis gegenüber der Bevölkerung der Westprovinz Anbar. Man müsse sich nicht wundern, wenn die Kämpfer der ISIS von Teilen der Bevölkerung gegen die staatlichen Sicherheitskräfte unterstützt würden, meinte Hanaa Edwar gegenüber »nd« in Bagdad. Die Regierung grenze die Bevölkerung dort schon lange politisch systematisch aus. Als Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Al Amal war Edwar aufgefordert worden, sich öffentlich hinter Armee und Sicherheitskräfte im »Kampf gegen die Terroristen« in Falludscha und Ramadi zu stellen. Hanna Edwar lehnte das ab und verwies auf die Grundprinzipien der Gewaltfreiheit von Al Amal: »Der einzige Weg, diesen Konflikt zu lösen, ist, dass man sich an einen Tisch setzt und redet.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 6. Januar 2014


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