Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Leben unter der Schwarzen Fahne

Der IS versucht, in seinem ausgerufenen Kalifat staatliche Strukturen zu errichten

Von Karin Leukefeld *

Der Islamische Staat kennt in seinem Herrschaftsgebiet auch Gouverneure, Finanzräte und den Schura-Rat.

Vor sieben Wochen begann eine von den US-Streitkräften angeführte Allianz mit Luftangriffen auf Stellungen der Terrormiliz »Islamischer Staat« in Syrien. Die Gruppe, die sich seit ihrem Einmarsch in die nordirakische Stadt Mossul so nennen lässt und angibt, in Teilen Syriens und Iraks ein Kalifat errichten zu wollen, sollte nach Angaben des Pentagon in ihren Schaltzentralen und Nachschubwegen getroffen und zerstört werden. Rund 50 Luftangriffe führte die »Internationale Anti-IS-Allianz« durch und griff Ölförderanlagen im Osten Syriens bei Dair as-Saur, Getreidesilos und Stellungen in der syrischen Stadt Al-Rakka an. Dort seien der Sitz des Gouverneurs, ein Militärlager und das Gebäude des regionalen Geheimdienstes zerstört worden, sagte ein Pentagonsprecher. Außerdem sei die Tabak-Luftwaffenbasis angegriffen worden, die von den Kampfverbänden zuvor erobert worden war. Hunderte syrische Soldaten sollen nach der Eroberung hingerichtet worden sein.

Al-Rakka liegt 200 Kilometer östlich von Aleppo am Ufer des Euphrat. Seit reiche Kaufleute aus Aleppo in den 1950er Jahren die Bewässerungsanlagen modernisierten, wurde die Stadt zu einem Zentrum der Baumwollindustrie. Der Euphrat, der aus der Türkei kommend durch Syrien nach Irak fließt und schließlich mit der anderen großen Wasserstraße, dem Tigris, vereint als Schatt al Arab in den Persisch-Arabischen Golf mündet, dient seit Jahrhunderten als wichtiger Transportweg.

Für die Kampfverbände mit der Schwarzen Fahne ist der Euphrat eine der wichtigsten Verbindungsstraßen, entlang der sie ihr Kalifat errichten wollen. Seit 2004 terrorisiert die Gruppe, die damals als »Islamischer Staat in Irak« erstmals öffentlich auftrat, Bewohner der Euphratstädte Ani, Hit und Falludscha.

Nach dem im gleichen Jahr entwickelten Handbuch des «Management des Chaos (Savagery)« stellen IS-Kämpfer die dort seit Jahrhunderten friedlich lebende Bevölkerung vor die Wahl, sich vor der Schwarzen Fahne zu beugen oder zu sterben. Manchen, wie der Familie von Ibrahim al-Ani aus Ani und Tausenden Christen aus Mossul, ließen die neuen Herrscher wenige Stunden Zeit, um das Weite zu suchen.

Nach einem von dem US-amerikanischen Konsortium für Terrorismusforschung und Analyse (TRAC) veröffentlichten Schaubild soll der unangefochtene Kalif und Oberkommandierende des IS der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi sein; der Name ist ein Pseudonym. Ihm soll ein Beratergremium zur Seite stehen, außerdem hat er zwei Stellvertreter. Einer ist zuständig für Irak, ihm unterstehen zwölf Gouverneure. Einer ist zuständig für Syrien, auch ihm unterstehen zwölf Gouverneure. Diesen wiederum sollen Räte für Finanzen, Führung, Militär, Recht, Kämpfer, Sicherheit, Aufklärung und Medien untergeordnet sein. Jenseits dieser Struktur gibt es den Schura-Rat, der für militärische und religiöse Angelegenheiten zuständig sein soll. Eine Exekutive (Al-Imara) untersteht ebenfalls Al-Baghdadi und seinen Stellvertretern.

Wie die TRAC-Mitarbeiterin Jasmine Opperman dem US-Sender CNN erklärte, habe Al-Baghdadi – der lange in US-Militärhaft saß und früher im Auftrag der CIA und des saudischen Geheimdienstes in Afghanistan in den Reihen von Al Qaida kämpfte – offenbar die US-amerikanische Strategie zur Aufstandsbekämpfung übernommen. Nach dem Motto »Säubern und Sichern« würden Gebiete militärisch erobert und unterworfen, so die Terrorismusforscherin. Dann versuche man, lokale Kräfte für die Verwaltung zu gewinnen. Die Darstellung basiert auf Geheimdienstkenntnissen und soll im Wesentlichen belegen, dass aus dem Kampfverband »Islamischer Staat« eine staatliche Struktur erwächst, mit der zu rechnen sein wird.

Ein junger Mann berichtete jetzt der libanesischen Zeitung »Al Akhbar« von seiner Fahrt nach Al-Rakka, wo er geboren wurde. Am Kontrollpunkt vor der Stadt sei der Bus nach Soldaten durchsucht worden. Die Frauen seien aufgefordert worden, den Vollschleier zu tragen. Die Kämpfer hätten »mit deutlichem saudischen Akzent gesprochen«, so der Reisende. Der IS habe Ordnung in die Stadt gebracht, seine Polizeikräfte seien überall präsent. Jetzt gebe es nur »einen Herrscher in Rakka«, erzählte der junge Mann. Egal, wer dort regiere, »die Leute wollen nur ihr ruhiges Leben wieder haben«.

* Aus: neues deutschland, Montag, 3. November 2014


Die Empörung des Abu Khalid

Augenzeugen berichten aus Al-Rakka ***

Wie andere Gruppen, die in Syrien unter der Fahne des Islam vorgeben, die Menschen von dem »Despoten Assad befreien« zu wollen, erlässt auch der IS die Scharia als neues Rechtssystem. Dieben werden Hände abgehackt, Frauen müssen sich von Kopf bis Fuß verhüllen, andere, die sich nicht fügen, werden geköpft oder gekreuzigt. Musik oder Unterhaltung wie Cafés, Theater, Kino sind nicht erlaubt. Wer sich nicht an die vorgegebenen Gebetszeiten hält, wird bestraft.

In einem kleinen Hotel im Zentrum von Damaskus leben viele Familien, die aus Al-Rakka und anderen Städten vor den Kalifatskämpfern geflohen sind. Seine Tochter habe nicht mehr zur Universität gehen dürfen, erzählt Tarik al-Mustapha, ein älterer Mann im grauen Anzug. Einige Fächer wie Soziologie und Geschichte seien aus dem Lehrplan gestrichen worden. Der Begriff »Syrien« wurde durch »Islamischer Staat« ersetzt. »Ich bin mit ihr nach Damaskus gekommen, damit sie hier ihr Studium abschließen und vielleicht Arbeit finden kann.«

Ein älteres Ehepaar wartet in der Lobby auf Verwandte, die es zu sich nach Hause holen will. Als sie in Al-Rakka in den Bus gestiegen seien, hätten die Frauen alle hinten, die Männer vorne sitzen müssen, berichtet ein Mann, der sich als Abu Khalid vorstellt. »Ich habe mich umgedreht, um zu sehen, ob meine Frau auch einen guten Platz gefunden hat«, sagt er. »Ich konnte sie nicht erkennen, alle Frauen waren schwarz verschleiert.« So etwas habe er im Leben noch nicht erlebt, dass er nicht neben seiner Frau im Bus sitzen dürfe, empört sich Abu Khalid.

Der US-amerikanische Fernsehsender CNN zeigte kürzlich ein mit versteckter Kamera gedrehtes Video über den heutigen Alltag in Al-Rakka. Zu sehen sind auch die enthaupteten Leichen von Soldaten der syrischen Armee, die auf einem Gehweg liegen. Die Köpfe der Männer sind auf Zäunen aufgespießt. Ein Video, das vom US-amerikanischen »Wall Street Journal« ausgestrahlt wurde, zeigt, wie Zigarettenpackungen öffentlich verbrannt und Ladenbesitzer aufgefordert werden, Frauenkleidung nicht öffentlich zu zeigen. Zu sehen ist eine öffentliche Kreuzigung. Junge Männer, manche noch Kinder, filmen die Szene mit ihren Handys. Geld wird verteilt, um Informanten dazu zu bringen, IS-Gegner zu denunzieren.

Auch im französischen Fernsehen wurde ein heimlich gedrehtes Video ausgestrahlt. Eine Frau hatte die kleine Kamera unter ihrem Schleier, dem Nikab, versteckt und geht unter anderem in ein Internetcafé. Dort trifft sie auf zwei völlig verschleierte Frauen, eine hat ihren kleinen Sohn auf dem Schoß und spricht in perfektem Französisch offenbar mit ihrer Familie in Frankreich. Sie habe nicht vor, dorthin zurückzukehren, so die Frau, die zu ihrer Mutter sagt: »Kapier das endlich.« Alles was die Mutter im Fernsehen sehe, sei falsch, so die junge Frau. Ihr jedenfalls gehe es gut. Leu

** Aus: neues deutschland, Montag, 3. November 2014




Die vermutlich reichste Terrorgruppe der Welt

Ölschmuggel, Schutz- und Lösegeld, Bank- und Kunstraub, Sponsoren in der Golfregion – die Kriegskasse des Islamischen Staats hat viele Quellen

Von Olaf Standke ***


Der Islamische Staat ist nach Einschätzung der US-Regierung vermutlich die am besten finanzierte Terrororganisation, der man je gegenübergestanden habe.

Zerstörte Gastanks und Leichen von syrischen Regierungssoldaten – mit diesen Bildern im Internet will die IS-Terrormiliz gerade einen weiteren Erfolg belegen: Nach tagelangen schweren Kämpfen habe man ein Gasfeld in der Provinz Homs »befreit«. Mehr noch sind aber illegale Ölverkäufe eine der wichtigsten Einnahmequellen des Islamischen Staates. Experten zufolge hat er allein in Irak Zugang zu mindestens fünf Ölfeldern, jedes davon mit 40 bis 70 Quellen. Nach Angaben der Obama-Regierung verdienen die Dschihadisten damit täglich rund eine Million Dollar (791 000 Euro). Der IS habe einen in der Region tief verwurzelten Schwarzmarkt angezapft, so David Cohen, Staatssekretär im Washingtoner Finanzministerium, kürzlich auf einer Veranstaltung der »Carnegie Endowment for International Peace«. Die Extremisten verkauften das Öl an Schmuggler, für etwa ein Viertel des Weltmarktpreises. Diese bringen es in großen Tanklastern und kleinen Containern außerhalb der IS-beherrschten Gebiete. Dann gehe es an Mittelsmänner in Iran, Libanon oder Jordanien, auch in die Türkei. Selbst irakische Kurden und die syrische Regierung gehörten angeblich zu den Kunden.

Allerdings sollen die Einnahmen nach Beginn der Luftangriffe der Anti-IS-Koalition deutlich geschrumpft sein. Über ein Dutzend improvisierte Raffinerien seien bisher zerstört worden. Zuvor habe der Tageserlös aus dem Verkauf von Rohöl und Raffinerieprodukten nach Angaben der Internationalen Energieagentur noch bis zu drei Millionen Dollar (2,4 Mio. Euro) betragen. Aber all das seien nur Schätzungen, keine wirklich gesicherten Erkenntnisse, wie David Butter von der Londoner Denkfabrik Chatham House betont. Ganz davon abgesehen, dass man jenseits der türkischen Grenze für 200 000 bis 300 000 Dollar binnen weniger Tage neue Anlagen kaufen könne.

Im »Kalifat« raube die Terrormiliz aber auch Banken aus, sie stehle Vieh und die Ernte von Bauern, sagte Cohen. Bei der Eroberung von Mossul sollen die Dschihadisten etwa 420 Millionen US-Dollar aus der dortigen Filiale der irakischen Zentralbank erbeutet haben. Und sie verkauften entführte Mädchen und Frauen als Sexsklavinnen. Die Bevölkerung und Geschäftsreisende würden durch ein ausgeklügeltes System erpresst; religiöse Minderheiten müssten Sonderabgaben zahlen. Bargeld werde dabei mit Waffengewalt eingefordert. Ladenbesitzer, die sich weigerten, Schutzgeld zu zahlen, warne man mit Bombenexplosionen vor ihren Geschäften. Zynischerweise deklariert der IS die Zwangsabgaben als Zakat – die für Muslime verpflichtende Almosensteuer für Bedürftige. Auch Angehörige von Zahlungsunwilligen werden kurzerhand entführt. Durch Lösegelder habe die Terrormiliz in diesem Jahr bereits mindestens 20 Millionen Dollar eingenommen. Wobei Cohen kritisiert, dass europäische Länder für Geiseln mehrere Millionen Dollar gezahlt hätten.

Viel Geld nimmt die Terrormiliz durch die Plünderung von Ausgrabungsstätten, Museen und Kirchen ein. Nach Schätzung des Internationalen Museumsrates (ICOM) befinden sich 90 Prozent des syrischen Weltkulturerbes in Kampfgebieten. Der Londoner »Guardian« zitierte einen Geheimdienstler, wonach penibel geführte Listen auf einem USB-Stick des IS nahelegten, dass allein in der Region um Al-Nabuk Antiquitäten im Wert von bis 36 Millionen Euro geraubt worden seien.

Zu Beginn ihres Kampfes gegen das Assad-Regime wurde die Terrormiliz vor allem von Kuwait, Katar und Saudi-Arabien gesponsert. Es gibt Hinweise darauf, dass die USA 2012 Islamisten, die sich später dem IS anschlossen, auf einem geheimen Militärstützpunkt in Jordanien ausgebildet hätten. Noch immer erhalten die Extremisten Unterstützung durch »Geschäftsleute« und »Hilfsorganisationen« aus der Golf-Region. Doch spiele der Geldfluss wohlhabender Privatpersonen nach Einschätzung von Tom Keatinge, Finanz- und Sicherheitsexperte am Royal United Services Institute, eine schwindende Rolle. Der internationale Druck auf solche Finanziers wie die Golfstaaten wachse. Trotzdem sei der IS »vermutlich die am besten finanzierte Terrororganisation, der wir je gegenüberstanden«, wie Cohen erklärte.

Dabei fließe das Geld nicht nur an Kämpfer. Man versuche auch, im Kalifat bestimmte öffentliche Dienstleistungen wie Strom und Wasser bereitzustellen. »Sie handeln, als seien sie ein richtiger Staat, eine richtige Regierung.« Für Tom Keatinge sind jene Terrorgruppen am bedrohlichsten, denen es gelinge, »ihre Finanzierung von externen auf interne Quellen umzustellen«. Trotz erheblicher Ausgaben dürften dem IS am Jahresende 100 bis 200 Millionen Dollar Gewinn bleiben, schätzt Patrick Johnston von der RAND Corporation.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 3. November 2014


Zurück zur Irak-Seite

Zur Irak-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Nahost-Seite

Zur Nahost-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Terrorismus-Seite

Zur Terrorismus-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage