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Vormarsch auf Bagdad

Islamistische Terrororganisation ISIL besetzt Norden des Irak. Hunderttausende auf der Flucht. Regierungschef Maliki ruft USA um Hilfe

Von Knut Mellenthin *

Jetzt ist sogar Bagdad bedroht. Einheiten der Terrororganisation »Islamischer Staat im Irak und der Levante« (ISIL, auch bekannt unter dem Kürzel ISIS) setzten am Donnerstag ihren Vormarsch im Norden des Irak fort. Das nur knapp 70 Kilometer von der Hauptstadt entfernte Falludscha, vor einigen Jahren noch ein Zentrum des Widerstands gegen die US-amerikanischen Besatzer, war von den sunnitischen Extremisten schon im Januar erobert worden. Am Dienstag fiel ihnen Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, fast kampflos in die Hände. Die von den USA ausgebildeten und bewaffneten, zahlenmäßig starken irakischen Streitkräfte waren unter Zurücklassung des größten Teils ihrer Ausrüstung geflohen. Nach vorläufigen Schätzungen haben inzwischen rund eine halbe Million Einwohner die Stadt verlassen.

Im Mittwoch besetzten Einheiten der ISIL mit Tikrit, der Heimat des früheren Diktators Saddam Hussein, eine weitere wichtige Stadt im überwiegend sunnitischen Nordirak. Am gestrigen Donnerstag wurden Kämpfe in Bakuba gemeldet, das nur 60 Kilometer von Bagdad entfernt ist. Nach nicht bestätigten Angaben des irakischen Militärs wurden die Angreifer mit Hilfe von Stammesmilizen der Provinz Dijala abgewehrt und zogen sich fluchtartig zurück.

Ebenfalls am Donnerstag gab die kurdische Autonomieregierung bekannt, daß ihre Truppen die gesamte Stadt Kirkuk besetzt hätten, nachdem die regulären Streitkräfte der Zentralregierung vor einer Offensive der ISIL geflüchtet seien. Mossul und Kirkuk liegen außerhalb des Machtbereichs der kurdischen Regierung, der drei Provinzen umfaßt. Die beiden Städte, die wegen der Erdölvorkommen in ihrer Umgebung von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind, werden aber von den Kurden beansprucht. Unter der Herrschaft Saddam Husseins waren die Bevölkerungsverhältnisse in Mosul und Kirkuk durch Aussiedlungen und Umsiedlungen massiv zu Ungunsten der Kurden verändert worden.

Angesichts der Vormarsches der ISIL auf Bagdad hat Iraks Premier Nuri Al-Maliki die Bevölkerung zum Widerstand aufgerufen und die Verteilung von Waffen angekündigt. Malikis Versuch, sich vom Parlament ein Votum für die Verhängung des Ausnahmezustands über das ganze Land und für weitgehende Vollmachten geben zu lassen, scheiterte beim ersten Anlauf am Donnerstag. Nur 128 der 325 Abgeordneten waren erschienen, sodaß die Abstimmung wegen fehlender Beschlußfähigkeit verschoben werden mußte.

US-amerikanischen Presseberichten zufolge hat Maliki die Obama-Administration im Mai mehrmals darum gebeten, den irakischen Streitkräfte unbemannte Flugkörper, sogenannte Drohnen, sowohl für Aufklärungszwecke als auch mit Raketen für bewaffnete Einsätze zur Verfügung zu stellen. Nachdem dies abgelehnt worden sei, habe Maliki der US-Regierung vorgeschlagen, selbständig Ziele im Irak mit Drohnen anzugreifen. Auch dazu sei Washington jedoch nicht bereit gewesen.

Die US-Streitkräfte hatten sich Ende 2011 aufgrund eines noch unter Präsident George W. Bush ausgehandelten Abkommens aus dem Irak zurückgezogen. Nordamerikanische Offiziere bilden aber nach wie vor irakische Militärangehörige aus, angeblich vor allem in Jordanien. Mit rund 14 Milliarden Dollar waren die USA in den letzten Jahren bei weitem der wichtigste Waffenlieferant des Irak.

* Aus: junge Welt, Freitag 13. Juni 2014


Made in USA

Vormarsch sunnitischer Kämpfer im Irak

Von Rainer Rupp **


Praktisch im Handstreich eroberten die sunnitischen Kämpfer der ISIL (Islamischer Staat im Irak und der Levante) am Dienstag die zweitgrößte irakische Stadt Mossul im Norden des Landes. Aus Sicht des auf internationale Finanznachrichten spezialisierten US-Internetportals Zero Hedge ist die kopflose Flucht der gut bewaffneten Soldaten und Offiziere der schiitischen Al-Maliki-Regierung in Bagdad »ein weiterer, demütigender Schlag für die US-Außenpolitik und das Außenministerium«. Besonders beschämend sei, daß den sunnitischen Kämpfern in Mossul nicht nur riesige Waffenlager der lokalen Garnison unberührt in die Hände gefallen sind, sondern auch eine noch unbekannte Zahl hochmoderner US-Black-Hawk-Hubschrauber, zahlloses anderes Fluggerät sowie schwere Waffensysteme – alles »Made in USA«.

Die Ereignisse haben die ISIL ihrem erklärten Ziel erheblich nähergebracht: der Errichtung eines islamistischen Gottesstaates, der große Teile des Irak und so gut wie ganz Syrien umfassen soll. Der außergewöhnliche Erfolg im Irak wäre ohne den massenhaften Zulauf junger irakischer »Revolutionäre« aus dem »sunnitischen Dreieck« des Landes nicht möglich gewesen. Sie sehen in der Unterstützung der ISIL ein Mittel, sich von der teils sektiererisch motivierten Unterdrückungs- und Ausgrenzungspolitik der schiitischen Maliki-Regierung zu befreien. Ob sich die teils säkularen »Revolutionäre« auch vor den islamistischen Karren der ISIL spannen lassen werden, wenn es gegen Damaskus geht, ist eine andere Frage.

Tatsache ist, daß die Organisation nun nicht nur im Überfluß über moderne US-Waffen verfügt, sondern auch die reichste Terrorgruppe der Welt ist. Denn bei der Plünderung der Zentralbankfiliale und anderer Geldhäuser in Mossul fielen ihr umgerechnet 429 Millionen US-Dollar in die Hände. Außerdem ist die Stadt von großer strategischer Bedeutung: Die Hauptstadt der Provinz Ninive liegt weniger als 400 Kilometer von Bagdad entfernt und ist über die von den US-Besatzern gut ausgebauten Straßen schnell zu erreichen. Über Mossul verläuft zudem eine der Hauptexportrouten für irakisches Öl und es ist das Tor nach Syrien. Dort gilt die ISIL inzwischen als die kampfstärkste und einflußreichste Kraft gegen die rechtmäßige Assad-Regierung. Die Regierung in Bagdad kann daher weder einen Sicherheitsgürtel um Mossul ziehen, noch die Stadt – wie nach der Eroberung Falludschas durch ISIL im Januar – einfach ignorieren.

Da das Desaster von Mossul die Schwäche und Desorganisation der Regierungstruppen bloßgelegt hat, bat die Maliki-Regierung inzwischen Washington um Luftunterstützung gegen ISIL, also gegen die gleichen Kräfte, die in den vergangenen drei Jahren auf der anderen Seite der Grenze in Syrien von den USA zum Kampf gegen Präsident Assad ausgebildet wurden.

** Aus: junge Welt, Freitag 13. Juni 2014


Irakischer Treppenwitz

Olaf Standke über die Irak-Politik der USA ***

Als Präsident Bush Irak 2003 völkerrechtswidrig angreifen ließ, rechtfertigte er den Einmarsch mit zwei Lügen: mit der Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen und den Kontakten des Saddam-Regimes zum Terrornetzwerk Al Qaida. Da mutet es schon wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass nun auf den Trümmern einer mehr als achtjährigen Besatzung eine islamistische Terroristenarmee gen Bagdad marschiert.

»Wir zerbrachen Irak, dann mühten wir uns eine Weile, es wieder zusammenzusetzen, und jetzt interessiert es uns nicht mehr«, fasste ein Berater von Ex-Außenministerin Clinton einmal die desaströse »Strategie« zusammen. Seit dem Abzug der US-Truppen nach einem Guerillakrieg mit zig Tausenden zivilen Opfern trieb der von Washington installierte schiitische Regierungschef Maliki das Zweistromland mit einer verheerenden anti-sunnitischen Machtpolitik unbehelligt in die Spaltung und bereitete das Feld für die Dschihadistengruppe Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS). Die USA, die jetzt ihre Unterstützung für seine Regierung erklärten, haben ihm schon dabei geholfen – vor allem durch den Verkauf von Kriegsgerät, das nun reihenweise in die Hände von ISIS fällt. Inzwischen prüft man sogar den Einsatz bewaffneter US-Drohnen, und republikanische Falken wollen ohnehin mehr. Also zurück in die Zukunft?

*** Aus: neues deutschland, Freitag 13. Juni 2014 (Kommentar)


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