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Hoffnung für Sengal

Kurdische Kämpfer verdrängen IS aus jesidischen Siedlungsgebieten

Von Nick Brauns *

Wenige Tage nach dem Ida-Ezi-Fest – einem mit Weihnachten vergleichbaren Feiertag der Jesiden – können die Angehörigen dieser 4.000 Jahre alten religiösen Gemeinschaft wieder Hoffnung schöpfen. Kurdischen Kampfverbänden gelang es, Teile ihrer seit August von den Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) besetzten Heimatregion Sengal (Sindschar) im Nordirak zurückzuerobern. An der erfolgreichen Operation sind nicht allein Peschmerga der Kurdischen Regionalregierung (KRG), sondern auch Guerillaeinheiten der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und Volksverteidigungseinheiten YPG aus der Selbstverwaltungsregion Rojava in Nordsyrien sowie jesidische Milizen beteiligt.

Die von der US-Luftwaffe unterstützten Peschmerga durchbrachen vom Norden kommend mit schweren Waffen einen Belagerungsring des IS um die Sengal-Berge, in denen seit dem Sommer über 10.000 Jesiden ausharrten. Als sich die Dschihadisten über die syrische Grenze zurückziehen wollten, wurden sie vom Westen aus von PKK- und YPG-Einheiten in die Zange genommen. Den aus PKK, YPG und jesidischen Widerstandsgruppen gebildeten »Vereinigten Verteidigungskräften« gelang es zudem, einen Großteil der Provinzhauptstadt Sengal zurückzuerobern. Auf dem Gouverneursamt wurde die Fahne der YPG gehisst. Die Kämpfe gegen Widerstandsnester der Dschihadisten dauern aber nach Informationen der Nachrichtenagentur Firat weiter an.

Während die KRG die Evakuierung der in den Sengal-Bergen verbliebenen Jesiden plant, warnt der Oberkommandierende der PKK-Guerilla, Murat Karayilan, angesichts der vom IS begonnenen Ansiedlung arabischer Siedler im Süden von Sengal vor einem solchen Schritt, der die Rückkehr der geflohenen Jesiden in ihre Heimat erschweren würde. »Sie dürfen Sengal nicht verlassen. Trotz all ihrer Schwierigkeiten und ihres Schmerzes, den sie erleiden mussten, bilden sie den Widerstand von Sengal. Ihre Präsenz und ihr Ausharren bedeuten einen Appell an die jesidischen Kurden, zurückzukehren.«

Unterdessen wehrt sich die aus rund 2.000 Jesiden gebildete »Verteidigungseinheit Sengals« (HPS) unter ihrem Anführer Qasim Seso gegen ihre Vereinnahmung durch die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) des Präsidenten der kurdischen Autonomieregion, Massud Barsani. Meldungen der dem Barsani-Clan gehörenden Zeitung Rudaw, wonach die HPS sich den Peschmerga angeschlossen hätte, seien eine »Lüge«. Die HPS sei unabhängig und nur »jesidischen Interessen verpflichtet«. Barsani hatte kürzlich erklärt, Sengal und die KDP seien »untrennbar«, dies gelte auch für »Jesiden und die KDP«. Nach Ansicht des von Jesiden in Deutschland betriebenen Internetportals Ezidipress ist dies eine »direkte Drohung« gegenüber den Jesiden, sich der KDP unterzuordnen.

Sengal gehört zu den »umstrittenen Gebieten«, über deren möglichen Anschluss an das kurdische Autonomiegebiet laut irakischer Verfassung ein Referendum stattfinden soll. Doch viele Jesiden treten inzwischen für eine Selbstverwaltung der Region ein, da sie sich von der KRG im Stich gelassen fühlen. So hatten sich mehrere tausend in Sengal stationierte Peschmerga beim Angriff des IS Anfang August fast kampflos zurückgezogen und die Zivilbevölkerung schutzlos gelassen.

Die KRG hat bis heute keine überzeugende Erklärung für diesen von vielen Jesiden als »Verrat« empfundenen Rückzug geliefert und lediglich einige angeblich allein verantwortliche Kommandanten als Bauernopfer präsentiert. Dem schnellen Eingreifen von YPG- und PKK-Einheiten, die einen Korridor zur syrischen Grenze freikämpften, war es zu verdanken, dass Hunderttausenden Jesiden die Flucht vor dem IS gelang.

In den Augen des IS sind die Jesiden Ungläubige und damit vogelfrei. Jesidische Exilorganisationen beziffern die Zahl der vom IS in Sengal ermordeten Männer auf bis zu 7.000 und der in die Sklaverei verschleppten Frauen und Mädchen auf 5.000.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Dezember 2014


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