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US-Elitesoldaten "beraten" Bagdad

Strategielose Irak-Politik könnte Washington in neues Militärabenteuer stürzen

Von Max Böhnel, New York *

US-amerikanische Angriffe auf Ziele in Irak sind nur noch eine Frage der Zeit. Dies machte US-Außenminister John Kerry in Washingtons Bagdader Botschaft klar.

Schon vor der Bildung einer irakischen Einheitsregierung, auf die die USA dringen, seien Militärangriffe möglich, so US-Chefdiplomat Kerry. Die täglich mehr Territorium erobernde sunnitische Islamistenorganisation ISIS stelle »eine Gefahr« dar, das Zweistromland stehe »vor einer existenziellen Bedrohung«, der die irakischen Führer schleunigst begegnen müssten.

Inzwischen ist die Mehrzahl der 300 amerikanischen »Militärberater« in Irak eingetroffen, deren Entsendung Präsident Barack Obama vergangene Woche versprochen hatte. Zwar hatte Obama in seiner Erklärung am Donnerstag einen Einsatz von Bodenkampftruppen kategorisch ausgeschlossen. Doch bei den entsandten Militärs handelt es sich um Spezialeinheiten, unter anderem Navy SEALs und Army Rangers. Laut einem in CNN zitierten Ex-Militär sei der Begriff »Berater« irreführend, weil es sich in Wirklichkeit um »die besten Eliteeinheiten handelt, die wir haben – um Kampfeinheiten«. Sie werden nach anderen Medienberichten in ganz Irak verteilt zusammen mit irakischen Offizieren in Feldbüros »Karten studieren«. Darüber hinaus fungierten sie als Aufklärer vor US-Luftangriffen. Die irakische Regierung hat den 300 Spezialisten nach Angaben aus Washington Schutz vor Strafverfolgung und damit »carte blanche« für jegliche Art der Gewaltanwendung zugesichert.

Von der Androhung militärischer Gewalt und Appellen an die Regierung von Premier Nuri al-Maliki abgesehen ist eine Washingtoner Irak-Strategie nicht erkennbar. So lautete der Tenor in den Sonntagsrunden der TV-Sender und auf den Kommentarseiten der Zeitungen. Elf Jahre nach der von den USA angeführten Invasion und drei Jahre nach dem Rückzug von Zehntausenden US-Soldaten hätte Washington die Kontrolle über die irakische Politik verloren. In der außenpolitisch erfahrenen Online-Zeitung »Christian Science Monitor« hieß es, Amerikas Kontroll- und Führungsmacht in Irak sei »so schwach wie nie zuvor«. Den USA mangele es an Druckmitteln, um Maliki zu irgendeiner Form von Versöhnung mit den Sunniten bewegen zu können.

Über der Irakpolitik Washingtons, dem das Anwachsen von ISIS seit dem vergangenen Jahr nicht entgangen sein kann, tauchen immer mehr Fragezeichen auf. Die Republikaner kritisieren Obama dafür, dass er 2011 kein Restkontingent in Irak beließ. Andererseits sehen Kritiker von links die Entsendung von Militärspezialisten und mögliche Angriffe als Türöffner für einen erneuten US-Krieg.

Die linke Nahostexpertin Phyllis Bennis warnt vor einer explosiven Situation, etwa wenn der erste Special-Forces-Soldat gefangen genommen wird und eine Sucheinheit ihn finden soll. Ein weiteres Szenario: wenn ein US-Überwachungsflugzeug abgeschossen und eine Hubschrauber-Einheit zur Rettung der Piloten entsandt wird. Phyllis erinnert zudem an die Drohneneinsätze in Jemen. Das Land hatte Obama in seiner Erklärung als Vorbild für Irak und Syrien bezeichnet. Bennis sagt dazu: »Was, wenn die erste Rakete in einer Hochzeitsfeier einschlägt, die irgendein dummer Geheimdienstler für eine Lkw-Ladung voller Terroristen gehalten hat?« Zu einem offenen Krieg sei es dann nicht mehr weit.

Um diesen zu verhindern, schlägt Bennis fünf Schritte vor: den Abzug sämtlicher US-Militärs einschließlich des Flugzeugträgers, ein Waffenembargo an alle Seiten, Verhandlungen mit der Regionalmacht Iran sowie mit Russland, bei denen es auch um Syrien geht, und die Aufstockung der Flüchtlingshilfe.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 25. Juni 2014


Kerry bastelt Regierung

US-Außenminister wirbt im Irak für Einheitsregierung und Sturz von Regierungschef Maliki. Kurden: Wir haben Washington schon vor Monaten vor ISIL gewarnt

Von André Scheer **


Der Krieg im Irak hat allein in den vergangenen 17 Tagen mindestens 1075 Menschenleben gefordert. Die meisten der Opfer seien Zivilisten gewesen, erklärte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, am Dienstag in Genf. Die reale Zahl sei wahrscheinlich weit höher, betonte der Diplomat. Die Aufständischen des »Islamischen Staats im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) konnten ihren Vormarsch unterdessen fortsetzen. Wie der Nachrichtensender Al-Dschasira am Dienstag berichtete, kontrollieren sie inzwischen die nahe der nordirakischen Stadt Tikrit gelegene wichtige Erdölraffinerie Baidschi. Der irakische Außenminister Hoschjar Sebari wies das zurück. Die Anlagen würden durch irakische Spezialeinheiten kontrolliert.

Im Kampf gegen die ISIL hat sich die syrische Regierung mit dem Kabinett in Bagdad solidarisiert. Die »tragischen Ereignisse« im Irak drohten den gesamten Mittleren Osten »implodieren« zu lassen, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur SANA Informa­tionsminister Omran Al-Subi. Zugleich dementierte der Minister indirekt eine Meldung, die dpa am Dienstag unter Berufung auf arabische Medien verbreitet hatte. Demnach sollen syrische Kampfjets Stellungen der ISIL in dem irakischen Grenzort Al-Kaim bombardiert haben. Al-Subi erklärte demgegenüber, die irakische Armee bekämpfe ISIL im Irak, »und Syrien bekämpft sie in Syrien«.

Die USA ihrerseits nutzen die Bedrohung durch ISIL, um den Druck auf Iraks Regierungschef Nuri Al-Maliki zu verstärken. Nachdem US-Außenminister John Kerry am Montag in Bagdad Maliki zur Bildung einer Einheitsregierung aufgefordert hatte, in der nicht nur Schiiten, sondern auch Sunniten und Kurden vertreten sein sollten, kam er am Dienstag in Erbil mit dem Präsidenten der kurdischen Autonomiegebiete, Massud Barsani, zusammen. Diesen drängte Kerry zur Beteiligung an einem solchen Kabinett. Washingtons Chefdiplomat stößt bei seinen Bemühungen jedoch offenbar auf Skepsis. Während Barsani dem Fernsehsender Al-Arabija zufolge Maliki für die im Irak entstandene Situation verantwortlich machte und inzwischen offen mit einer Unabhängigkeit des irakischen Teils Kurdistans liebäugelt, pochte Maliki darauf, daß sich alle politischen Kräfte bei der Regierungsbildung an das in der Verfassung vorgesehene Verfahren halten müßten. Seine »Partei für Rechtsstaatlichkeit« war bei der am 30. April durchgeführten Parlamentswahl stärkste Kraft geworden, ist aber auf Koalitionspartner angewiesen. Der seit 2006 amtierende Ministerpräsident ist Washington schon lange ein Dorn im Auge, vor allem seit er offen mit dem Iran kooperiert. Andererseits lehnen die USA eine Unabhängigkeit Kurdistans ab, weil eine solche die verbündete Türkei destabilisieren könnte.

In Bagdad wird offenbar nicht ausgeschlossen, daß die US-Administration Maliki sehenden Auges in die gegenwärtige Lage geraten ließ. Am Wochenende berichtete die britische Tageszeitung The Telegraph, daß der kurdische Geheimdienst bereits vor rund fünf Monaten die Dienste der USA und Großbritanniens über den bevorstehenden Angriff der ISIL auf die Millionenstadt Mossul gewarnt hatte. Vonseiten der westlichen Verbündeten habe es jedoch keinerlei Reaktion gegeben. Wohl nicht zufällig hob das Außenministerium in Bagdad auf seiner Homepage schon in der vergangenen Woche eine Erklärung Venezuelas hervor, in der Caracas die jüngsten Terroranschläge unter anderem im Irak verurteilt. Die Regierung von Nicolás Maduro machte in diesem Statement direkt die USA und andere NATO-Staaten für die in der Region entstandene Lage verantwortlich.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 25. Juni 2014


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