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Heißbegehrtes Kirkuk

Araber, Kurden, Turkmenen richten ihre Begehrlichkeiten auf die nordirakische Stadt

Von Jan Keetman *

Gegen die Dschihadisten sind sich die anderen Gemeinschaften Iraks einig. Was aber nach einem möglichen Sieg geschieht, ist offen.

Um die Erdölstadt Kirkuk droht Irak ein neuer Konflikt. Nach dem Abzug der irakischen Armee haben kurdische Peschmerga-Truppen die Kontrolle über Kirkuk übernommen, um die Stadt vor der Einnahme durch die sunnitische Glaubenskriegertruppe Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) zu schützen. Doch bei weitem nicht alle Einwohner sind begeistert. Nicht weil sie die bärtigen Gotteskrieger herbeisehnen, sondern weil sie den Kurden nicht trauen.

Arshad Salihi, Präsident der Irakischen Turkmenenfront (ITF), versammelte einige bewaffnete Männer vor dem Büro der ITF und drohte zu kämpfen, falls die kurdische Regionalregierung die Kontrolle über Kirkuk nicht an die Zentralregierung in Bagdad zurückgibt.

Kirkuk ist eine gespaltene Stadt. Dort leben Turkmenen, Kurden, Assyrer, sunnitische Araber und – vom 2006 hingerichteten Staatschef Saddam Hussein angesiedelt – schiitische Araber. Viele Turkmenen sind während der britischen Mandatsherrschaft in den 20er Jahren nach Kirkuk gekommen, um in der Ölindustrie zu arbeiten, wo sie einen großen Teil der Ingenieure stellen. Die Turkmenen bildeten aber schon vorher ein wichtiges Bevölkerungselement in der Region. Ebenso die Kurden, deren in Liedern besungene heiße Liebe zu Kirkuk auch etwas mit dessen ökonomischer Bedeutung zu tun hat. Unwahrscheinlich, dass sie, die vor vierzig Jahren im Kampf um Kirkuk ihre dramatischste Niederlage gegen die irakische Zentralregierung erlitten haben, einfach wieder abziehen, sobald Bagdad die Stadt wieder selbst kontrollieren kann.

Allerdings verfügt die ITF nicht über die Streitkräfte, um die Kurden aus Kirkuk zu vertreiben. Turkmenenführer Salihi droht nur damit, sie aufzustellen, um gegebenenfalls loszuschlagen. Doch das ist leichter gesagt als getan. In diesem Zusammenhang ist wohl auch ein dramatischer Hilfsappell zu sehen, den der Sprecher der ITF, Ali Mehdi, im Gespräch mit einem türkischen Fernsehsender äußerte. Laut Mehdi könnten die nur an den Kampf in den Bergen gewöhnten Peschmerga aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung im Straßenkampf Kirkuk höchstens 24 Stunden gegen einen Angriff von ISIS halten. Folglich bat Mehdi dringend um ein Eingreifen der Türkei oder anderer auswärtiger Mächte.

Am Dienstag gab es Kämpfe zwischen ISIS und den Peschmerga um ein turkmenisches Dorf in der Nähe von Kirkuk. Doch die Furcht vor einer raschen Einnahme der Stadt scheint übertrieben. Die Kurden werden aus Kirkuk sicher nicht in Panik fliehen wie die irakische Armee aus Mossul. Wenn Kirkuk überhaupt erobert werden kann, so müsste ISIS um die Stadt wohl lange kämpfen.

Ungeachtet dessen sitzt das Misstrauen gegenüber den Kurden bei vielen turkmenischen und sicher auch arabischen Einwohnern tief. Nicht gerade zur Bildung von Vertrauen beigetragen hat die Plünderung eines irakischen Militärlagers durch die Kurden. Viele Waffen waren nachher auf dem Markt in Kirkuk billig zu erwerben. Es ist anzunehmen, dass zumindest ein Teil der Ausrüstung demnächst bei zahlungskräftigen Dschihadisten landet.

Von einigen Fehlern der Maliki-Regierung in Bagdad, wie die Unterdrückung politischer Konkurrenten und Korruption, ist auch die kurdische Regionalregierung in Erbil nicht frei. Indessen dürften Christen und Schiiten in Kirkuk und sicher auch viele Turkmenen insgeheim froh darüber sein, dass nun eine verlässlichere Armee in der Stadt steht.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


Kämpfe und Entführungen im Irak

Dschihadisten greifen größte Ölraffinerie an. Iran warnt Terrorgruppe ISIL. Maliki entläßt ranghohe Militärs **

Die Dschihadistentruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) hat am Mittwoch die größte Ölraffinerie im Irak angegriffen und zeitweise besetzt. ISIL-Kämpfer hatten die Anlage in Baidschi rund 200 Kilometer nördlich von Bagdad am Morgen unter Beschuß genommen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur All Iraq reagierten irakische Regierungstruppen mit Luftangriffen auf Stützpunkte der Dschihadisten.

Der irakische Ministerpräsident Nuri Al-Maliki entband ranghohe Militärs in den von ISIL-Kämpfern überrannten Regionen von ihren Aufgaben. Sie hätten versagt, ihre Stellungen verlassen und ihre Pflicht nicht erfüllt, meldete die Nachrichtenagentur Nina unter Berufung auf eine Mitteilung des Regierungschefs. Inzwischen kämpfen die Islamisten bereits wenige Dutzend Kilometer von Bagdad entfernt gegen Regierungstruppen und schiitische Freiwillige, die sich massenweise zum Dienst an der Waffe melden.

Der iranische Präsident Hassan Rohani warnte die Terrorgruppe. »Wir werden alles unternehmen, um unsere heiligen (schiitischen) Stätten Kerbala, Nadschaf und Samarra vor Terroristen und Mördern zu schützen«, sagte er in Lorestan in Südwestiran.

Aus verschiedenen Landesteilen wurden Entführungen gemeldet. Im Nordosten nahmen ISIL-Kämpfer einem Medienbericht zufolge weitere 60 ausländische Arbeiter als Geiseln, darunter 15 Türken. Auch 40 Inder, die zumeist als Bauarbeiter in Mossul tätig waren, werden nach offiziellen Angaben aus Neu-Delhi vermißt.

Angesichts der andauernden Kämpfe mit Dschihadisten im Irak hat der Präsident der kurdischen Autonomieregion, Masud Barsani, die Bevölkerung zur Gegenwehr aufgerufen. Maliki beschwor angesichts der Eskalation die Einheit aller Iraker. Bei einer im Staatsfernsehen ausgestrahlten Rede betonte er: »Der Irak ist eine Einheit – aus Sunniten, Schiiten, Arabern und Kurden.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juni 2014


Obama wartet ab

US-Kriegsschiffe im Persischen Golf. Keine Entscheidung über Militäraktionen

Von Knut Mellenthin ***


Die Absichten der US-Regierung im Irak bleiben vorerst im Nebel der Gerüchte. Barack Obama habe entschieden, in nächster Zeit auf Luftangriffe gegen die »sunnitischen Extremisten« zu verzichten, meldeten die neokonservativen Medien Wall Street Journal und Fox News am Mittwoch morgen. Zur gleichen Zeit berichtete jedoch die New York Times, daß der Präsident »selektive Luftschläge gegen Sunniten-Kämpfer« in Erwägung ziehe. Diese gezielten Angriffe würden vermutlich mit unbemannten Flugkörpern durchgeführt und könnten sich über einen längeren Zeitraum erstrecken.

Beide sich widersprechenden Gerüchte berufen sich auf denselben Typ von Quellen: »höhere Regierungsbeamte«, die ihren Namen nicht verraten wollen. Ohne etwas zu unterstellen, muß konstatiert werden, daß sich Journalisten solche Geschichten auch ganz einfach ausdenken können. Technisch gesehen ist es unmöglich, sie in solchen Fällen einer Lüge zu überführen, und anonyme Informanten dementieren nie.

Wahr ist vermutlich die Meldung vieler Medien, daß dem Präsidenten bei einem Treffen mit seinen Sicherheitsberatern, das am Montag abend stattfand, ein breites Angebot unterschiedlicher politischer und militärischer »Optionen« vorgestellt wurde. Dazu soll neben Luftangriffen unter anderem auch die Entsendung von Offizieren US-amerikanischer Spezialeinheiten gehört haben. Ihre Aufgabe könnte es sein, die irakischen Streitkräfte mit nachrichtendienstlichen Informationen zu versehen und sie bei der Abwehr der Offensive der Dschihadisten zu beraten.

Es handelt sich dabei nur um alternative Ideen, nicht schon um konkrete Absichten. Das Wall Street Journal behauptete jedoch, Weißes Haus und Pentagon würden den Einsatz von Angehörigen der Special Forces anstelle der angeblich einstweilen zurückgestellten Luftangriffe favorisieren. Einzige Quelle waren auch in diesem Fall die namenlosen »Officials«.

Eindeutig ist nur, daß Obama sich mit einer Entscheidung viel Zeit läßt. Daß sich das Kräfteverhältnis im Irak immer mehr zugunsten der Rebellen verschob, war schon vor einem halben Jahr zu erkennen. Die Kontrolle über Mossul soll de facto schon vor zwei Monaten weitgehend von den Aufständischen übernommen worden sein, auch wenn die offizielle Eroberung der Stadt erst in der vorigen Woche Schlagzeilen machte. Offenbar zog es die Oba­ma-Administration vor, den Dingen ihren Lauf zu lassen, um den Druck auf die Regierung in Bagdad bis zur Unerträglichkeit anwachsen zu lassen und die Bildung einer Koalition mit Sunniten und Kurden zu erzwingen.

»Für alle Fälle« hat Obama trotzdem schon mehrere Kriegsschiffe in den Persischen Golf geschickt. Die größte Feuerkraft ist auf dem Flugzeugträger »George H. W. Bush« konzentriert. Zu der Trägergruppe gehören wie üblich weitere Schiffe. In diesem Fall sind es unter anderem der Kreuzer »Philip­pines Sea« und der Zerstörer »Truxtun«. Außerdem befindet sich inzwischen das Landungsschiff »Mesa Verde« mit mindestens 500 Marines im Golf. Es könnte beispielsweise bei einer Evakuierungsoperation zum Einsatz kommen. Obama hat dem Kongreß außerdem am Montag die Entsendung von bis zu 275 Soldaten nach Bagdad mitgeteilt. Sie sollen, so lautet die offizielle Begründung, den Schutz des Personals der US-Botschaft verstärken und sind für Kampfeinsätze ausgerüstet.

Westliche Medien, darunter unvermeidlich auch Spiegel online, meldeten am Mittwoch, Irans Präsident Hassan Rohani habe ein »militärisches Eingreifen« seines Landes im Irak »ins Spiel gebracht«. Im Gegensatz dazu ergibt sich aus den iranischen Berichten über die Rede des Präsidenten, daß er lediglich die öffentlich erklärte Bereitschaft vieler Iraner, als Freiwillige in den Irak zu gehen, um die heiligen Stätten der Schiiten zu schützen, erwähnte. Dazu seien aber die Iraker sehr wohl selbst imstande, wies Rohani diese Stimmung zurück. Zugleich wiederholte er seine schon bekannte Aussage, daß Iran keine Soldaten zu Auslandseinsätzen schicken werde.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juni 2014


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