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Schleichende Kriegsausweitung

Hat US-Präsident Obama die Übersicht über die fortschreitende Eskalation im Irak verloren?

Von Knut Mellenthin *

Am 7. August trat Barack Obama vor die Fernsehkameras, um mitzuteilen, daß er Luftangriffe im Irak autorisiert habe. Beruhigend setzte er hinzu, daß diese Militärschläge auf zwei Aufgabenstellungen begrenzt seien: den »Schutz unserer Bürger« und die »humanitäre Unterstützung« von einigen zehntausend Jesiden, die vor den Mörderbanden des »Islamischen Staates« (IS) geflüchtet und ohne ausreichend Wasser und Nahrung am Berg Sindschar eingeschlossen waren.

Der »Schutz unserer Bürger« ist in den USA ein Totschlagargument, das selbst mutige Kritiker meist zum Schweigen bringt. Daß dieser Kampfauftrag im Irak Eskalationspotential haben würde, machte der Präsident schon am 7. August deutlich: Er konkretisierte ihn nämlich dahingehend, daß die USA Kampfflugzeuge und Drohnen einsetzen würden, um einen Vormarsch des IS auf Erbil, die Hauptstadt der Kurdenregion, zu verhindern. Dort befindet sich ein amerikanisches Konsulat, das unter anderem eine CIA-Residenz und ein Koordinationszentrum für die Zusammenarbeit mit den kurdischen Streitkräften beherbergt.

Neun Tage später, am vorigen Sonnabend, wurde aus den Nachrichten deutlich, daß die USA massive Luftangriffe durchführten, die sich aus keinem der beiden »begrenzten« Kampfaufträge ergaben, von denen Obama am 7. August gesprochen hatte: Kampfflugzeuge und Drohnen leisteten Luftunterstützung für den Versuch kurdischer Truppen, den strategisch wichtigen Mossul-Staudamm zurückzuerobern, den IS genau am 7. August unter seine Kontrolle gebracht hatte. Am Sonntag änderte das für die Kriegführung in der Region zuständige Central Command (Centcom) die Sprachregelung seiner Ereignismeldungen, die auf der Website des Pentagon zu finden sind. Während es bis dahin stets hieß, die Angriffe seien »zum Schutz von Personal und Anlagen der USA« und zur »Unterstützung humanitärer Bemühungen« erfolgt, werden seit Sonntag zusätzlich zwei weitere Aufträge standardmäßig genannt: erstens der »Schutz wichtiger Infrastruktur« und zweitens die »Unterstützung irakischer Sicherheitskräfte und kurdischer Verteidigungskräfte in ihrem gemeinsamen Kampf gegen ISIL«, wie sich der IS bis Juni nannte.

Aus der erweiterten Formulierung des Centcom ging seit Sonntag eindeutig hervor, daß es eine neue Autorisierung für Zwecke und Ziele der Luftangriffe geben muß. Diese kann eigentlich nur der Präsident erteilen. Der aber hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich dazu geäußert. Erst am Montag tauchte auf der Website des Weißen Hauses ein auf Sonntag datierter Brief von Obama an die Sprecher des Abgeordnetenhauses und des Senats auf. Darin teilte Obama mit, daß er am 14. August, also am vorigen Donnerstag, die US-Streitkräfte autorisiert habe, »gezielte Luftschläge zur Unterstützung der Operationen irakischer Kräfte zur Wiedereroberung des Mossul-Staudamms« durchzuführen. Diese Ermächtigung sei jedoch »in ihrer Aufgabenstellung und Dauer darauf beschränkt, die Kontrolle über diese wichtige infrastrukturelle Anlage zurückzugewinnen«.

Das paßt offensichtlich nicht zu der Beschreibung der neuen Autorisierung in den Centcom-Meldungen. Diese bezieht sich nicht nur auf den konkreten Einzelfall Mossul-Staudamm, sondern auch auf alle möglichen analogen Situationen. Der Wortlaut der wirklichen Autorisierung des Präsidenten wird vermutlich in absehbarer Zeit nicht veröffentlicht werden. Er muß jedenfalls erheblich weiter reichen als das, was Obama bisher preisgeben mochte. Man könnte auch sagen, der Präsident hat gelogen, was bei militärischen Eskalationen ein üblicher Kollateralschaden ist. »Mission Creep« nennt man in den USA seit langem die schleichende Kriegsausweitung in kleinen, teilweise geheimgehaltenen Schritten.

Nach Angaben des Centcom wurden seit dem 7. August im Irak insgesamt 68 Luftangriffe durchgeführt. 35 davon, also mehr als die Hälfte, fanden seit Sonnabend zur Unterstützung der Rückeroberung des Mossul-Staudamms statt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 20. August 2014


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