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Kurdenführer Barsani will jetzt Fakten schaffen

KDP-"Außenminister" Hawrami: "Der Staat Irak ist fertig" / ISIS-Dschihadisten nahmen in Syrien Ölfeld ein *

Der Präsident der kurdischen Autonomieregion bittet das kurdische Parlament um ein Unabhängigkeitsreferendum. In Syrien geht der ISIS-Vormarsch weiter.

Der Staat Irak droht auseinanderzubrechen. Der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Norden Iraks, Massud Barsani, bat das Parlament um die Vorbereitung eines Referendums für die Unabhängigkeit Kurdistans. Das Parlament werde ein Datum festlegen und eine Wahlkommission einberufen, sagte der Außenbeauftragte der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), Hemin Hawrami, nach der Sitzung in Erbil vor Journalisten. Das betreffe auch die mit der Regierung in Bagdad umstrittenen Gebiete wie die ölreiche Stadt Kirkuk. »Diese Gebiete sind jetzt schon faktisch Teile Kurdistans«, fügte er hinzu. »Das ist ein historischer Tag.«

Seinen Worten nach entschied sich die kurdische Regierung zu diesem Schritt, »weil der Staat Irak fertig ist«. Von insgesamt 111 Parlamentariern seien 110 bei der Sitzung gewesen. Und alle hätten den Vorschlag begrüßt, betonte Hawrami. Iraks Ministerpräsident Nuri al-Maliki sei gescheitert, und die Kurden teilten 1050 Kilometer Grenze mit der Terrormiliz ISIS und nur noch 15 Kilometer mit der irakischen Armee. »Es gibt eine neue Realität, und damit müssen wir umgehen.« Er rechnete damit, dass das Referendum bald abgehalten werden kann.

Zum Nein aus Iran, der Türkei und den USA zu einer kurdischen Unabhängigkeit sagte er: »Das kurdische Selbstbestimmungsrecht wird hier im Parlament entschieden und nicht in Ankara, nicht in Teheran und nicht in Washington.« Die Botschaft aus Erbil sei: »Kurdistan wird zur Stabilität in der Region beitragen.« Wer das nicht akzeptiere, entscheide sich letztlich für »das Chaos in Mossul, Tikrit und anderen Regionen«. Der Parlamentarier Mohammedali Taha verteidigte den Anspruch auf Kirkuk und andere Städte, um die es bisher Streit mit der Bagdad gab.

Nach einem Rückzug anderer islamistischer Kämpfer hat die Gotteskrieger-Gruppe ISIS große Teile des Ostens Syriens unter ihre Kontrolle gebracht. Die Milizen hätten unter anderem in der Nähe der Großstadt Dair as-Saur das wichtige Ölfeld Al-Omar kampflos von der dschihadistischen Nusra-Front übernommen, berichtete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Isis beherrscht nun im Norden und Osten Syriens erstmals eine Region, die von der irakischen bis an die türkische Grenze reicht. Das Gebiet ist fünfmal so groß wie Libanon und erstreckt sich von der Grenze zu Irak bis an die nordöstlichen Ränder der Millionenstadt Aleppo.

* Aus: neues deutschland, Freitag 4. Juli 2014


Schwarze Fahnen an der Grenze

Kurden gegen ISIL-Gotteskrieger – türkische Regierung schweigt unter Verweis auf Geiseln

Von Nick Brauns **


Gotteskrieger des »Islamischen Staates im Irak und in der Levante» (ISIL/ISIS) haben Mitte der Woche mit einem Angriff auf den kurdischen Kanton Kobani (Ain Al-Arab) im Norden Syriens begonnen. Zum Einsatz kamen Panzer, die die dschihadistischen Banden von der irakischen Armee erbeutet hatten. Die Kämpfe rund um den Ort Zor Mexar, bei denen nach Angaben kurdischer Volksverteidigungseinheiten (YPG)mindestens 30 ISIL-Kämpfer getötet und ein Panzer zerstört wurden, dauerten am Donnerstag an. Die Dschihadisten haben seit längerer Zeit einen Großangriff auf Kobani vorbereitet und dafür schwere Waffen aus dem Irak nach Syrien gebracht. Im Internet kursieren Aufnahmen einer Truppenparade von ISIL in seiner faktischen Hauptstadt Rakka im Norden Syriens, bei der die Dschihadisten erbeutete Kampf- und Schützenpanzer sowie eine Skud-Rakete präsentieren. Seit Ende Mai hält ISIL rund 130 kurdische Schüler im Alter von 13 und 14 Jahren als Geiseln fest, die auf dem Rückweg von Examensprüfungen in Aleppo nach Kobani verschleppt wurden. Im Austausch für die Kinder verlangen die Dschihadisten die Freilassung von ISIL-Mitgliedern aus der Kriegsgefangenschaft der YPG.

Ein Schüler, der entkommen konnte, berichtete gegenüber dem US-Sender CNN, daß die Kinder in Scharia-Recht unterrichtet wurden und Filme mit Selbstmordattentaten und Exekutionen ansehen mußten. Nach Angaben der Kurdischen Front, einer Einheit der oppositionellen Freien Syrischen Armee, die sich im Raum Aleppo schwere Kämpfe mit ISIL liefert, setzen die Dschihadisten Kinder auch als Selbstmordattentäter ein. 13 Kinder, von denen die jüngsten zwölf Jahre alt sind, seien in der Region Aktarin bei Aleppo mit Sprengsätzen am Körper gefaßt worden, erklärte ein Mitgliede der Kurdischen Front gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur Hawar.

Das von ISIL Ende Juni ausgerufene irakisch-syrische Kalifat grenzt bei der zwischen Kobani und Aleppo gelegenen Stadt Tell Abjad direkt an die Türkei. Von türkischer Seite der Grenze aus sind die schwarzen Fahnen von ISIL zu sehen. Doch ein anonym bleibender Beamter des Außenministeriums erklärte gegenüber dem Internetportal Al-Monitor, die Türkei betrachte »weder ISIL noch die anderen radikalen Gruppierungen als eine direkte Bedrohung unserer Sicherheit«. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wies Anschuldigungen der Opposition zurück, nicht auf eine Bedrohung durch ISIL zu reagieren. »Niemand soll von mir erwarten, daß ich ISIL provoziere«, erklärte Erdogan unter Verweis auf 80 bei der Eroberung von Mossul in die Hand der Dschihadisten geratene türkische Geiseln, darunter der Generalkonsul von Mossul und weitere Diplomaten, aber auch mehrere Lastwagenfahrer. Rund um die Uhr werde daran gearbeitet, eine sichere Rückkehr der Geiseln in ihre Heimat zu erreichen, erklärte das türkische Außenministerium am Mittwoch.

Ansonsten spielt das Thema in der türkischen Regierungspolitik und den ihr nahestehenden Medien kaum eine Rolle. Dies nährt Spekulationen, wonach die Gefangennahme der Diplomaten von der türkischen Regierung billigend in Kauf genommen wird. Trotz Warnungen über den bevorstehenden ISIL-Angriff war das Konsulatspersonal nicht in die nur eine halbe Stunde von Mossul entfernt liegende sichere kurdische Autonomiezone abgezogen worden. Soldaten einer Spezialeinheit, die das Konsulat schützte, hatten die Weisung erhalten, nicht gegen ISIL zu kämpfen. »Daß ISIL immer noch den türkischen diplomatischen Stab als Geiseln festhält, ist ein Plan des türkischen Staates«, vermutet daher der Oberkommandierende der YPG, Sipan Hemo. »Die Türkei, die wir kennen, würde in so einer Situation nicht so passiv bleiben.«

Ankara hatte ISIL von türkischem Territorium aus gegen syrische Regierungstruppen und das kurdische Selbstverwaltungsgebiet operieren lassen. Unter Verweis auf die Sicherheit der Geiseln kann die türkische Regierung weiterhin ihre Passivität gegenüber den Gotteskriegern rechtfertigen.

Türkische Medien meldeten unterdessen Freilassung von 31 von ISIL verschleppten türkischen Lastwagenfahrern im Irak.

** Aus: junge Welt, Freitag 4. Juli 2014


Ölquellen unter ISIL-Kontrolle

Islamische Fundamentalisten offenbar die neuen Herren im Osten Syriens und Teilen des Irak ***

Der Vormarsch der Organisa­tion Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL/ISIS) geht auch in Syrien weiter. Nach einem Rückzug anderer Gruppen die gegen die Regierung Assad kämpfen, konnte ISIL angeblich große Gebiete im Ostens des geschundenen Landes unter Kontrolle bringen. Die Milizen hätten unter anderem in der Nähe des Ortes Dair as-Saur das wichtige Ölfeld Al-Omar kampflos von der dschihadistischen Al-Nusra-Front übernommen, berichtete die syrische »Beobachtungsstelle für Menschenrechte« am Donnerstag. ISIL beherrsche nun im Norden und Osten Syriens erstmals eine zusammenhängende Region.

Das Gebiet sei fünfmal so groß wie das Nachbarland Libanon, teilten die syrische Nichtregierungsorganisation weiter mit. Demnach erstreckt sich die ISIL-Kontrolle mit wenigen Ausnahmen von dem Ort Abu Kamal an der Grenze zum Irak bis an die nordöstlichen Ränder der Stadt Aleppo.

Al-Omar ist eines der größten syrischen Ölfelder. Die Al-Nusra-Front, laut westlichen Geheimdiensten ein Ableger des »Terrornetzwerkes Al-Qaida«, und andere islamistische Milizen hatten es im November 2013 in Kämpfen mit der syrischen Armee erobert. Die Regierung in Damaskus habe damals die Kontrolle über eine der wichtigsten Energie- und Einnahmequellen des Landes verloren. Die Al-Nusra-Front steht in scharfer Konkurrenz zu der ISIL-Truppe. Beide Gruppen bekämpfen sich auch mit militärischen Mitteln, seit es Anfang des Jahres zum Bruch zwischen ihnen gekommen war.

Die fundamentalistische Organisation ISIL hatte am vergangenen Sonntag ein islamisches »Kalifat« in den beiden Ländern ausgerufen. Zugleich benannte sich die Gruppe in »Islamischer Staat« um. Ihre Kämpfer kontrollieren auch große Teile im Norden und Westen des Iraks. Erklärtes Ziel der Organisation, die hauptsächlich von Anhängern der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam gebildet wird, ist eigenen Angaben zufolge der »Marsch auf Bagdad«.

*** Aus: junge Welt, Freitag 4. Juli 2014


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