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Kaum noch Schutz

Irak: Peschmerga kapitulieren vor Dschihadisten. Massenflucht aus Sengal. Kurdische Milizen aus Syrien überqueren Grenze

Von Nick Brauns *

Dschihadisten der Gruppe »Islamischer Staat« (IS) haben in den vergangenen Tagen mehrere kurdische Städte im Irak erobert. Während kurdische Peschmergakämpfer in diesen außerhalb des kurdischen Autonomiegebietes gelegenen »umstrittenen Gebieten« vor den Gotteskriegern kapitulierten, griffen Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus dem kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava in Nordsyrien zum Schutze der Zivilbevölkerung im Nachbarland ein.

Am Wochenende eroberte IS große Gebiete nördlich und westlich von Mossul einschließlich der Städte Sengal (Sindschar) und Sumar. Auch der größte Staudamm des Irak 40 Kilometer nordwestlich von Mossul am Tigris fiel nach einen Ultimatum an die Peschmerga kampflos unter die Kontrolle der Dschihadisten, die zudem zwei weitere Ölfelder besetzten. Sengal ist das wichtigste Siedlungsgebiet ezidischer Kurden, deren 4000 Jahre alte monotheistische Religion dort ihren Ursprung hat. Für die Dschihadisten gelten die Eziden als »Teufelsanbeter«, deren Ermordung sie für legitim halten.

Der Vormarsch des IS in das Stadtzentrum von Sengal löste eine Massenflucht aus. Insgesamt sind in der Region UN-Angaben zufolge in den vergangenen Tagen 200000 Menschen geflohen. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für den Irak, Nikolaj Mladenov, warnt vor einer »humanitären Tragödie«. Die vom IS in den Sengal-Bergen eingeschlossenen Flüchtlinge bräuchten Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente. Der Zentralrat der Yeziden in Deutschland warnte am Montag in einer Presseerklärung vor einem drohenden Völkermord. Aus verschiedenen Dörfern würden Massaker berichtet, in der Stadt Sengal seien 30 Männer hingerichtet worden. Zudem seien rund 100 Frauen und Mädchen von IS verschleppt worden. Zahlreiche Menschen seien zudem auf der Flucht in die kahlen Berge verdurstet.

Mit der Einnahme der an Syrien grenzende Region wollen die Dschihadisten einen durchgehenden Korridor über Tal Afar nach Mossul kontrollieren. Die in Sengal stationierten Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des kurdischen Präsidenten Masud Barsani waren vor dem Ansturm der Gotteskrieger in die Berge oder über die syrische Grenze nach Rojava geflohen. Angesichts des in westlichen Medien verbreiteten Bildes der Peschmerga – der Name bedeutet »Die dem Tod ins Auge sehen« – als kampferprobter Eliteeinheiten mag dieser Zusammenbruch der kurdischen Verteidigung erstaunen. Doch bei den heutigen Peschmerga handelt es sich nicht mehr um die heroischen Bergkrieger, die sich einen jahrzehntelangen Partisanenkampf mit der Bagdader Zentralregierung lieferten, sondern um Söldnertruppen der Regierungsparteien KDP und Patriotische Union Kurdistans (PUK), die zudem kaum über schwere Waffen verfügen. Bislang hatten die USA Forderungen ihrer kurdischen Schützlinge nach schweren Waffen stets zurückgewiesen, damit diese keine Alleingänge bei der Ausrufung eines unabhängigen Kurdenstaates wagen. Während die US-Regierung jetzt über Militärhilfe für die Peschmerga berät, wurden Informationen aus Erbil zufolge am Wochenende bereits schwere Waffen unbekannter Herkunft am Flughafen der Hauptstadt der Autonomen Region entladen.

Nachdem die Peschmerga die Zivilbevölkerung von Sengal schutzlos ließen, überquerte am Sonntag eine größere Einheit der Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus Rojava die Grenze. Im Verbund mit jungen Eziden lieferten sie sich auch am Montag schwere Gefechte mit IS-Kämpfern. Zu Kämpfen kommt es auch um den von der YPG kontrollierten syrisch-irakischen Grenzübergang Til Kocer, über den eine Verbindungsstraße nach Mossul verläuft. Nachdem 400 dort stationierte Peschmerga nach Rojava geflohen waren, überquerten YPG die Grenze, um an der Seite eines gegen die Weisung seiner militärischen Leitung in der irakischen Grenzstadt Rabiah verbliebenen Peschmergabatallions gegen IS-Milizen zu kämpfen.Die hochmotivierten YPG scheinen derzeit die einzige Kraft zu sein, die sich dem Ansturm der Dschihadisten erfolgreich entgegenstellt.

* Aus: junge Welt, Dienstag 5. August 2014

Drohendes Massaker nach Vorstoß von IS in Sengal

Pressemitteilung von Civaka Azad, 04.08.2014

IS nimmt yezidische Stadt Sengal (Sindschar) ein – Kurdische Peshmergekräfte ziehen sich zurück – Tausende Menschen flüchten vor drohendem Massaker – YPG rückt für Kampf gegen IS aus Rojava an

Nach zweitägigen Angriffen haben Kämpfer des Islamischen Staates (IS) am 3. August die Stadt Sengal (Sindschar) im Norden des Iraks eingenommen. Kurz vor der Einnahme der Stadt durch die Islamisten wurde vermeldet, dass die südkurdischen Peshmergekräfte sich aus der Region zurückziehen und die Bevölkerung gegen die Islamisten sich selbst überlassen werden.

Die Bevölkerung von Sengal gehört der kurdischen Religionsgemeinschaft der Yeziden an. Aufgrund der Furcht vor Massakern durch die Islamisten befinden sich zehntausende Menschen aus der Region auf der Flucht. Viele der Menschen flüchten in Richtung Norden nach Dihok (Dohuk) in die Autonome Region Kurdistan. Diejenigen, die allerdings keine Fahrzeuge mehr finden konnten, flüchteten zu Fuß auf die an die Stadt angrenzenden Sindschar Berge. Auch rund 20.000 turkmenische Schiiten, die nach der Einnahme ihrer Heimatstadt Tal Afar nach Sengal geflohen waren, flüchteten weiter in dasselbe Gebirge. Durch die knappen Lebensmittelvorräte droht eine humanitäre Katastrophe für die Menschen in den Sindschar Bergen. Am späten Abend erreichte uns eine Meldung, wonach die Islamisten einen Teil der Flüchtlinge in den Bergen umzingelt hätten und ihnen eine Frist bis zum Morgen gegeben hätten, um zum Islam zu konvertieren. Sollte das nicht geschehen, werde man sie mit dem Tode bestrafen. Um wie viele Menschen es sich hierbei handelt und wie ihre Situation jetzt ist, ist derzeit unklar.

Nach dem Rückzug der Peshmergekräfte aus Sengal gab es Meldungen, dass diese sich nur vorübergehend zurückgezogen hätten, um auf weitere Unterstützung zu warten. Bis gestern Abend bewahrheitete sich diese -Meldung allerdings nicht. Stattdessen erreichten knapp zwei Stunden, nachdem der Einzug der Islamisten in die Stadt vermeldet wurde, Kämpferinnen und Kämpfer der YPG (Volksverteidigungseinheiten) aus Rojava (Nordsyrien) die Region Sengal, um gegen die Islamisten zu kämpfen. Die Kämpfe zwischen beiden Gruppen konzentrieren sich seither im Norden von Sengal auf den Ort Sinunê.

In Sengal sollen die Mitglieder der IS bereits die ersten Massaker an der Zivilbevölkerung verübt haben. Laut Angaben des Pressesprechers der PUK (Patriotische Union Kurdistan) in Mosul Xeyri Sengali sollen die Islamisten im Til Izer bei Sengal zwölf Menschen aus derselben Familie ermordet haben. Zudem seien dutzende Mädchen und junge Frauen von den Islamisten entführt worden.

Die Bevölkerung von Sengal hatte in der jüngeren Vergangenheit mehrfach die politischen Verantwortlichen in der Autonomen Region Kurdistan dazu aufgerufen, die Sicherheitsvorkehrungen für die Stadt zu verstärken, da die dort lebenden Yeziden erklärtes Ziel der Islamisten seien. Ein Angebot der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) aus den Kandilbergen, dass die Volksverteidigungskräfte der HPG für den Schutz von Sengal sorgen könnten, wurde von der KDP unter der Führung von Barzani nicht gestattet. Im Zuge der aktuellen Angriffe von IS und dem Rückzug der Peshmergekräfte der KDP erneuerten nun die Yeziden aus Sengal mit einem dringenden Aufruf die Bitte um Unterstützung bei der Verteidigung ihrer Heimat.

Die Stadt Sengal gilt als heilige Stätte für die Glaubensgemeinschaft der Yeziden. Sie war bereits im August 2007 Angriffsziel islamistischer Organisationen. Bei mehreren zeitgleichen Bombenanschlägen wurden damals über 700 Zivilisten ermordet.

Neben Sengal sind auch an irakischen Grenze zu Rojava/Nordsyrien im Ort Rabia Auseinandersetzungen zwischen der YPG und IS ausgebrochen. Auch dort zogen sich zunächst die unter der Kontrolle der südkurdischen KDP stehende Peshmergekräfte vor den Gefechten mit den Islamisten zurück. Rund 700 von ihnen verließen ihre Stellungen und flohen über den Grenzübergang Til Koçer (Al Yarubia) nach Rojava. Später erreichten uns allerdings Meldungen, dass Teile der Peshmergekräfte an der Seite der YPG den Kampf gegen die Islamisten aufgenommen haben.

Durch die Angriffe auf Sengal und Rabia beabsichtigt IS von Mosul aus in Richtung Westen über Tal Afar bis zur Grenze nach Rojava einen Korridor unter ihre Kontrolle zu bringen. Über dieses Gebiet könnten die Islamisten auch zu neuen Angriffen gegen den Kanton Cizîre in Rojava ansetzen.

In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen in Südkurdistan forderte Nilüfer Koç, Ko-Vorsitzende des Kurdistan Nationalkongresses (KNK), auf unsere Anfrage, dass die kurdischen politischen Kräfte eine gemeinsame Verteidigungslinie entwickeln müssen. „IS greift die gesamte Gesellschaft an. Sie zwingt die Menschen aus der Region nicht nur ihre Heimat zu verlassen, sie zerstört auch das kulturelle Erbe Mesopotamiens. IS will sich für ihre Niederlage in Kobanê nun in Sengal rächen. Wenn die gesamte Gesellschaft zum Ziel der Angriffe der IS gemacht wird, so müssen die Gesellschaft und die Politik gemeinsam gegen diese Gruppe agieren. Eine gemeinsame Verteidigungslinie aller kurdischen politischen Kräfte ist unabdingbar“, so Koç.

Quelle: Newsletter der Informationsstelle Kurdistan e.V., 04.08.2014




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