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Die Mörder einfangen

Aggression des Westens gegen den Irak: Brüsseler Tribunal fordert Strafverfolgung von Verantwortlichen

Von Karin Leukefeld *

Vor dem Hintergrund täglicher Anschläge und heftiger Kämpfe um die westirakischen Städte Falludscha und Ramadi soll im Irak Ende April ein neues Parlament gewählt werden. Im Vorfeld der Abstimmung haben internationale Anwälte und Menschenrechtsaktivisten in Brüssel für die strafrechtliche Verfolgung der Politiker plädiert, die das Zweistromland mit Sanktionen, Kriegen, dem Einsatz geächteter und höchst giftiger Waffen und jahrelanger Besatzung zerstört haben.

Im Rahmen der Jahreskonferenz der Internationalen Vereinigung Demokratischer Anwälte (IADL) in Brüssel befaßte sich am 16. und 17. April die Irak-Kommission des BRussells Tribunals (www.brussellstribunal.org) mit Kriegsverbrechen, die von den USA und der von ihren geführten »Koalition der Willigen« gegen den Irak verübt wurden. Unter Mitwirkung irakischer und internationaler Anwälte, Augenzeugen, Journalisten und Wissenschaftlern ging es um die Folgen der UN-Sanktionen (1990–2013), den Einsatz von Uran- und anderen Vernichtungswaffen sowie um die Auswirkungen der Besatzungspolitik (2003–2012). Insbesondere der 2003 völkerrechtswidrig und unter Angabe falscher Beschuldigungen von den USA geführte Krieg hat einen souveränen Staat wirtschaftlich und gesellschaftlich verwüstet, führten die Redner aus. Schließlich ging es um ein gemeinsames Vorgehen, mit dem die kriegführenden Staaten und deren Regierungen für die Zerstörung des Iraks zur Rechenschaft gezogen werden können.

Der kanadische Wirtschaftsprofessor Michel Chossudovsky warnte vor dem »langen Krieg«, den die US-Administration gegen die Welt begonnen habe und der die Zukunft der gesamten Menschheit bedrohe. Dieser »grenzenlose Krieg« finde während der größten Weltwirtschaftskrise statt und habe in Afghanistan und Irak begonnen. Große Teile der Weltbevölkerung würden in die Verelendung geführt, ihre Länder zertrümmert, so Chossudovsky. Das US-Verteidigungsministerium (Pentagon) habe einen militärischen Plan für die Eroberung der Welt entwickelt, derzeit seien US- und NATO-Truppen gleichzeitig an vielen Orten der Welt im Einsatz. Die Globalisierung gehe einher mit einer weltweiten Militarisierung. Die Destruktivkraft eines »Dritten Weltkriegs« mit neuen Waffensystemen und Technologien werde alles bisher Gewesene in den Schatten stellen.

Die Zerstörung des Irak, einst das fortschrittlichste Land der arabischen Welt, begann bereits mit dem vom Westen und den Golfstaaten befeuerten Krieg gegen den Iran (1980–1988). Die irakische Journalistin und Augenzeugin Eman Khamas verwies auf die bis heute sichtbaren Verbrechen dieser Zeit. Nach der völkerrechtswidrigen Besatzung Kuwaits (August 1990) durch den Irak, der damit auf die unrechtmäßige Ausbeutung seiner südlichen Ölfelder durch Kuwait reagiert hatte, wurden von den Vereinten Nationen umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Bagdad verhängt. Die irakische Armee wurde während ihres Rückzugs im Februar 1991 von den US-Truppen und der »Koalition der Willigen« in Schutt und Asche gelegt. Dabei seien Hunderte Tonnen Munition aus abgereichertem Uran zum Einsatz gekommen, so Khamas. Bis heute schädigten die Kriegsfolgen dieser giftigen Munition Kinder und Neugeborene. Die irakische Gesellschaft sei zutiefst erschüttert und gespalten, jeder Iraker werde nach seiner Herkunft, Religion oder Stammeszugehörigkeit eingeordnet. Der Geophysiker und Ingenieur Ghazwan Al-Mukhtar, der das Land 2003 verlassen mußte, sprach über die nachhaltigen Schäden, die durch die langen Wirtschaftssanktionen das Land ruiniert haben. Eine halbe Million Kinder war zwischen 1990 und 1996 allein durch Unterernährung und mangelhafte medizinische Versorgung infolge der Sanktionen gestorben. Gefragt von einer Fernsehjournalistin, ob die vielen toten Kinder nicht ein zu hoher Preis seien, verteidigte die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright die Sanktionspolitik: »Wir glauben, es ist den Preis wert.«

Es sei höchste Zeit, »die Kriegsverbrecher einzufangen«, erklärte Dirk Adriaensens, Mitorganisator der Brüsseler Konferenz und langjähriger Friedensaktivist. Öffentliche Aktionen sollten die Kampagne gegen Straffreiheit für Kriegsverbrechen im Irak begleiten. Ehemalige und aktive Regierungsvertreter der USA und Großbritanniens müßten sich juristisch in aller Öffentlichkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Invasionen und der Besatzung verantworten. Ziel sei die Zahlung von Wiedergutmachung »an Millionen irakische Opfer«. Das könne in einem großen Prozeß ebenso geschehen wie bei einzelnen Strafverfahren. Iraker könnten auf dem juristischen Weg erreichen, daß – wie im Fall des chilenischen Machthabers Pinochet – verklagte Politiker bei Auslandsreisen mit einer Festnahme rechnen müßten.

* Aus: junge welt, Mittwoch 23. April 2014


Vergiftetes Land

Chemiewaffen im Irak

Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen aus dem Irak und US-Veteranen machen sich für die Anerkennung des »giftigen Erbes der US-Besatzung im Irak« stark. Unter dem Motto »Das Recht auf Heilung« macht die Kampagne auf Krankheiten aufmerksam, die durch den rücksichtslosen Einsatz giftiger Waffen im Irak ganze Generationen zerrütten. Ziel der Kampagne ist, daß die Verursacher für die Kriegsschäden Verantwortung übernehmen und Wiedergutmachung leisten müssen.

In der Kampagne »Right to Heal« arbeiten Frauenrechtlerinnen, Gewerkschafter, US-Veteranen und deren Angehörige gegen den Krieg zusammen. Bei einer Anhörung, die kürzlich in Washington stattfand, war die einhellige Meinung, daß die US-Regierung das irakische Volk entschädigen muß und für die Entsorgung der giftigen Kriegsrückstände verantwortlich ist. Irakische Redner und Angehörige von ehemaligen US-Soldaten im Irak sprachen über die Folgen der Munition aus abgereichertem Uran, die in großen Mengen in den Kriegen 1990/91 und 2003 eingesetzt worden war. Große Gefahren gehen demnach auch von Verbrennungsanlagen aus, die teilweise in unmittelbarer Nähe von Wohngebieten liegen. Dort werden ungeschützt Munition, Chemikalien, Gummi, Plastik und anderer militärischer Abfall verbrannt, wobei Blei und Quecksilber freigesetzt wird. Neben dem abgereicherten Uran machen Ärzte und Wissenschaftler auch diese Stoffe für die hohen Raten an Krebserkrankungen, Geburtsschäden und Herzerkrankungen verantwortlich. Yanar Mohammed von der Organisation für die Freiheit der Frauen im Irak forderte die Entschädigung aller betroffenen Familien und daß alle verseuchten Gebiete gereinigt werden müssen.

Unterstützt wird die Kampagne vom Zentrum für Verfassungsrechte (Center for Constitutional Rights). »Es gibt nichts, das für die Schäden dieses Krieges entschädigen kann«, sagte dessen Vertreterin Pam Spees. »Aber wir wollen Gerechtigkeit.« Es müsse nach Lösungen und Antworten gesucht werden und danach, »daß so etwas nie wieder geschieht.« (kl)




»Aufklärung durch Feuer«

Wie die Stadt Falludscha zerstört wurde

Von Karin Leukefeld **


Die zweite Belagerung von Falludscha Ende 2004 gilt als die »blutigste Schlacht« der US-Besatzung im Irak. Rund 4000 irakische Widerstandskämpfer standen der dreifachen Zahl von US-amerikanischen, britischen und irakischen Soldaten gegenüber. Unter den eingesetzten 6500 US-Marines war der damals 20jährige Ross Caputi. Vor der Irak-Kommission, die Mitte Februar in Brüssel tagte, legte der jugendlich wirkende 30jährige Zeugnis über seinen Einsatz ab, eine der »mörderischsten Militäroperationen«, die heute weitgehend vergessen ist. »Mein Name ist Ross Caputi. Ich war Gefreiter der US-Marines im November 2004 in Falludscha.« Zurückhaltend spricht der ernst blickende Caputi über seinen Einsatz während der zweiten Belagerung von Falludscha, die zwischen dem 7. November und dem 23. Dezember 2004 den einst boomenden Wirtschaftsknotenpunkt westlich von Bagdad in Schutt und Asche legte.

»Falls Sie es nicht wissen sollten, diese zweite Belagerung von Falludscha war eine der größten Militäroperationen während der Besatzung im Irak«, sagt der Sohn italienischer Einwanderer. Sechs Bataillone waren für den Angriff auf die Stadt zusammengezogen worden. Über den Einsatz und dessen Ziel seien er und die anderen Soldaten schlecht informiert gewesen. Niemand habe sie über die »Feinde« aufgeklärt. »Unser Vorgesetzter sagte uns, daß alle Zivilisten Falludscha verlassen hätten, die einzigen Leute, die noch dort wären, seien Kämpfer«, so Caputi. »Aber das stimmte nicht. Das Rote Kreuz schätzte die Zahl der in Falludscha festsitzenden Zivilisten damals auf bis zu 50000.« Weder er noch seine Einheit hätten das gewußt. Die Soldaten seien instruiert worden, an den Kontrollpunkten um die Stadt herum niemanden durchzulassen. Vor allem »Männer im kampffähigen Alter, egal ob es Hinweise gab, daß es sich um Widerstandskämpfer handelte oder nicht«. Caputi weiter: »Was wir getan haben, ist nicht zu entschuldigen, egal, wie sehr wir von unseren Vorgesetzten manipuliert worden sind.« Es sei aber wichtig zu wissen, wie sie in den Kampf geschickt worden seien. Die Vorgesetzten hätten den Soldaten vorgemacht, daß sie sich keine Sorgen um Zivilisten machen müßten, erklärt Caputi die Wirkung dieser falschen Darstellung: »Also konnten wir gegen unsere sogenannten Feinde mit voller Feuerkraft vorgehen.« Luftangriffe wurden geflogen, rücksichtslos Panzer und Bulldozer eingesetzt. »Wir haben nie irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um auszuschließen, daß dort Zivilisten sein könnten«, erinnert sich Caputi. »Wir sind nach einer Taktik vorgegangen, die man ›Aufklärung durch Feuer‹ nennt. Das heißt, man schießt auf alles, zum Beispiel ein Gebäude, um zu sehen, ob sich Kämpfer darin befinden. (…) Nie haben wir die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß in den Häusern, auf die wir feuerten, vielleicht Zivilisten Schutz gesucht haben.« Die Soldaten hätten Nahrungsmittel in den Wohnhäusern vernichtet, er habe gesehen, wie eine Einheit mit Bulldozern ein gesamtes Viertel dem Erdboden gleich gemacht habe, »ein Haus nach dem anderen«. Nach nur wenigen Tagen habe sich eine »dreckige Atmosphäre in meiner Einheit« entwickelt, erinnert sich der ehemalige US-Marine. »Es wurde viel geplündert. Ich habe Leute gesehen, die die Taschen der toten Widerstandskämpfer nach Geld durchsuchten. Einige haben ihre Leichen geschändet. Einmal habe ich gesehen, wie ein Soldat meiner Einheit aus Versehen einen Zivilisten erschossen hat. Nichts wurde unternommen, wir haben einfach so getan, als sei es nicht passiert.« Ein anderes Mal hätten sie gewußt, daß ein zehnjähriger Junge mit zwei Widerstandskämpfern in einem Haus gewesen sei: »Wir haben das Haus zerstört, alle drei wurden darin begraben.«

Seine Erfahrung in Falludscha sei nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was dort geschehen sei, gibt Ross Caputi zu bedenken. Da er während der Operation für den Funkverkehr zuständig war, wisse er nicht im einzelnen, welche Waffen eingesetzt wurden. »Aber ich habe gesehen, daß weißer Phosphor aus der Luft über Falludscha abgefeuert wurde.« Er habe gewußt, daß es sich um eine chemische Waffe gehandelt habe, dachte damals aber, daß »nicht viele Zivilisten gefährdet« seien. Heute wisse er es besser, denn »der Phosphor verteilt sich schnell mit dem Wind und bedeckt weite Gebiete«. Die Waffe hätte nie über den Wohngebieten eingesetzt werden dürfen.

Die ganze Mission sei »illegal« gewesen. Jahre habe er gebraucht, um zu verstehen, was damals geschehen sei und sich »der Wahrheit zu stellen über das, woran ich beteiligt war«. Mit dem Projekt »Gerechtigkeit für Falludscha« will Ross Caputi über das Leid aufklären, das »unsere Gesellschaft über die unschuldigen Menschen in der Stadt gebracht hat«

** Aus: junge welt, Mittwoch 23. April 2014


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