Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Das kurdische Volk kann sich verteidigen"

Militärische Interventionen sollen ethnisch verfolgte Völker abhängig machen. Ein Gespräch mit Songül Talay *


Songül Talay ist Vorstandsmitglied des kurdischen Ceni-Frauenbüros für Frieden in Düsseldorf.


Seit die Terrorgruppen des »Islamischen Staates« (IS) im Nordirak einmarschiert sind und das dortige jesidische Zentrum, die Stadt Shengal, eingenommen haben, sind Zehntausende kurdische Jesiden auf der Flucht. Kurdische Frauenorganisationen haben Freitag in Berlin und Samstag in Hannover demonstriert, weil insbesondere die Lage der kurdischen Frauen im Nord­irak katastrophal ist. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Seit 3. August hält aber der »Islamische Staat« die jesidischen Gebiete um Sindschar nahe der Stadt Mossul besetzt und hat bisher mehr als 3000 Menschen getötet, Hunderttausende mußten fliehen. Diese Terrororganisation hatte Jahre zuvor schon Angriffe auf Ortschaften in Nordsyrien ausgeübt. Es ist kein Zufall, daß sie jetzt die Gegend um Shengal angreifen und auch nicht, daß sie insbesondere die Frauen bekämpfen. Ziel dieser Organisation ist es, das kurdische Volk zu vernichten. Die Zahlen sind noch unklar; jedoch mindestens 2000 Frauen haben sie aus Shengal verschleppt. In Mossul wurde dann ein Sex-Sklavinnen-Markt aufgebaut, wo die Frauen verkauft werden. Viele von ihnen wurden erst öffentlich vergewaltigt – dann dem Markt zur Verfügung gestellt, pro Frau für 150 Dollar. Am Donnerstag und Freitag hat »IS« weitere 700 Frauen aus einem Dorf, nahe bei Shengal, entführt. Die Strategie der Terrororganisation ist es, Männer und Kinder zu schlachten und die Frauen zu entführen. Wer sich der Zwangsislamisierung nicht unterwirft, also nicht zu ihrem Glauben konvertieren möchte, wird geköpft. Es ist nicht nur ein Genozid, ein Völkermord, sondern auch ein Feminizid. Viele Frauen haben Suizid begangen, um Foltermethoden zu entgehen. Einige wurden zum Beispiel mit den Händen an ein Fahrzeug gekettet und durch das Dorf geschleift.

Wie ist die derzeitige Situation der Überlebenden?

Etwa rund 30000 mußten ihre Häuser verlassen, viele sind in die Berge bei Sengal geflüchtet. Dort aber müssen Sie befürchten, mit ihren Kindern zu verhungern oder zu verdursten. Durch das Eintreffen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Guerillakräfte (HPG) konnte dort ein weiteres Massaker verhindert werden. Die Zahl der Flüchtlinge steigt weiter. Sie bedürfen dringend der humanitären Hilfe aller westlichen Staaten; auch aus Deutschland. Die läuft allerdings nur schleppend an, alles geht viel zu langsam. Gebraucht werden Medikamente, Decken, Nahrung, Kleidung, Zelte, Trinkwasser und Babynahrung, aber auch Infrastruktur wie Strom und Wasser.

Hierzulande ist auch unter Linken eine Debatte entbrannt: Ist den angegriffenen Jesiden im Nordirak mit Waffenlieferungen an die kurdischen Verteidigungseinheiten zu helfen – oder besser ausschließlich mit humanitären Gütern. Wie sieht dies die kurdische Frauenbewegung?

Über Waffenlieferungen wird zu viel diskutiert. Humanitäre Hilfe wird dagegen nicht ausreichend, nicht schnell und effektiv genug geleistet. Die Befreiungsbewegungen können sich schon selber helfen. Vielmehr sollte endlich ein Stopp aller Waffenlieferungen erfolgen; in erster Linie dürfen Saudi-Aabien, Katar, aber auch das NATO-Mitglied Türkei nicht mehr beliefert werden. Denn letztere reichen sie weiter an die Terrororganisation »IS«. Das ist der Skandal. Deshalb sollten westliche Regierungen politischen Druck auf diese Staaten ausüben. Es macht keinen Sinn, sie weiterhin mit Waffen zu versorgen – und zugleich die Gegenseite, die kurdischen Organisationen, aufzurüsten. Dann wird der Krieg nie ein Ende nehmen.

Militärische Unterstützung ist also nicht erwünscht?

Das kurdische Volk ist selber in der Lage, sich zu verteidigen. Machen wir uns doch nichts vor: Militärische Interventionen von außen dienen doch meist dem Zweck, ethnisch verfolgte Völker abhängig zu machen, um diese anschließend für eigene imperialistische Machtinteressen auszunutzen. Diplomatischer Druck auf die Länder, die die Terrororganisation »IS« politisch und finanziell unterstützen, wäre aber hilfreich.

Ist ein weiteres Vorrücken der IS-Terrorgruppen durch die Offensive von US-Bombern zu stoppen?

Nein. Dies betonen auch die betroffenen Frauen im Nordirak uns gegenüber immer wieder: Dieser Konflikt ist nicht militärisch zu lösen, sondern nur politisch. Auch die USA würden besser daran tun, die humanitäre Hilfe zu verstärken. Es kommt zuwenig bei der Bevölkerung an, sowohl in den Bergen als auch in Shengal.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Montag 18. August 2014


Hilferuf der Jesiden

Tausende Jesiden und Kurden fordern Unterstützung für die Minderheiten in Nordirak

Von Martin Dolzer **


Zu dem Protestmarsch in Hannover waren Menschen aus ganz Deutschland angereist: Die Veranstalter zählten 30 000 Menschen, die auf die Verbrechen der IS-Milizen aufmerksam machen wollten.

Mehrere Tausend Jesiden und Kurden haben am Wochenende in Hannover gegen die Gräueltaten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an religiösen Minderheiten in Nordirak demonstriert. Sie hielten am Samstag Fotos von Kindern mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Höhe, »Stoppt den Terror«, »Stoppt den Völkermord« stand auf Plakaten, »Lang lebe der Widerstand in Sengal« war immer wieder zu hören. Die Polizei sprach von mindestens 11 000 Teilnehmern, laut Organisatoren waren es mehr als dreimal so viele.

Auf einer Kundgebung sprachen Vertreter der Jesiden, der kurdisch-syrischen PYD, der Assyrischen Christen, des Europäischen Rates der Armenier, kurdischer Frauenorganisationen und der Alevitischen Gemeinde sowie SPD-Politiker. Sämtliche Redner sprachen sich für sofortige humanitäre Hilfe für die vor der IS geflohenen Bevölkerungsgruppen und insbesondere für die von den jüngsten Massakern betroffenen Jesiden in der Region Sengal aus. Dabei töteten die »Glaubenskrieger« lokalen Menschenrechtlern zufolge mehr als 3000 Menschen, etwa 5000 wurden entführt. Insgesamt befinden sich zwischen 200 000 und 300 000 Menschen auf der Flucht.

Die religiöse Minderheit der Jesiden stammt aus Irak, Syrien, der Türkei und aus Iran. Wegen ihrer Verfolgung vor allem in Irak sind viele der Gläubigen ins Ausland geflohen. In Deutschland leben zwischen 40 000 bis 100 000 Gläubige, die meisten von ihnen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Hannovers Bürgermeister Stefan Schostok lobte die Demonstration als »wertvolles Signal für ein respektvolles Zusammenleben der Menschen«. Die Menschen in Kurdistan hätten ein Anrecht auf ein Leben in Frieden und ohne Verfolgung, so der SPD-Politiker. Mehrere Redner betonten, dass es die kurdisch-syrischen Verteidigungskräfte sowie die Guerilla der PKK waren, die einen Korridor von Sengal nach Syrien erkämpften und dadurch mehr als 50 000 Menschen das Leben retteten. Sämtliche Bevölkerungsgruppen in der Region sollten gemeinsam Widerstand organisieren, forderte ein Vertreter des Europäischen Rates der Armenier. Wenig Vertrauen hat man hingegen in die europäischen Staaten und die USA, dass diese den Aufbau einer selbstbestimmten Demokratie im Mittleren Osten fördern. Das könne nur die Bevölkerung vor Ort, so der Tenor bei der Demonstration.

Eindringlich beschreiben Teilnehmer die Lage in Nordirak: »Seit zwei Wochen massakrieren IS-Terroristen Jesiden in Sengal an der syrischen Grenze zu den kurdischen Autonomiegebieten in Nordirak. Ihre Führung hat dazu aufgefordert, Ungläubige zu vernichten. Immer wieder berichten Augenzeugen von Folter, Vergewaltigungen und Vertreibung«, so eine Vertreterin des kurdischen Frauenverbands. Die Dschihadisten hätten auch einen Staudamm am Tigris und Ölfelder erobert. In Mossul und weiteren Orten seien zuvor Christen von den Gräueltaten betroffen gewesen.

Seit letzter Woche greift die IS die Stadt Jalawla nahe der irakisch-iranischen Grenze an. »Dort kämpfen die Peschmerga der PUK gemeinsam mit der PKK gegen die menschenverachtenden Terrorbanden,« betonte ein Vertreter der Patriotischen Union Kurdistans PUK. Das Vorstandsmitglied im Rat der Jesiden, Ali Atalan, sprach sich für humanitäre Hilfe, aber gegen Waffenlieferungen an die Kurdische Autonomieregierung aus. »Die Waffenexporte an die Türkei, Saudi Arabien und Katar müssen unterbunden werden, da diese Staaten die IS unterstützen«, sagte er. Viele Redner forderten zudem, das PKK-Verbot in Europa aufzuheben.

** Aus: neues deutschland, Montag 18. August 2014


Zurück zur Irak-Seite

Zur Irak-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage