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Atomfrage als Vorwand

Ehemaliger iranischer Botschafter erläutert in Berlin, warum sein Land die Bombe nicht baut

Von Daniel Bratanovic *

Hossein Mousavian glaubt nicht an einen Militärschlag gegen sein Land. Der Iraner, einstiger Botschafter in Deutschland und ehemaliger Verhandlungsleiter Irans bei der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), gab sich überzeugt, daß die Kriegsdrohungen Israels gegen die Islamische Republik wegen einer vermeintlichen Atomwaffenfähigkeit des Landes lediglich ein Bluff seien, eine, wenngleich erfolgreiche, Drohkulisse, um Sanktionen zu provozieren. Für einen Alleingang sei Israel zu schwach, während die USA angesichts der Erfahrungen im Irak und in Afghanistan zögerten.

Mousavian war auf Einladung der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) am Montag in Berlin, um seinen, wie er betonte, persönlichen Standpunkt darzulegen. Im Rahmen des Projekts »Dialog statt Bomben. Kein Krieg im Nahen und Mittleren Osten« will die Vereinigung vor einem möglicherweise drohenden Krieg gegen den Iran warnen. »Ein Militärschlag hätte verheerende Folgen für die iranische Zivilbevölkerung und könnte die ganze Region destabilisieren«, sagte Matthias Jochheim, Vorsitzender der IPPNW.[Siehe die Erklärung der IPPNW weiter unten.] Unter Berufung auf eine Studie der Universität Utah machte er darauf aufmerksam, daß Angriffe auf die vier iranischen Atomanlagen in Isfahan, Natanz, Arak und Bushehr bis zu 10000 Tote und Verletzte fordern könnten. Weitere 100000 Opfer seien infolge der atomaren Verseuchung möglich. Aus diesem Grund forderte Xanthe Hall die Bundesregierung auf, daß sie jede Beteiligung an einem Krieg ausschließt und sich gegenüber den USA und Israel dafür einsetzt, ebenfalls von einem Angriff abzusehen. Von der im Dezember in Helsinki stattfindenden Konferenz zur Bildung einer von Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten erwartet sich die Abrüstungsexpertin der IPPNW, daß daraus eine dauerhafte Institution nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) erwachse, die 1973 ihren Auftakt ebenfalls in der finnischen Hauptstadt hatte. Die von Mousavian vorgestellten Vorschläge bezeichnete Hall als »sehr brauchbar«.

Der Exbotschafter, derzeit Gastwissenschaftler an der Princeton University in den USA, begründete seine Auffassung, warum der Iran keine Atomwaffen anstrebe. Sowohl die IAEO als auch ein gemeinsames Dossier von sechzehn US-amerikanischen Geheimdienste kämen zu dem Schluß, daß der Iran kein Nuklearwaffenprogramm verfolge. Atomwaffen brächten zudem bestenfalls einen kurzfristigen Vorteil, da andere Länder der Region, wie die Türkei und Saudi-Arabien, ihrerseits nach atomarer Aufrüstung strebten. Die Atomwaffendiskussion bezeichnete Mousavian als Vorwand. In Wirklichkeit gehe es darum, den wachsenden Einfluß Irans zurückzudrängen. »Mein Vorschlag zur Stabilisierung der Region ist eine enge Kooperation zwischen Saudi-Arabien, Irak und Iran für Sicherheit und Frieden, gegen organisierte Kriminalität, Drogen und Terrorismus.«

* Aus: junge Welt, Dienstag, 23. Oktober 2012

Hier geht es zur Rede von Seyed Hossein Mousavian:

20 Reasons Iran is not after Nuclear Bomb
Berlin, October 23, 2012 (englisch)




Dialog statt Bomben

Kein Krieg gegen den Iran – Sanktionen aufheben - Dialog statt Bomben - Kein Krieg gegen den Iran

IPPNW-Presseinformation vom 22.10.2012

Die 1985 mit dem Friedennobelpreis ausgezeichnete Ärzteorganisation IPPNW verurteilt die jüngsten EU-Sanktionen. „Sie sind kontraproduktiv für eine Lösung des Irankonflikts und schaffen enormes Leid für die iranische Zivilbevölkerung“, erklärt der IPPNW-Vorsitzende Matthias Jochheim. Er fordert die deutsche Bundesregierung auf, sich stattdessen für eine massen-vernichtungswaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten einzusetzen. Angela Merkel solle sich dafür stark machen, dass sowohl Israel als auch der Iran an der für den 14.-16. Dezember 2012 in Helsinki geplanten Konferenz teilnehmen, auf der über Schritte zu einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Mittleren und Nahen Osten beraten werden soll.

Jochheim warnt zudem vor Kriegsdrohungen der Regierung Netanjahu und hetzerischer Rhetorik der Regierung Ahmadinedschad. „Ein Militärschlag hätte verheerende Folgen für die iranische Zivilbevölkerung und könnte die ganze Region destabilisieren“, so der IPPNW-Vorsitzende. Die Autoren der im September erschienenen Studie „The Ayatollah’s Nuclear Gamble - The human cost of military strikes against iran’s nuclear facilities” (Hinckley Institut an der Universität Utah) rechnen für vier atomare Anlagen in Isfahan, Natanz, Arak und Bushehr und ihr Umfeld bei einem möglichen Angriff mit konventionellen Waffen mit bis zu 10.000 Toten und Verletzten. Hinzu kämen noch weit über 100.000 Folgeopfer im Umfeld der Anlagen. Abhängig von dem radioaktiven Inventar in den Anlagen und der Wetterlage würden toxische und radioaktive Stoffe weite Gebiete verseuchen und entsprechende Folgen für Mensch, Umwelt und Wirtschaft haben.

Parallel zu Verhandlungen über eine massenvernichtungswaffenfreie Zone fordert die IPPNW zudem eine dauerhafte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten einzurichten, um eine Grundlage für einen Friedensprozess zu erörtern und mögliche vertrauensbildende Maßnahmen zu verabreden. Hierzu gehören Sicherheitsgarantien bzw. Nichtangriffspakte, die Verhandlung über Territorialstreitigkeiten und Konflikte um Energie- und Wasserressourcen sowie Existenz- und Menschenrechte. Mögliche Ansatzpunkte für Lösungen wären ökonomische und soziale Kooperation, der Ausbau von erneuerbaren Energien und Umweltschutzprogrammen, Kulturaustausch- und Bildungsprogramme sowie Friedensfachdienste.

Modell für eine solche Konferenz wäre die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die - parallel zu den nuklearen Abrüstungsverträgen START - vertrauensbildende Maßnahmen und Vereinbarungen zur gemeinsamen Sicherheit (vor allem den KSE-Vertrag) ausarbeitete. Als Anregung für einen staatlichen Prozess haben die IPPNW und andere Organisationen einen zivilgesellschaftlichen Prozess ins Leben gerufen. Im Januar 2011 kamen VertreterInnen aus acht Ländern der Region zu einer Vorbereitungskonferenz in Bad Boll zusammen: Irak, Iran, Israel, Jordanien, Kuwait, Palästina (inkl. Gaza), Syrien und Türkei, um eine gemeinsame regionale Identität zu definieren und diese zur Grundlage eines Emanzipations-prozesses der Region zu machen.

** Eine Zusammenfassung der Studie der Universität Utah finden Sie unter http://nucleargamble.org [externer Link]

Mehr Informationen bei www.ippnw.de


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