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Irans Revolutionsgarden fordern mehr Prozesse

Französin und Botschaftsmitarbeiter vor Gericht *

Irans Revolutionsgarden haben einen Prozess gegen Oppositionsführer gefordert. Die Anstifter der regierungskritischen Proteste müssten »verurteilt und bestraft« werden, forderte der politische Chef der Elitetruppe, Jadollah Dschawani. Unterdessen wurde der Prozess gegen Demonstranten fortgesetzt, bei dem auch eine Französin auf der Anklagebank saß.

Irans Expräsident Mohammed Chatami sowie die beiden unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Mir-Hossein Mussawi und Mehdi Karubi müssten wegen ihrer Rolle bei den Protesten gegen die Präsidentenwahl im Juni »verurteilt und bestraft« werden, schrieb der politische Chef der Revolutionsgarden, Jadollah Dschawani, in der Wochenzeitung der Truppe »Sobhe Sadegh«. Auch Vizegeneralstabschef Massud Dschasajeri sprach sich dafür aus, die Anführer des »Komplotts« vor Gericht zu stellen. Deren Verurteilung verhindere künftige Verschwörungen, erklärte Dschasajeri laut Nachrichtenagentur Irna.

Die Französin Clotilde Reiss musste sich am Sonnabend gemeinsam mit iranischen Oppositionellen vor einem Revolutionsgericht verantworten. Bei der Anhörung erschien gut ein Dutzend Beschuldigte, insgesamt müssen sich rund 100 Demonstranten vor Gericht verantworten. Die Angeklagten hätten im Auftrag der Opposition und fremder Staaten einen Plan entwickelt, um die Regierung zu stürzen, sagte Chefankläger Abdulresa Mohabati laut Nachrichtenagentur Fars.

Reiss stand nach einem Irna-Bericht wegen des Sammelns von Informationen und des Anstachelns von Krawallmachern vor Gericht. Sie gestand demnach, einen Bericht über die Proteste gegen die Präsidentenwahl für die Kulturabteilung der französischen Botschaft geschrieben zu haben. Sie gab auch zu, zu den Demonstrationen gegen Präsident Mahmud Ahmadinedschad gegangen zu sein.

Die seit dem 1. Juli inhaftierte Reiss entschuldigte sich demnach und bat darum, »begnadigt« zu werden. Das Außenministerium in Paris forderte die »sofortige« Freilassung der 24-jährigen Lektorin. Auch die Vorwürfe gegen eine einheimische Mitarbeiterin der Kulturabteilung der Botschaft in Teheran, Nasak Afschar, seien »nicht existent«. Afschar sagte aus, die Botschaft habe Demonstranten Zuflucht bieten wollen. Das französische Außenministerium kritisierte, dass Reiss und Afschar kein Anwalt zur Seite gestellt wurde.

Vor Gericht stand auch der Iraner Hussein Rassam, der für die britische Botschaft arbeitet. Er war mit acht Kollegen festgenommen worden, die aber später freigelassen wurden. Ihm wird Spionage vorgeworfen. Großbritanniens Außenminister David Miliband bezeichnete den Prozess als Provokation, die schwedische EU-Ratspräsidentschaft forderte die Freilassung der Botschaftsangehörigen. Ungeachtet der Proteste kündigte Ahmadinedschad an, dem Parlament bis Mitte August seine Regierung vorzustellen. In dem Kabinett werde eine »nie dagewesene Zahl junger Minister« vertreten sein, zitierte die Nachrichtenagentur Isna den Staatschef, der am Mittwoch (5. August) für seine zweite Amtszeit vereidigt worden war.

Die Polizei teilte unterdessen mit, die im Gefängnis Kahrisak ums Leben gekommenen Demonstranten seien nicht an Schlägen von Polizeibeamten, sondern an einer Viruserkrankung gestorben. Nach Berichten über den Tod zweier Demonstranten in dem Gefängnis hatte der oberste geistliche Führer Ajatollah Ali Chamenei die Schließung der Haftanstalt angeordnet.

* Aus: Neues Deutschland, 10. August 2009


Personalien: "Passioniert" **

Seit sechs Wochen sitzt Clotilde Reiss in Iran in Haft. Die Freilassung kann dauern, denn am Wochenende legte die junge Französin vor dem Revolutionsgericht in Teheran ein »Geständnis« ab. Sie gab zu, einen Bericht über die Proteste gegen die umstrittene Präsidentenwahl im Juni verfasst und sich an Demonstrationen beteiligt zu haben.

Ihr Interesse an Iran rührt aus der Kindheit. »Clotilde hat ihre Mama verloren, als sie noch klein war«, berichtet eine Freundin der Tageszeitung »Le Parisien«. Eine iranische Kinderfrau habe ihr auch Farsi beigebracht, das sie heute fließend spricht.

Nach dem Abitur studierte Clotilde in Lille Politische Wissenschaften. Für ihre Diplomarbeit, die das iranische Bildungssystem und die Schulbücher seit der islamischen Revolution behandelte, weilte sie 2008 für einige Monate mit einem Stipendium des Französischen Instituts für Iran-Forschungen (IFRI) - einer der französischen Botschaft zugeordneten Einrichtung - in Teheran. Nach Abschluss ihres Studiums bekam sie Anfang 2009 das Angebot, für ein halbes Jahr an der Universität der iranischen Provinzstadt Isfahan Französisch zu unterrichten. »Sie hat großen Respekt für die Kultur des Landes und ein ausgeprägtes Gefühl für die Sitten und Regeln in Iran«, sagt einer ihrer ehemaligen Professoren. »An Politik ist sie nicht besonders interessiert«, glaubt ein Mitstudent.

Pures Interesse am heutigen Leben in Iran soll sie veranlasst haben, als Beobachterin zu zwei Demonstrationen am 15. und 17. Juni in Isfahan zu gehen. Darüber verfasste sie einen Bericht für das IFRI in Teheran, was ihr nun zur Last gelegt wird. Den Richtern gegenüber »gestand« sie auch, vor Jahren als Praktikantin am französischen Atomenergiekommissariat, wo ihr Vater als Ingenieur arbeitet, auf der Grundlage von Zeitungsartikeln und Internet-Informationen einen Bericht über die iranische Atompolitik geschrieben zu haben.

Verhaftet wurde Clotilde Reiss am 1. Juli, vor dem beabsichtigten Rückflug nach Frankreich. Im Evin- Gefängnis, wo sie am 31. Juli ihren 24. Geburtstag beging, teilte sie ihre Zelle mit drei Iranerinnen. In einem Telefongespräch erklärte sie vor dem Prozess, sie lasse »den Mut nicht sinken«, mache sich aber doch »Sorgen um die Zukunft«. Ralf Klingsieck, Paris

** Aus: Neues Deutschland, 11. August 2009




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