Suche nach Kriegsanlaß
Analyse. Gerüchte über Angriffsvorbereitungen gegen Iran sind unglaubwürdig. Ein militärischer Konflikt könnte dennoch nahe bevorstehen
Von Knut Mellenthin *
Seit der Verabschiedung der vierten
Sanktionsresolution des
UN-Sicherheitsrats am 9. Juni überschlagen sich die Gerüchte und
Mutmaßungen über bald mögliche militärische Angriffe gegen Iran. Sie
erreichen eine Umlaufgeschwindigkeit und Verbreitung, die ohne das
Internet unvorstellbar wäre. Indessen werden solche Geschichten schon
seit mindestens sechs Jahren regelmäßig von unterschiedlichen, nicht
immer präzise zu identifizierenden Stellen in die Welt gesetzt. Auf
iranischer Seite hat man sich längst daran gewöhnt, alle diese Gerüchte,
ebenso wie die ständigen konkreten Angriffsdrohungen israelischer
Politiker, Militärs und Geheimdienstler, als »politische Kriegführung«
abzutun, mit der Iran eingeschüchtert werden solle. Am 30. Juni sagte
Präsident Mahmud Ahmadinedschad in einem langen Gespräch mit der
japanischen Nachrichtenagentur Kyodo, niemand könne und werde es wagen,
Iran anzugreifen, nicht einmal die USA und erst recht nicht Israel. »Sie
glauben, daß sie Vorteile für die Verhandlungen gewinnen können, wenn
sie den Knüppel in der Hand halten, aber sie sollten wissen, daß das
bestimmt nicht geschehen wird.«
Ob Irans maßgebliche Politiker und Militärs sich wirklich militärisch
sicher fühlen oder ob sie diese scheinbar unbekümmerte Reaktion
lediglich für den sinnvollsten Umgang mit den permanenten
Kriegsdrohungen halten, läßt sich nicht klären. Offensichtlich ist
jedoch, daß die Prognosen der vergangenen Jahre über einen nahen
Kriegstermin sich alle als falsch erwiesen haben. Vielen Gerüchten war
anzusehen, daß sie zum Zweck der Desinformation in die Welt gesetzt
worden waren. Auch die derzeit kursierenden Sensationsgeschichten
erweisen sich bei näherem Hinsehen als unglaubwürdig.
Das schließt indessen keineswegs mit Sicherheit aus, daß die USA oder
Israel schon innerhalb der nächsten Monate einen Krieg gegen Iran
auslösen könnten. Als Start könnten provozierte militärische
Zwischenfälle oder ein israelischer Luftangriff auf das Atomkraftwerk
bei Buschehr dienen, das nach vielmaligen Verschiebungen nun wohl doch
im September in Betrieb genommen werden soll. Die bekannte Logik
israelischer Politik spricht für einen Angriff noch vor der Einbringung
der Brennelemente in den Reaktor. Im Vorfeld könnte die Produktion von
offensichtlichen Falschmeldungen über militärische
Vorbereitungsmaßnahmen auch als bewußte Ablenkungstaktik interpretiert
werden.
Destabilisierende Falschmeldungen
Die Serie der jüngsten Gerüchte eröffnete am 12. Juni, nur drei Tage
nach der Entscheidung im UN-Sicherheitsrat, die britische Times. Die
ehemals als zwar konservativ, aber seriös geltende Tageszeitung ist,
seit sie 1981 vom neokonservativen Mediengroßunternehmer Rupert Murdoch
übernommen wurde, schon wiederholt als Ausgangspunkt einschlägiger
Falschmeldungen aufgetreten. Mehr noch gilt das für die in gleicher Hand
befindliche Sunday Times. Typisch für beide Blätter sind Artikel, deren
zentrale Behauptungen fast ausschließlich auf anonymen, nicht
verifizierbaren »Quellen« beruhen.
Am 12. Juni waren es »militärische Quellen in der Golfregion«,
»US-amerikanische militärische Quellen in dem Gebiet« und »Quellen in
Saudi-Arabien«. Unter Berufung auf diese behauptete die Times, die
saudische Regierung habe Israel die Erlaubnis erteilt, für Angriffe
gegen Iran einen »schmalen Luftraumkorridor« im Norden des Landes zu
benutzen, um die Flugstrecke abzukürzen. Israelische Flugzeuge hätten
selbst mit Auftanken in der Luft Schwierigkeiten, die Ziele im Iran zu
erreichen, wenn sie nicht über Saudi-Arabien fliegen dürften, schrieb
zumindest die Times. Das saudische Militär habe bereits Tests gemacht,
um das kurzzeitige Abschalten ihrer Luftabwehr für einen solchen Fall zu
erproben. Das Ganze erfolge mit Zustimmung des US-Außenministeriums.
Auffallend war, daß nicht nur die saudische Regierung die Meldung sofort
dementieren ließ, sondern kurz darauf auch Irans Präsident
Ahmadinedschad auf klare Distanz ging: »Zweifellos« seien die USA und
Israel »Feinde Irans und Saudi-Arabiens«. Daher versuchten sie, zwischen
den beiden Ländern »eine Kluft zu schaffen«. »Wenn Iran und
Saudi-Arabien zusammenstehen, werden es unsere Feinde nicht wagen, mit
ihrem aggressiven Verhalten, der Besetzung und dem Druck gegen die
moslemische Welt fortzufahren.« - Grundsätzlich ist festzustellen, daß
Teheran auf alle westlichen Versuche, die Staaten der arabischen
Halbinsel gegen Iran auszuspielen und in Front zu bringen, mit Appellen
zur Einheit antwortet.
Am 19. Juni meldete die in London erscheinende propalästinensische
Tageszeitung Al-Quds Al-Arabi, daß der US-Flugzeugträger »Harry S.
Truman« und elf oder zwölf weitere Kriegsschiffe den Suezkanal in
Richtung Indischer Ozean und Persischer Golf durchfahren hätten. Die
Meldung stimmte. Fragwürdig waren und sind jedoch die daran geknüpften
Spekulationen, daß diese außergewöhnlich massive Flottendemonstration,
an der übrigens auch die deutsche Fregatte »Hessen« teilnahm, bereits
Teil unmittelbarer Kriegsvorbereitungen sei. Kritiker dieser
Überlegungen wiesen darauf hin, daß immer wieder NATO-Kriegsschiffe den
Suezkanal durchfahren und daß das Besondere in diesem Fall nur deren
möglicherweise vorübergehende Zusammenfassung zu einem großen Verband
gewesen sei. Die US-Marine hat schon seit Jahren ständig mindestens
einen Flugzeugträger, zeitweise auch zwei, mit Begleitschiffen in der
Nähe Irans stationiert. Diese wechseln sich alle fünf bis sechs Monate
ab. Zur Zeit spricht nichts gegen die Annahme, daß die »Truman«
routinemäßig den in der Region befindlichen Träger »Dwight D.
Eisenhower« ablösen soll.
Am 23. Juni erschien in allen israelischen Medien ein Sensationsbericht,
dem angeblich eine Meldung der iranischen Nachrichtenagentur Fars
zugrunde lag. Ob es diese wirklich gegeben hat, ist ungewiß. Im
englischen Dienst der Agentur ist sie nicht zu finden, angeblich auch
nicht in der Landessprache Farsi. Einige Quellen behaupten, die Meldung
sei lediglich auf Arabisch erschienen. Sicher ist jedenfalls, daß ein
solches Gerücht der erklärten Politik der iranischen Führung - sich
nicht einschüchtern zu lassen - total widerspräche. Anders als das für
Fars im Westen gern gebrauchte Attribut »halboffiziell« suggerieren
soll, herrscht allerdings in iranischen Medien eine erstaunliche
Anarchie, oft in Verbindung mit mangelnder Professionalität. Soll
heißen: Es kann nicht sicher ausgeschlossen werden, daß das Gerücht
wirklich zuerst von Fars veröffentlicht wurde.
Im wesentlichen besagte es, daß am 18. und 19. Juni israelische
Hubschrauber auf dem saudi-arabischen Militärflughafen Tabuk gelandet
seien. Die Besatzungen hätten dort militärische Ausrüstung abgeladen und
neun Kilometer von der Stadt entfernt einen Stützpunkt errichtet. Alle
zivilen Flüge von und nach Tabuk seien in dieser Zeit eingestellt
worden. Ein angeblicher Zeuge wurde mit der Aussage zitiert, den
Flugpassagieren seien Hotelübernachtungen bezahlt worden. Angesichts des
Fehlens sonstiger Quellen für die ganze Geschichte ist nicht
auszuschließen, daß das Gerücht seine Wurzel zunächst in einer Störung
des saudischen Flugverkehrs hatte. Kritiker weisen darauf hin, daß ein
permanenter israelischer Stützpunkt auf saudischem Gebiet einen hohen
Grad an Unwahrscheinlichkeit hat, zumal er selbstverständlich nicht
geheimgehalten werden könnte. Schon gar nicht aber mache eine Basis in
Tabuk irgendeinen erkennbaren Sinn im Zusammenhang mit möglichen
Kriegsvorbereitungen gegen Iran. Denn der Ort liegt nur 200 Kilometer
vom israelischen Hafen Eilat entfernt, würde also keine nennenswerte
Verkürzung der langen Flugstrecke zu den iranischen Zielen darstellen.
Behauptungen und Spekulationen
Falschmeldungen über eine angebliche militärische Kooperation zwischen
Israel und Saudi-Arabien verfolgen einen mehrfachen Zweck. Neben dem
Schüren von Zwietracht und Mißtrauen dienen sie auch der Legende, Iran
habe, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die gesamte »internationale
Gemeinschaft« gegen sich. Vor allem die zionistische Propaganda
verbreitet unermüdlich das Märchen, die arabischen Staaten hätten vor
Iran viel mehr Angst als vor Israel, und sie würden sich wegen Irans
nicht vorhandenen Atomwaffen weitaus mehr Sorgen machen als wegen der
real existierenden israelischen. Die wirkliche Situation, daß Israel zur
Zeit in der Region völlig isoliert ist, wird in ihr Gegenteil verkehrt.
Da es keine offiziellen, verifizierbaren Aussagen in diesem Sinne gibt,
müssen nicht zu widerlegende anonyme »Quellen« herhalten.
Am 26. Juni meldeten arabische Zeitungen der Golf-Region, darunter
Akhbar Al-Khaleej und Gulf Daily News (beide aus Bahrain), daß in
Aserbaidschan - einem postsowjetischen Nachbarstaat Irans -
US-amerikanische Bodentruppen und israelische Kampfflugzeuge stationiert
worden seien. Das würde in der Tat die Flugstrecke zu den iranischen
Zielen entscheidend verkürzen. Außerdem werde, diesen Gerüchten aus wie
üblich anonymen Quellen zufolge, auf dem Seeweg über das Schwarze Meer
militärisches Material, größtenteils aus US-Beständen, zu einem nicht
namentlich genannten georgischen Hafen transportiert. »Georgische
Küstenwacht und israelische Lotsen« (controllers) würden
zusammenarbeiten, »um die Operationen vor russischen Schiffen zu
verbergen«, behauptete die Gulf Daily News.
Nicht überprüfbare Behauptungen und Spekulationen, daß Aserbaidschan
bereit sein könnte, sich als Hinterland für Militärschläge gegen Iran
zur Verfügung zu stellen, kursieren seit Jahren. Sie dienen
hauptsächlich der Vergiftung des Verhältnisses zwischen den beiden
Staaten. Das allein ist allerdings kein sicherer Beweis, daß alle
Gerüchte total falsch sind. Belastbare Indizien für diese von der
aserbaidschanischen Regierung mehrfach zurückgewiesene Theorie gibt es
indessen nicht. Was aber die aktuellen Behauptungen angeht, sind sie
äußerst unwahrscheinlich und durch keine identifizierbare Quelle gestützt.
Bereits am 30. Mai hatte die Sunday Times gemeldet, drei israelische
U-Boote mit nuklear bestückten Cruise Missiles seien »im Golf nahe der
iranischen Küste im Einsatz«. Es handele sich um die in Deutschland
produzierten U-Boote der Delphin-Klasse, die Israel zu mehr als der
Hälfte geschenkt wurden. Daß sie atomar nachrüstbar seien, ist zwar eine
plausible Annahme, die aber nicht bewiesen ist. Überhaupt beruht alles,
was die israelischen Atomwaffen angeht, einschließlich ihrer Anzahl,
fast ausschließlich auf Vermutungen. Die angebliche Entsendung der drei
U-Boote in den Persischen Golf diene als Signal der Abschreckung, aber
auch der Sammlung militärischer Erkenntnisse und eventuell der Landung
von Agenten des Geheimdienstes Mossad, schrieb die Sunday Times. Die
U-Boote seien schon früher gelegentlich in den Golf eingefahren. Aber
jetzt sei die Entscheidung gefallen, permanent mindestens eines der sich
abwechselnden Boote dort zu haben.
Rückblick: Kriegsgerüchte
An dieser Stelle ist ein kurzer Rückblick auf die wichtigsten
Kriegsgerüchte der letzten Jahre angebracht: Im Oktober 2003 wußte der
Spiegel zu berichten, der Mossad habe den Auftrag bekommen, Pläne zur
Zerstörung der iranischen Atomanlagen auszuarbeiten.
Während des Jahres 2004 wurde auf mehr oder weniger linken
Internetseiten immer stärker die Überzeugung aufgebaut, daß Präsident
George W. Bush noch vor der Wahl im November, die über seine zweite
Amtszeit entscheiden würde, einen Krieg gegen Iran eröffnen wolle, um
seine Siegeschancen zu verbessern.
Im März 2005 behauptete die Sunday Times, das sogenannte innere Kabinett
des damaligen Regierungschefs Ariel Scharon habe die Ausarbeitung von
Angriffsplänen gegen Iran und die Vorbereitung von Militärschlägen
beschlossen.
Im November 2006 berichtete der international angesehene US-Journalist
Seymour Hersh im Magazin The New Yorker, »Insider« im amerikanischen
Regierungsapparat würden noch während der (im Januar 2009 ablaufenden)
Amtszeit von Bush mit militärischen Angriffen gegen Iran rechnen.
Im Januar 2007 meldete die Sunday Times unter Berufung auf nicht näher
bezeichnete »israelische Militärquellen«, daß Israel den Einsatz von
Nuklearwaffen gegen Iran plane. Zwei Luftwaffengeschwader übten bereits
Angriffe auf iranische Atomanlagen.
Im März 2007 berichtete die Nachrichtenagentur AP, die US-Marine führe
ihr größtes Manöver im Persischen Golf seit Beginn des Irak-Krieges vor
vier Jahren durch. An den Militärübungen seien zwei Flugzeugträger mit
ihren Begleitschiffen und mehr als 10000 Soldaten beteiligt. 100
Kampfflugzeuge sollten Angriffe gegen die iranische Küste trainieren.
Die Meldung stimmte offenbar. Falsch waren nur die weit verbreiteten
Interpretationen, die das Manöver fast schon als Kriegsbeginn ansahen.
Am 2. September 2007 behauptete die Sunday Times, daß das
US-Kriegsministerium rund 1200 iranische Ziele für Luftangriffe
festgelegt habe. Am 23. September 2007 meldete dasselbe Blatt, das
Pentagon habe schon im Juni eine streng geheime Planungsgruppe für einen
Luftkrieg gegen Iran eingesetzt.
Am 4. Mai 2008 berichtete die Sunday Times unter Berufung auf anonyme
Quellen, die US-Streitkräfte würden an Plänen für einen »chirurgischen
Schlag« gegen ein Ausbildungslager irakischer Milizen auf iranischem
Gebiet arbeiten. Präsident Bush sei entschlossen, das »Iran-Problem«
nicht an seinen Nachfolger zu übergeben, ohne eine militärische
Konfrontation auf den Weg gebracht zu haben.
Mögliche Provokationen
Bei aller begründeten und notwendigen Skepsis gegenüber der Gerüchteflut
gibt es aber auch reale Indikatoren für einen militärischen Konflikt
noch im laufenden Jahr. Der wichtigste ist die zu vermutende
Entschlossenheit Israels, den Reaktor von Buschehr zu zerstören, bevor
er in Betrieb genommen werden kann. Als Termin dafür gibt Iran zur Zeit
Ende September 2010 an. Allerdings könnte das mit dem Bau beauftragte
russische Unternehmen, das die Fertigstellung immer wieder
hinausgezögert hat, vielleicht eine nochmalige Verschiebung herbeiführen.
Daß die am 9. Juni vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen erweiterten
Sanktionen weder den wirtschaftlichen Zusammenbruch Irans noch die
Kapitulation seiner politischen und militärischen Führung erzwingen
können, muß allen Beteiligten klar sein. Sie sind auch völlig
ungeeignet, die Iraner »kompromißbereiter« zu machen, zumal man ihnen in
Wirklichkeit gar keine Kompromißmöglichkeiten anbietet. USA und EU
sprechen zwar von Verhandlungen, sehen aber außer dem bedingungslosen
und unbefristeten Verzicht Irans auf die Urananreicherung kein anderes
Ergebnis als denkbar vor. Ob selbst mit einem solchen Verzicht der
Konflikt friedlich beendet werden könnte, ist äußerst fraglich. Denn
zumindest die USA haben inzwischen weitere Themen unentwirrbar mit dem
Atomstreit verknüpft. Darunter die iranische »Unterstützung für den
internationalen Terrorismus« (gemeint sind Hisbollah und Hamas) und die
»Verletzung der Menschenrechte« im Iran.
Ahmadinedschad hat inzwischen angekündigt, daß Iran zu neuen Gesprächen
nicht vor Ende August bereit sein wird. Er bezeichnete das als »Strafe«
für die Sanktionsresolution. Tatsächlich geht es aber wohl viel mehr um
Zeitgewinn in der heiklen Phase, die mit der Inbetriebnahme von Buschehr
verbunden ist. Teil der am 9. Juni verabschiedeten
Sicherheitsresolution
1929 ist eine Fristsetzung von 90 Tagen, die Anfang September endet. Hat
Iran bis dahin nicht sämtliche Forderungen akzeptiert, die sich
allerdings anhand der bisherigen Resolutionen noch nicht einmal exakt
definieren lassen, sind die nächsten Strafmaßnahmen fällig.
Ein zusätzlicher Gesichtspunkt ist, daß im September, ganz genau wohl am
25. des Monats, das von der israelischen Regierung unter starkem
amerikanischen Druck zugestandene zehnmonatige »Siedlungsmoratorium«
endet. Die rechten Parteien der Jerusalemer Regierungskoalition haben
jetzt schon angekündigt, daß sie das Moratorium keinesfalls verlängern
wollen. Damit entsteht dann für Israel neuer außenpolitischer
Ablenkungsbedarf. Die westliche »Öffentlichkeit« scheint mittlerweile
hinreichend konditioniert, um für israelische oder amerikanische
Militärschläge gegen Iran weitaus mehr Verständnis aufzubringen als für
die seit über 40 Jahren andauernde Unterdrückung der Palästinenser.
Anlaß zu starker Besorgnis sind die Punkte 14 bis 20 der Resolution
1929, die die Durchsuchung iranischer Schiffe in ausländischen Häfen,
aber auch auf hoher See regeln. Jeder Staat darf demzufolge
Kriegsschiffe einsetzen, um Schiffe, die von und nach iranischen Häfen
unterwegs sind, zur »Inspektion« aufzufordern. Die einzige Voraussetzung
ist, daß dem betreffenden Staat »Informationen« vorliegen müssen, die
»vernünftige Gründe zu der Vermutung« geben, daß sich an Bord des
Schiffes sanktionierte Güter (insbesondere Waffen und Ausrüstungsteile
für die Atomindustrie) befinden könnten. In der Realität kann jeder
Staat sein Verhalten unüberprüfbar und unkorrigierbar selbst bestimmen.
Eine wesentliche Einschränkung ist, daß das Land, unter dessen Flagge
das betroffene Schiff fährt, der Untersuchung zustimmen muß. Da Iran
sich voraussichtlich weigern wird, Inspektionen zuzulassen, bleibt
zunächst hauptsächlich die propagandistische Ausschlachtung solcher
Vorfälle als angeblichen Beweis iranischer Schuld. Außerdem könnten die
betroffenen Schiffe auf der Weiterfahrt keinen Hafen mehr anlaufen, da
es dort kein Weigerungsrecht gegen Inspektionen gibt.
Gegen nordkoreanische Schiffe sind Durchsuchungen auf hoher See schon
seit 2006 zulässig. Die entsprechenden Bestimmungen wurden vom
Sicherheitsrat am 12. Juni 2009 verschärft. Danach kann der Staat, unter
dessen Flagge das Schiff fährt, zwar immer noch einer Inspektion auf See
widersprechen. Anschließend muß das Schiff aber den nächsten
»geeigneten« Hafen ansteuern, um dort durchsucht zu werden.
Im Falle Nordkoreas hat China zwar den Resolutionen beide Male
zugestimmt, aber seinen ausdrücklichen Widerspruch gegen das
Inspektionsrecht zu Protokoll gegeben. Tatsächlich hat es bisher außer
einem Fall, wo US-Kriegsschiffe einen nordkoreanischen Frachter
»beschatteten«, der angeblich Waffen nach Myanmar transportieren sollte,
und ihn damit schließlich zur Umkehr zwangen, keine Konfrontationen gegeben.
Die USA könnten aber von der Lizenz, die ihnen Resolution 1929 gibt,
einen sehr viel umfangreicheren und aggressiveren Gebrauch machen.
Naheliegend wäre es, darüber recht bald einen Beschluß der NATO und die
Aufstellung eines internationalen Flottenverbandes herbeizuführen. Iran
hat bereits angekündigt, auf Belästigungen seiner Schiffe mit analogen
Inspektionsmaßnahmen im Persischen Golf und in der Meerenge von Hormus
zu reagieren. Damit hätten die USA und Israel die Kriegsprovokation, die
sie anstreben. Und die EU, einschließlich Deutschlands, säße vermutlich
ebenso hilf- wie widerspruchslos »mit im Boot«.
* Aus: junge Welt, 5. Juli 2010
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