Oppositionsführer Mussawi sucht Wege zum Ausgleich mit dem Regime
Fünf-Punkte-Programm des einstigen Präsidentschaftskandidaten für bürgerliche Freiheiten
Von Jan Keetman, Istanbul *
Ein für diese Woche geplanter Besuch einer EU-Delegation in Iran ist auf unbestimmte Zeit
verschoben worden. Das teilte das iranische Außenministerium in Teheran am Montag mit. Die
geplante Reise von Abgeordneten des Europäischen Parlaments war beim USA-Kongress
angesichts der gewaltsamen Niederschlagung von regierungskritischen Protesten in Iran auf Kritik
gestoßen. Die Wortführer der Opposition versuchen unterdessen offenbar, den Konflikt ohne weitere
Zuspitzung der Situation zu lösen.
Mir Hossein Mussawi, Führer oder besser Symbolfigur der Opposition in Iran, ist bemüht, das
Regime doch noch für eine Einigung mit den aufgebrachten Massen zu gewinnen. Offenbar kann er
sich mit keiner von beiden denkbaren Alternativen anfreunden: Weder möchte er eine gewaltsame
Unterdrückung der Opposition noch ein Ende der Islamischen Republik, zu deren Errichtung er einst
beigetragen hat.
Auf der Webseite Pejvakeiran veröffentlichte Mussawi am Sonnabend seine Forderungen.
»Zunächst wollen wir, dass der Staat gegenüber der Nation und dem Parlament verantwortlich ist«,
leitet er seinen Katalog ein. Parlament und Justiz sollten erfolglose Politiker zur Rechenschaft ziehen
können. Im Weiteren fordert Mussawi ein neues Wahlgesetz, die Freilassung der politischen
Gefangenen, ein Ende der »schmutzigen Propaganda« gegen sie und eine Entschuldigung des
Staates. Der vierte Punkt ist die Wiederzulassung der verbotenen Zeitungen und allgemeine
Pressefreiheit. Der fünfte und letzte Punkt ist die Einführung eines Mehrparteiensystems, das in Iran
nur auf dem Papier besteht.
Die Forderungen sind die gekürzte Fassung einer Erklärung, die Mussawi am Tag zuvor auf einer
anderen Webseite veröffentlicht hatte. Diese erste Erklärung wurde in europäischen Medien meist
reißerisch mit Überschriften wie »Mussawi zum Märtyrertod bereit« versehen. Doch trifft es die
Sache wohl nicht, wenn man ihn mit den bisher in Iran als Märtyrer bezeichneten Personen
gleichstellt.
Das Märtyrertum, wie es das Regime hochhält, ist anderer Art. So hat Iran während des Krieges mit
Irak in den achtziger Jahren Tausende vor allem junge Iraner über Minenfelder geschickt, die von
irakischen Okkupationstruppen im besetzten iranischen Südosten angelegt worden waren. Bei sich
trugen die Jugendlichen einen kleinen Plastikschlüssel, made in Taiwan, der ihnen die Pforte des
Paradieses öffnen sollte.
Wer dabei starb, gilt in Iran als Märtyrer. Doch wenn ein 68-jähriger Politiker, dem man öffentlich mit
Hinrichtung gedroht hat und von dem die Staatsanwaltschaft verlangt hat, dass er sich von seinen
eigenen Unterstützern distanziert, sagt, dass er den Tod nicht fürchtet, dann ist das im muslimischen
Verständnis etwas ganz anderes. Mit seiner Erklärung hat Mussawi aber nicht nur Mut, sondern
auch Geschick bewiesen. All die Drohungen gegen ihn und seine Anhänger laufen so ins Leere.
Mussawis Reformvorschläge indessen sparen Kernbereiche des Aufbaus der Islamischen Republik
aus. Dazu gehören die Rolle des quasi allmächtigen Religiösen Führers, des Wächterrates und die
von ihm vorgenommenen Prüfungen aller Kandidaten vor politischen Wahlen auf ihre Treue zur
Verfassung und ihren islamischem Lebenswandel. Mussawi bezieht sich auch mehrmals direkt und
indirekt auf den 1989 gestorbenen religiösen Führer Chomeini. Außerdem unterstreicht er, dass er
nicht auf der Erfüllung aller Forderungen »in einer Nacht« besteht.
Trotz dieser gemäßigten Verpackung der Forderungen ist die Chance, dass das Regime auf sie
eingeht, sehr gering. Der heutige religiöse Führer Ali Khamenei hat sich so sehr festgelegt, dass ein
Einlenken einer Selbstdemontage gleichkäme. Von Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist dies
ebenso wenig zu erwarten.
Eine andere Frage ist, ob sich die Massen damit begnügen würden, was Mussawi vorschlägt.
Anders als Chomeini hat Mussawi keinen großen Einfluss auf sie. In diesem Punkt ist auch
Mussawis Erklärung ganz klar: »Das muslimische Volk hat sich selbst organisiert und ist auf die
Straßen geströmt.« Und weiter: »Ich sehe mich nur als ein ganz normales Mitglied der grünen
Bewegung.« Die Farbe Grün ist das Erkennungszeichen von Mussawis Anhängern.
Mussawi erhebt zugleich schwere Vorwürfe wegen der gegen Demonstranten während des Aschura-
Festes ausgeübten Gewalt: Die Polizei habe auf die Menge geschossen, Menschen überfahren und
von Brücken heruntergeworfen.
* Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2010
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