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Niemand braucht sich um eine Atommacht Iran Sorgen machen

Eine bemerkenswerte Analyse aus einem US-Think Tank

Von Peter Strutynski *

Während die Alarmrufe im Westen wegen einer möglichen atomaren Bewaffnung Irans nicht abreißen und sich der Westen, darunter insbesondere die USA und die Europäische Union, immer neue Sanktionen gegen Teheran einfallen lässt, kommen – sozusagen aus der Mitte des Empire – vereinzelte Stimmen, die den ganzen Hype um das iranische Atomprogramm für Humbug halten. In der renommierten US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ erscheint dieser Tage ein Aufsatz eines nicht minder renommierten leitenden Wissenschaftlers vom Saltzman Institute of War and Peace Studies, Kenneth Waltz. USA today hat eine gekürzte Fassung der dort entwickelten Gedanken vorab veröffentlicht: „Nuclear-armed Iran: Don’t worry about it“ (USA today, june 22, 2012). Die Hauptthese von Kenneth Waltz lautet: Vor Atomwaffen in den Händen der iranischen Mullahs müsste sich niemand fürchten; im Gegenteil, sie würden sogar zur Stabilisierung der Region beitragen. Diese Behauptung ist so kühn, dass sie selbstverständlich zu begründen ist.

Kenneth Waltz tut das, indem er sowohl auf Erfahrungen aus der Geschichte des atomaren Wettlaufs zwischen den Großmächten nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erlangung der Nuklearfähigkeit solcher Staaten wie Indien, Pakistan und Israel zurückgreift als auch die gegenwärtige Situation im Nahen und Mittleren Osten nüchtern analysiert. Seiner Meinung nach gibt es drei mögliche Wege, wie der jahrelange Atomstreit und die jüngst wieder aufgenommenen Verhandlungen mit dem Iran ein Ende finden könnte. Der erste Weg besteht darin, dass die mit Sanktionen begleitete Diplomatie den Iran überzeugen würde, das Streben nach Atomwaffen aufzugeben. Eine höchst unwahrscheinliche Lösung. Denn die historische Erfahrung zeige, dass ein Land, das in den Besitz von Atomwaffen gelangen möchte, schwer von diesem Ziel abzubringen ist. (Nord-)Korea ist ein gutes Beispiel hierfür: Zahllose Verhandlungsrunden und Sanktionsbeschlüsse des UN-Sicherheitsrats konnten das Regime in Pjöngjang auf ihrem Weg stoppen. Wenn Teheran davon überzeugt ist, dass seine Sicherheit vom Besitz von Atomwaffen abhängt, dann werden keine Sanktionen daran etwas ändern können.

Die zweite Möglichkeit bestehe wohl darin, dass Iran sein militärisches Programm bis kurz vor dem ersten Atomtest weiter führt, vor diesem Schritt aber anhält – aber sich die Fähigkeit zum jederzeitigen Bau der Bombe sichert (also die „breakout“-Fähigkeit entwickelt). Diese Fähigkeit könnte die Hardliner in der iranischen Führung besänftigen, die nun über alle Vorteile verfügen, welche auch die Atommächte haben (z.B. eine größere Sicherheit), ohne weitere Nachteile wie etwa internationale Isolation und Ächtung in Kauf nehmen zu müssen. Darauf allerdings würde sich Israel nicht einlassen. Für Tel Aviv ist schon die Urananreicherungs-Kapazität des Iran eine „inakzeptable Bedrohung“. Israel würde also seine gefährliche Politik der Subversion gegenüber dem iranischen Atomprogramm durch Sabotage und Mordanschläge fortsetzen – mit dem einzigen Erfolg, dass der Iran zu dem Schluss kommt, die alleinige breakout-Kapazität sei eine unzureichende Abschreckung; die einzige Option bestünde im endgültigen Bau der Bombe.

Der dritte Weg, den Kenneth Waltz aufzeigt, besteht darin, dass Iran seinen Kurs bis zum Test einer Atomwaffe unbeirrt weiter verfolgt. Nun haben die USA und Israel definitiv klar gemacht, dass dieser Schritt für sie nicht akzeptabel sei. Ein nuklear aufgerüsteter Iran stelle eine existenzielle Bedrohung für Israel dar. Eine solche Sprache ist typisch für große Mächte, die immer aufheulten, wenn sich jemand anderer anschickte, ebenfalls nuklear aufzurüsten. Ab dem Augenblick aber, wenn der Neue in den Club der Nuklearmächte aufgestiegen ist, blieb den alten Nuklearmächten nichts anderes übrig, als „damit zu leben“. Tatsächlich wurden dadurch sogar bestehende militärische Ungleichgewichte reduziert. Im Allgemeinen, so Waltz‘ These, schaffen neue Nuklearmächte mehr regionale und internationale Stabilität, nicht weniger.

Als historisches Beispiel kann Israel selbst herhalten. Das seit über 40 Jahren bestehende atomare Monopol Israels hat den Nahen Osten instabiler und unsicherer gemacht. In keiner anderen Region der Welt existiert eine einzige Nuklearmacht. Nicht Irans Wunsch nach Atomwaffen – wenn dieser Wunsch überhaupt besteht, auch darüber streiten ja die Gelehrten -, sondern Israels Nukleararsenal hat am meisten zur gegenwärtigen Krise beigetragen. Für den Iran gelte es, Israels Atommonopol zu beenden. Waltz: „Schließt lädt jede Macht dazu ein, ausgeglichen zu werden.“

Dies führt zu einem weiteren Gedanken, welcher den Heerscharen von Iran-Kritikern ins Stammbuch geschrieben werden sollte. Die Gefahr einer iranischen Atommacht wird deshalb so stark übertrieben, weil einfach nicht verstanden wird, nach welchen Mustern Staaten in internationalen Systemen sich verhalten. Völlig verfehlt sei es, Iran eine „inhärente Irrationalität“ zu unterstellen, wie das häufig geschieht. Daraus wird etwa von israelischer oder US-amerikanischer Seite gefolgert, dass im Fall Iran die nukleare Abschreckungslogik außer Kraft gesetzt wäre. Ihre Warnung daher an die übrigen Welt: Wenn Iran nach Atomwaffen strebt, wird es nicht zögern, sie auch in einem Erstschlag gegen Israel einzusetzen, auch wenn es damit die eigene totale Zerstörung durch einen Gegenschlag in Kauf genommen würde. Waltz setzt solchen Überlegungen die wahrscheinlichere Option entgegen, wonach Teherans Streben nach Atomwaffen nur der eigenen Sicherheit diene. Das iranische Regime mag unnachgiebig erscheinen bei Verhandlungen und gegenüber Sanktionen, aber es handelt durchaus im Sinne der Aufrechterhaltung seiner eigenen Sicherheit.

Mit einem weiteren Argument setzt sich Waltz auseinander: Der Besitz der Atombombe würde es dem Iran erlauben, gegenüber anderen Staaten aggressiver aufzutreten und seine Unterstützung für den internationalen Terrorismus auszuweiten. Eine solche Haltung widerspräche aber allen historischen Erfahrungen mit anderen Atomwaffenstaaten seit 1945. So sei das maoistische China nach der Erlangung der Atomwaffenfähigkeit weniger kriegerisch aufgetreten als zuvor. Auch Indien und Pakistan seien vorsichtiger geworden.

Eine weitere viel zitierte Sorge besteht darin, dass von einem nuklearisierten Iran das Signal für andere Staaten der Region ausginge, ebenfalls nach Atomwaffen zu streben, was zu einem atomaren Wettlauf im Nahen und Mittleren Osten führen würde. Das Gegenbeispiel aus der Region bietet indessen Israel. Seit es in den 1960er Jahren die Atombombe baute, hat dies keinesfalls zu einem regionalen Atomwettlauf geführt. Warum sollte das also heute anders sein, wenn der Iran in den Besitz von Atomwaffen käme?

Aus all diesen Gründen sollten die USA und ihre Verbündeten sich nicht so viel Mühe machen, den Iran von der Atomwaffenfähigkeit abzuhalten. Vielmehr sollte die Diplomatie fortgesetzt werden. Bei Aufrechterhaltung von Gesprächen könne der Westen besser mit einer Nuklearmacht Iran leben. Auf jeden Fall sollten aber die Sanktionen aufgegeben werden, denn sie schaden in erster Linie der iranischen Bevölkerung und haben sonst so gut wie keine Wirkung.

Das Fazit aus der Analyse von Kenneth Waltz lautet schließlich: Politiker und Bürger überall in der Welt sollten beruhigend zur Kenntnis nehmen, dass überall dort, wo Atomwaffenfähigkeit entstanden ist, auch Stabilität herrsche. Mehr Nuklearwaffen können also besser sein. Der im Juli/August-Heft von „Foreign Affairs“ erscheinende Aufsatz trägt denn auch den appellativen Titel: „Why Iran Should Get the Bomb“.

Aus friedenspolitischer Perspektive ist gerade diese letzte Schlussfolgerung eine Provokation. Denn die sog. Stabilität während des Ost-Westkonflikts war zugleich ein „Gleichgewicht des Schreckens“ und versetzte die Menschheit in einen Dauerzustand der Angst vor einem atomaren Inferno. Einer solchen allgegenwärtigen Bedrohung kann die Menschheit nicht durch die Anhäufung weiterer Atomwaffen und nicht durch die Vermehrung der Atomwaffen besitzenden Staaten entkommen, sondern nur durch die atomare Abrüstung. Waltz erweist sich in seiner Analyse als getreuer Verfechter der neorealistischen Schule der Politikwissenschaft, wonach Macht und militärische Stärke zur Sicherung nationaler Interessen für die Staaten unabdingbar seien. Waltz hat mit seinem 1979 erschienenen Werk „Theory of International Politics“ selbst die Grundlagen dieses theoretischen Ansatzes – einer Weiterentwicklung des „politischen Realismus“ - gelegt. Das Frappierende an Waltz‘ Analyse ist, dass sie in diesem Fall zu Politikempfehlungen führt, deren Umsetzung in der Region deeskalierend wirken würden - seinem Aufrüstungs-Plädoyer muss ja nicht gefolgt werden. Alle anderen Erwägungsgründe, die Waltz ins Feld führt, müssen sehr ernst genommen werden und decken sich weitgehend mit leider viel zu wenig beachteten Expertisen aus der deutschen Friedensforschung (siehe z.B. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg-IFSH: „Sieben Schritte auf dem Weg zu einer friedlichen Lösung des Atomkonflikts mit dem Iran“ oder Bonner International Conversion Centre-BICC: “Atomkonflikt Iran: Diplomatische Lösung noch immer möglich?!“).

* Eine leicht gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel "Eine Bombe für Teheran" in der "jungen Welt" vom 29. Juni 2012


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