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Norwegische Ente

Aftenposten: 46 Wikileaks-Depeschen, die Iran belasten sollen

Von Knut Mellenthin *

Unter der Schlagzeile »Iran auf heimlicher Jagd nach der Atombombe« hat die norwegische Tageszeitung Aftenposten am Sonntag einen journalistischen Coup zu landen versucht. Entgegen sonstiger Gewohnheiten hatte das konservative Blatt seinen Artikel sogar in einer englischen Fassung ins Internet gestellt. In Israel wurde die skandinavische Ente mit großer Aufmerksamkeit begrüßt. Die ansonsten häufig liberal und unkriegerisch auftretende Tageszeitung Haaretz titelte ebenso reißerisch wie falsch: »Wikileaks: Iran entwickelt Atombombe mit Hilfe von über 30 Ländern«. Ganz so hatten es die norwegischen Kollegen allerdings nicht ausgedrückt.

Es ist mittlerweile zur Gewohnheit der Mainstreammedien geworden, Behauptungen US-amerikanischer Diplomaten und Geheimdienstler so darzustellen, als würde es sich um Aussagen der Internet-Firma Wiki­leaks handeln. Aber nur weil irgend etwas in einer Depesche steht, die aus dem Wikileaks-Fundus von etwa 250000 mehr oder weniger geheimen diplomatischen Dokumenten stammt, ist es selbstverständlich noch nicht unbedingt wahr. Es klebt auch kein Wikileaks-Gütesiegel darauf. Überdies sind 99 Prozent der Depeschen immer noch unveröffentlicht. In erster Linie dienen sie als vorerst unerschöpflicher Selbstbedienungsladen für jene fünf Zeitungen, denen Wikileaks-Chef Julian Assange im September vorigen Jahres das gesamte Material anvertraute: Spiegel, New York Times, Guardian, Le Monde und El País. Aftenposten hat sich als sechste hinzugesellt. Woher die Norweger die Dokumente haben, verraten sie nicht. Möglicherweise liefert die Art, wie sie damit umgehen, einen Hinweis darauf.

Am Sonntag stellte die Zeitung rekordverdächtige 46 Depeschen ins Netz. Sie stammen aus den Jahren 2006 bis 2010 und kommen aus verschiedenen US-Botschaften, einige auch vom State Department. Alle beschäftigen sich in irgendeiner Weise damit, daß iranische Firmen die gegen ihr Land verhängten Sanktionen zu umgehen versuchen, um auf dem internationalen Markt Dinge zu kaufen, die entweder für den Betrieb von Atomanlagen oder im Raketenbau verwendet werden könnten. Die Betonung liegt auf der Möglichkeitsform.

Vielfach handelt es sich um Waren, die auch anderweitig genutzt werden könnten. In den Aufzählungen der Botschaften finden sich außerdem viele Produkte, die nicht in den Bereich der vom UN-Sicherheitsrat verhängten Maßnahmen fallen. Vielmehr ist deren Lieferung an den Iran aus Sicht der US-Regierung unerwünscht. Aftenposten benennt unter den Gütern, die Iran erworben hat oder erwerben wollte, unter anderem »Computer und Kontrollsysteme, die zum Betrieb von Atomreaktoren erforderlich sind« sowie »verbesserte Zentrifugen« für die Urananreicherung. Aufgeführt wird gar, anscheinend von keiner Sachkenntnis getrübt, »Uran, das zur Anreicherung von Plutonium für die Verwendung in Atomwaffen benutzt wird«.

Tatsächlich taugen die Depeschen nicht zur Untermauerung der Propagandathese von der »heimlichen Jagd nach Atomwaffen«. Das könnte ein Grund dafür sein, daß der Aftenposten-Coup international zumindest bis jetzt kaum beachtet wurde.

* Aus: junge Welt, 18. Januar 2011


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