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"Das Abkommen ist eine Farce"

Nach der Vereinbarung von Lausanne: Es gibt keinen Grund, warum der Iran nicht über ein Atomprogramm verfügen sollte. Ein Gespräch mit Noam Chomsky *


Noam Chomsky (86) ist Philosoph und emeritierter Professor für Linguistik und Kommunikationstheorie am Massachusetts Institute of Technology (USA).

Im Atomstreit mit dem Iran scheint sich eine Lösung anzubahnen. Was halten Sie von diesem seit zwölf Jahren dauernden Tanz?

Der Iran hegt den Verdacht, dass sich die Republikaner in den USA trotz des Abkommens weigern werden, die Sanktionen aufzuheben. Deshalb ist es das Hauptziel der iranischen Autoritäten, dass die Sanktionen nicht unter die Kontrolle des Kongresses fallen. Das wäre eine Tragödie. Wir werden sehen, ob dieser Punkt im endgültigen Text enthalten ist. Meinem Eindruck nach sind all die Verhandlungen über die Atomfrage eine Farce. Es gibt keinen Grund, warum der Iran, entsprechend dem Atomwaffensperrvertrag, den er unterzeichnet hat, nicht über ein Nuklearprogramm verfügen sollte.

Warum sprechen Sie von einer Farce?

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten behaupten, dass die internationale Gemeinschaft den Iran aufgefordert habe, Zugeständnisse zu machen, um zu einer Einigung zu gelangen. Die blockfreien Länder, die 70 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, haben jedoch die nuklearen Bemühungen des Iran immer unterstützt. Und doch ist die westliche Propaganda ein mächtiges Instrument. Deshalb hat sich diese Farce solange hingezogen.

Könnte die Lösung des Streits den Konflikt zwischen den Religionsgemeinschaften entschärfen, der den Mittleren Osten entflammt?

Das zentrale Problem ist, dass die sunnitischen Staaten die wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten bilden. Die Freunde der USA sind die extremistischsten Fundamentalisten, und sie wollen die Region beherrschen. Der Iran ist ein großes Land, und genau wie China strebt er nach einem Einfluss in der Region. Doch Saudi-Arabien will auf keinen Fall irgendwelche Widersacher oder Abschreckung. Selbst wenn der Iran über eine Atombombe verfügen würde, wieso sollte das den Vereinigten Staaten Sorgen bereiten? Es wäre einzig und allein eine Abschreckung. Niemand denkt, dass der Iran Atomwaffen einsetzen könnte, weil das Land dann augenblicklich pulverisiert würde. Und die Ajatollahs wollen sicherlich keinen Selbstmord begehen. Ein Iran mit Atomwaffe wäre nur eine Abschreckung gegen Israels Aggressivität in der Region. Und genau das wollen die USA nicht.

Israels Premier Benjamin Netanjahu lässt allerdings keinen Tag vergehen, ohne gegen die Übereinkunft mit dem Iran zu wettern?

Israel verfolgt eine systematische Politik der Eroberung all dessen, was es, unter Verletzung der Osloer Verträge, in sein Großisrael integrieren will. Gaza wurde verwüstet. Diese Politik wird von den Vereinigten Staaten unterstützt und, wenn sie Israel weiterhin zur Seite stehen, wird sich niemals etwas ändern. In diesen Wochen hat die gesamte Mainstreampresse der USA Artikel gebracht, in denen von Washington verlangt wird, den Iran anzugreifen. Warum tut die iranische Presse nicht das Gleiche? Die westliche Voraussetzung ist der Imperialismus. Im Namen dieses Prinzips ist im Westen alles erlaubt.

Gibt es zwei gegensätzliche Positionen zwischen der Obama-Administration und den Republikanern bei den Konflikten im Mittleren Osten?

Die Republikaner sind eine faschistische Partei. Barack Obama ist selbst schrecklich, aber weniger als die Republikaner. Obamas Hauptfehler sind jedoch seine Drohnenangriffe. Wenn der Iran dasselbe gegen die USA machen würde, wie würden die dann reagieren? Der Drohnenkrieg ist die größte terroristische Operation, die es jemals gegeben hat. Sie zielt darauf ab, alle zu töten, die im Verdacht stehen, uns schaden zu können. Diese Operationen lassen die Zahl der Dschihadisten steigen.

Glauben Sie, dass man den Vormarsch der Huthis im Jemen fürchten muss?

Es stimmt, dass der Iran die Huthis im Jemen unterstützt. Dasselbe tut Saudi-Arabien mit seinen Leuten, auch wenn es sich am Ende um einen internen Konflikt handelt. In der westlichen Propaganda gilt aber diejenige Kraft als legitim, die die Vereinigten Staaten unterstützt. Im Irak steht der Iran auf seiten der gewählten Regierung. Die iranischen Berater bilden die irakische Führungsriege aus und nehmen an den wichtigsten Kämpfen im Land teil. Die irakische Regierung hat um die iranische Hilfe gebeten und dankt Teheran dafür. Doch die USA verurteilen den iranischen Einfluss im Irak. Das ist wirklich komisch.

Glauben Sie, dass dieses westliche Verhalten den Terrorismus des »Islamischen Staates« nährt?

Der Islamische Staat ist eine Monstrosität. Er ist aber zugleich nichts anderes als eine Offshore-Gesellschaft Saudi-Arabiens, das eine extremistische, wahabitische, Version des Islam propagiert. Aus Riad kommt haufenweise Geld – und Ideologie, um den Fundamentalismus in der arabischen Welt zu verbreiten. Sicherlich gefällt an diesem Punkt nicht einmal den Saudis mehr, was sie da geschaffen haben. Dies ist die direkte Folge der verheerenden Angriffe der Vereinigten Staaten im Irak 2003 und der NATO-Luftangriffe im Libyen 2011, die den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten angeheizt und in der gesamten Region verbreitet haben. In Libyen hat das zum Anwachsen der Zahl der Milizen und einer Menge Waffen aus Afrika und dem Mittleren Osten geführt, die ihresgleichen sucht. Die NATO-Bombardements haben die Zahl der Opfer verzehnfacht und Libyen zerstört. Im Jemen töten nun Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate viele Menschen in den Flüchtlingslagern. Aber auch dieser Krieg wird scheitern und kann letztendlich nur zur Weiterverbreitung des Dschihadismus führen.

Vor wenigen Monaten sprachen wir noch vom »Arabischen Frühling« und nicht von Terrorismus. Besteht eine Beziehung zwischen den sozialen Bewegungen in Europa und den Revolten im Mittleren Osten?

Es gibt Ähnlichkeiten. Das wichtigste Beispiel der Vergangenheit ist Lateinamerika. Das war vollständig unter Kontrolle der USA, die überall Diktatoren installierten. Jetzt ist Südamerika ziemlich frei von ausländischer Kontrolle. Dies ist eine Entwicklung von großer Bedeutung. Viele lateinamerikanische Politiker sind den Parteien Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland verbunden. Sie führen alle denselben Kampf gegen den Neoliberalismus. Die deutsche Reaktion auf den Sieg von Alexis Tsipras in Griechenland ist allerdings heftig und heuchlerisch. 1953 gestand Europa der Bundesrepublik eine Schuldenkürzung zu. Jetzt setzt es hingegen repressive Maßnahmen gegen Griechenland durch, nachdem Berlin das Land im Zweiten Weltkrieg verwüstet hatte.

Sind die Bewegungen im Nahen Osten mit der Rückkehr der Diktatoren, wie dem ägyptischen Präsidenten Al-Sisi, am Ende?

Europa und die Vereinigten Staaten haben überall auf der Welt die brutalsten Diktatoren unterstützt. In Ägypten erleben die Menschen gerade die dunkelsten Tage ihrer modernen Geschichte. Das ist der traditionelle Imperialismus. An der Macht der Propaganda hat sich nichts geändert. Die Zeitungen in Europa beschreiben Al-Sisi als ein Vorbild, obwohl er ein brutaler Mörder ist, ein harter Diktator, der die Massenorganisation der Muslimbrüder unterdrückt hat. Und auf der Sinai-Halbinsel herrscht weiterhin Krieg.

Interview: Giuseppe Acconcia

Das Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung Il Manifesto. Übersetzung: Andreas Schuchardt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. April 2015


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