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Irischer Alptraum

Auf der grünen Insel spitzt sich die Schuldenkrise zu. Das Etatdefizit bleibt trotz Kürzungen extrem hoch, die Regierung plant 2,50-Euro-Jobs für Arbeitslose

Von Raoul Rigault *

Der Wunsch der Irish Times war so simpel wie eindringlich: Das Land möge endlich »aus dem ökonomischen Alptraum erwachen«. Leichter gesagt als getan, denn die Aussichten auf der grünen Insel bleiben finster. Hoffnungen, die sich mit dem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 2,7 Prozent im ersten Quartal verbanden, sind längst verflogen. Ohnehin war das Plus des Zuwachses nur ein geringer Ausgleich für die Verluste der letzten beiden Jahre, als die Wirtschaft um 3,0 und 7,6 Prozent schrumpfte. Für 2010 insgesamt prognostiziert die EU-Statistikbehörde Eurostat ein weiteres Minus von 1,4 Prozent.

Ende August senkte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Bonitätsnote des Landes von AA auf AA- und attestierte einen »negativen Ausblick«, warnte also vor weiteren Verschlechterungen. Ursache ist das exorbitante Haushaltsdefizit, das im vergangenen Jahr 14,3 Prozent erreichte und – brutalen Kürzungen zum Trotz – 2010 und 2011, laut EU-Kommission, weiter bei rund zwölf Prozent liegen wird. S&P befürchtet, daß die Rettung der hochverschuldeten Banken, die zu Sanierungszwecken ganz oder teilweise verstaatlicht wurden und ihre giftigsten »Wertpapiere« an die Bad Bank NAMA abgeben konnten, die Steuerzahler insgesamt 90 Milliarden Euro kosten wird – zehn Milliarden mehr als bislang angenommen.

Nach Ansicht der linksliberalen Irish Times kann die Systemrettung sogar noch teurer werden. Allein »die Kosten für die katastrophale Entscheidung der Regierung, die Anglo Irish Bank zu retten«, stiegen exponentiell. War erst von vier und dann von zehn Milliarden Euro die Rede, ist Bankchef Mike Aynsley inzwischen »zuversichtlich« mit öffentlichen Kapitalhilfen von 25 Milliarden auszukommen. S&P geht hingegen von 35 Milliarden aus, und Leitartikler Fintan O’Toole sieht »jetzt eine realistische Chance, daß die Kosten der Bankenentschuldung bei 50 Milliarden Euro liegen werden«. Wesentlicher Grund dafür ist der Absturz der Immobilienpreise. Gewerblich genutzte Gebäude verloren seit Sommer 2007 mehr als die Hälfte ihres Wertes. Im ersten Halbjahr wies das drittgrößte Kreditinstitut de facto einen Fehlbetrag von 8,2 Milliarden Euro aus. Das war mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres und auf die letzten 15 Monate bezogen mit einem Minus von 12,7 Milliarden Euro der höchste Verlust in der Geschichte der Republik. Die Renditen auf zehnjährige irische Staatsanleihen nahmen daraufhin sprunghaft auf 5,5 Prozent zu – der höchste Stand seit März 2009.

Auch der Arbeitsmarkt bietet ein trauriges Bild. Im August stieg die Zahl der Erwerbslosen auf einen neuen Spitzenwert, 455000 Menschen waren betroffen. Seit dem vergangenen Jahr bedeutet das eine Zunahme um acht auf 13,8 Prozent. Zu den Opfern zählt die Mittelschicht. Bei Selbständigen fiel der Anstieg mit 27 Prozent seit Februar am stärksten aus, gefolgt von den Büroangestellten mit 15 Prozent. Entsprechend platzt bei vielen »White Collar«-Workern auch der Traum vom Eigenheim. 36500 Hypothekenschuldner sind inzwischen drei Monate mit ihren Zahlungen im Rückstand. Dreiviertel von ihnen haben sogar seit mindestens sechs Monaten nichts mehr gezahlt.

Laut Richard Bruton von der oppositionellen Fine-Gael-Partei befindet sich der Arbeitmarkt im Griff einer »Double dip«-Rezession, das heißt einem zweiten Abtauchen in eine Phase des BIP-Rückgangs. Den Berechnungen des Labour-Party-Experten Willie Penrose zufolge verliert die Staatskasse durch jeden Erwerbslosen rund 20000 Euro im Jahr infolge höherer Sozialleistungen sowie ausbleibender Steuern und Abgaben. Dies ist eine problematische Entwicklung, die die »Jamaika«-Koalition unter Brian Cowen durch den Personalabbau und die Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst selbst befördert. Auf seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause beschloß das Kabinett weitere Ausgabenkürzungen um drei Milliarden Euro.

Parallel dazu schreitet der Umbau des ehemaligen »keltischen Tigers« zum Billiglohnland weiter voran. Dem deutschen Beispiel folgend, plant die Exekutive die Einführung von Zwangsarbeit. In einer vier Monate dauernden Probephase sollen zunächst zehntausend Erwerbslose 19,5 Stunden die Woche für ihre Stütze und einen Aufschlag von 210 Euro im Monat in Kindergärten, Altenpflege oder der nachmittäglichen Schülerbetreuung arbeiten. Wer sich weigert, verliert seinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Gleichzeitig folgt die aus Grünen, Liberalen und Fianna Fáil bestehende Koalition faktisch den Forderungen des Unternehmerverbandes IBEC nach Senkung des Mindestlohnes.

Die Proteste der Gewerkschaften sind hier, genau wie beim Streikverzicht im öffentlichen Dienst bis 2014, zahnlos, obwohl die Gegenseite immer neue Provokationen startet. Während die staatliche »Überwachung« heiße Luft produziert, hat das Management des Gesundheitsdienstes HSE in den Krankenhäusern von Mayo und Sligo Fakten geschaffen, indem es aus Kostengründen einen weiteren Bettenabbau einleitete. Im Letterkenny General Hospital wurde die Kürzungssumme ohne Zustimmung der Gewerkschaften durch die Verwaltung von 390000 Euro auf 1,2 Millionen erhöht. In anderen Teilen der Region legen sich die Direktoren nicht einmal auf konkrete Zahlen fest, wie Gewerkschaftsführer kleinlaut eingestehen.

Dennoch nimmt die Unterwerfung der Unions weiter zu. Die Vorstände der Lehrergewerkschaften ASTI und TUI, die den Deal nach eindeutigen Voten ihrer Mitglieder zunächst ablehnten, signalisieren nun Bereitschaft zum Einlenken. Bei den Arbeitern des Elektrizitätswerkes Lough Ree in Lanes­borough führte diese Politik Ende August zu einem einwöchigen wilden Streik gegen die Streichung ihrer Überstundenzuschläge. Ob dieses Beispiel Schule macht, bleibt abzuwarten.

* Aus: junge Welt, 8. September 2010


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