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Der fatale Verlust von Visionen

Tom Segev über einen anormalen Normalzustand, israelische Identität, die Hamas und Korruptionsaffären

Interview

Mit seinem Buch »1949. The First Israelis« löste der israelische Historiker Tom Segev 1986 eine Entmythologisierung der Gründungsgeschichte Israels aus. Der regierungsoffiziellen, ideologisch motivierten Geschichtsdarstellung widersprechend, entfesselte er in Israel einen Historikerstreit, der bis heute anhält. Nach 22 Jahren und rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels ist sein Werk nun auf Deutsch unter dem Titel »Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates« (Siedler, 416 S., geb., 24,95 EUR) erschienen. Mit dem in Jerusalem lebenden Wissenschaftler sprach Adelbert Reif für das "Neue Deutschland".

ND: Sie haben einmal die Geburt Israels als eine der »dramatischsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Was meinen Sie damit?

Segev: Es geht den Israelis besser als den meisten Menschen auf der Welt. Sie haben eine mehr oder weniger funktionierende Demokratie, was keinesfalls selbstverständlich ist. Zumal die meisten Israelis aus nichtdemokratischen Ländern eingewandert sind. Die israelische Gesellschaftist ist stark genug, um alle diese Menschen in eine demokratische Praxis zu integrieren – und dies trotz permanenten Kriegszustandes. Im Gegensatz zu den von Israel unterdrückten Palästinensern genießen die eigenen Staatsbürger ein hohes Maß an demokratischen Rechten und Freiheiten. Das gehört zur »dramatischen Erfolgsgeschichte« Israels.

Unabhängig von dieser Erfolgsgeschichte, bleibt im 60. Jahr der Existenz Israels festzustellen, dass dessen Image bei vielen negativ besetzt ist. Prominente Juden wie der Dramatiker Harold Pinter oder Bella Freud, die Urenkelin von Sigmund Freud, lehnen es ab, das Jubiläum eines Staates zu feiern, der »ethnische Säuberungen« betreibe und den Palästinensern ihre Menschenrechte und nationalen Hoffnungen verweigere.

Von starken Worten wie »ethnische Säuberung« bin ich nicht so beeindruckt. Ich teile aber die Auffassung, dass wir ein großes Problem haben, und zwar nicht mit unserem Image, sondern mit dem, was wir wirklich tun. Die systematische Unterdrückung der Palästinenser, die systematische Verletzung von Menschenrechten sind in der Tat ein Argument dafür, dass zu Jubelfeiern nicht wirklich Anlass besteht. Viele Maßnahmen Israels sind für die Gewährleistung unserer Sicherheit überhaupt nicht notwendig. Es werden den Palästinensern viel zu viele Beschränkungen ihrer grundlegenden Lebensrechte auferlegt. Eine der großen Herausforderungen für die Zukunft Israels liegt denn auch darin, dass wir den Konflikt »besser verwalten« und das Leben für die Palästinenser erträglicher gestalten. Bevor dies nicht geschieht, besteht keinerlei Hoffnung, dass wir mit den Palästinensern in konstruktive Gespräche kommen.

»60 Jahre Israel beinhalten 60 Jahre Krieg«, bemerkte Ihr Kollege Igal Avidan in seinem kürzlich erschienenen Buch »Israel – Ein Staat sucht sich selbst«. Welche Auswirkungen zeitigt dieser permanente Kriegszustand für die israelische Gesellschaft?

Da sind die Unterschiede sehr groß. Wenn Sie hier einige Zeit lebten und die Gesellschaft kennenlernten, würden Sie feststellen, wie erstaunlich normal das Leben in einigen Teilen Israels verläuft. Tel Aviv beispielsweise ist eine moderne Stadt, in der das Leben floriert. Wenn Sie hier in einem Café sitzen, dann ahnen Sie nicht einmal, dass Sie sich in einem Land befinden, in dem es Krieg gibt und Sie befürchten müssen, dass im nächsten Moment ein palästinensischer Terrorist das Café in die Luft sprengt. Jerusalem dagegen ist eine extrem politisierte und religiös fanatisierte Stadt.

Grundsätzlich stimmt es natürlich, dass die Menschen hier in dem Bewusstsein des Krieges aufwachsen, der Teil ihrer Realität ist. Und je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird es, zu einem Friedensschluss zu kommen. Einer zweiten, dritten und vierten Generation, für die Krieg der Normalzustand ist, fällt es schwer, eine »neue Normalität« herauszubilden.

Wie wird in Israel Kritik aufgenommen, wie sie z. B. der Schriftsteller Amos Oz artikulierte, der vor einer erneuten Besetzung des Gazastreifens warnte?

Die Stimme von Amos Oz hat sicher ein stärkeres Gewicht in Israel als die Stimme von Harold Pinter aus dem fernen England. Israel ist ein buntkariertes Land. Hier kommt alles zum Ausdruck, alles ist zu lesen, alles ist zu hören. Dennoch ist die allgemeine Stimmung im Augenblick eher fatalistisch. Da keine Lösung in Sicht ist, werden die Menschen immer resignierter und beschäftigen sich vornehmlich mit den Angelegenheiten ihres alltäglichen Lebens.

Als erschwerend kommt hinzu, dass Israel gegenwärtig eine sehr schlechte Regierung hat, deren Ministerpräsident in Korruptionsaffären verwickelt ist und sich immer wieder Polizeiverhören unterziehen muss. Die Regierung wird von Rechtsanwälten in grauen Anzügen geführt, aber nicht von Menschen, die eine Vision haben und in der Lage sind, eine Richtung vorzugeben. Der Verlust des Vertrauens der israelischen Öffentlichkeit in die Politik ist für den Fortbestand der Demokratie äußerst gefährlich. Möglicherweise bleiben in der Zukunft die israelischen Regierungen nicht länger im Amt als die Regierungen in Italien.

Gibt es Gründe, an der Friedensbereitschaft der derzeitigen Regierung zu zweifeln?

Sie ist nicht stark genug, um Beschlüsse zu fassen, die von einem beträchtlichen Teil der in sich gespaltenen israelischen Gesellschaft nicht mitgetragen werden. Was Israel braucht, sind viel stärkere Regierungen. Wenn David Ben Gurion heute noch lebte, wäre er vielleicht stark genug, um den Israelis zu sagen: Historisch gesehen, ist es notwendig, dass wir diese Gebiete aufgeben und Frieden schließen. Aber einem Mann wie Ehud Olmert, der seit seinem 23. Lebensjahr ein professioneller Politiker ist, liegt daran, als Politiker zu überleben. Er denkt nicht in historischen Dimensionen.

Würden Sie der These Jimmy Carters – von ihm jüngst bei seinem Besuch Israels wiederholt – zustimmen, nach der es »außer Zweifel« stehe, dass die Hamas in die Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern mit einbezogen werden müsse, »wenn Israel jemals in einem gerechten Frieden mit seinen Nachbarn leben will«?

Ja. Natürlich müssen wir mit der Hamas verhandeln. Die Hamas ist keine kleine Terrororganisation, sondern Ausdruck einer authentischen politischen Richtung im palästinensischen Volk. Von daher sind wir gefordert, mit dem Feind zu verhandeln, der uns gegenüber steht. Wir können uns unsere Feinde nicht aussuchen. Ich habe übrigens den Eindruck, dass solche Verhandlungen im Ausland bereits geführt werden. Die Dinge liegen etwa so, wie vor 25 Jahren mit der PLO: Sie erkennen uns nicht an, wir erkennen sie nicht an. Aber der Prozess ist im Gang. Ich würde nur vorschlagen, dass wir nicht noch einmal 25 Jahre verschwenden, bis wir wirklich in ein offenes, konstruktives Gespräch treten. Unsere beiderseitigen Probleme dulden keinen weiteren Aufschub.

Ein israelischer Kollege von Ihnen warf kürzlich die besorgte Frage auf: »Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren?«

Ich denke schon. Aus dem einfachen Grund, weil 60 Jahre keine allzu lange Zeit sind und Israel letztlich ein starkes Land ist mit einer guten Basis von Menschen, die hier bereits in der dritten und vierten Generation leben, obwohl sie auch woanders leben könnten. 1949 hatten die meisten Israelis keine Möglichkeit, woanders zu leben. Heute gibt es in Israel eine junge, gut ausgebildete Generation, die genauso gut in Australien oder Kanada leben könnte – doch sie bleibt hier, weil sie sich hier zu Hause fühlt. Das ist vielleicht die größte Errungenschaft Israels, dass es eine selbstverständliche israelische Identität gibt.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2008


Staatsraison oder Solidarität?

Der Nahostkonflikt und die deutsche Verantwortung

Von Heinz-Dieter Winter *


In diesem Monat feiert der Staat Israel den 60. Jahrestag seiner Gründung. Die israelische Regierung hat diesem Tag im nationalen und internationalen Rahmen eine herausragende Würdigung zukommen lassen, allein 40 Millionen Dollar hat der Staatshaushalt dafür zur Verfügung gestellt. Und auch Freunde in aller Welt feiern diesen Tag. Sind doch Frieden und Existenzsicherheit für einen Staat, der nach dem vom deutschen Faschismus verursachten Massenmord an den europäischen Juden entstanden ist, Anliegen und Verpflichtung für alle friedliebenden Menschen – vor allem für die Deutschen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery – Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels – hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass vielen israelischen Bürgern angesichts der ungewissen Zukunftsaussichten für Frieden mit den Palästinensern und der arabischen Umwelt nicht nach Feiern zu Mute ist, dass die Stimmung eher niedergeschlagen und bedrückt ist. Keinen Grund zu feiern haben aber auch die Palästinenser. Es gibt etwa vier Millionen Flüchtlinge, von denen mehr als ein Drittel unter prekären sozialen Bedingungen in Lagern lebt. Der auch in Israel wegen seines Eintretens für die Versöhnung beider Völker bekannte palästinensische Politiker Faisal Husseini meinte 2001, kurz vor seinem Tode, dass der Konflikt dazu führe, »aus unseren beiden Völkern Ungeheuer zu machen. Er brachte in uns hervor, was es an scheußlichstem und niederträchtigstem gibt«. Deshalb auch fordert Uri Avnery, dass endlich ein Schlussstrich unter der Geschichte von Okkupation und Siedlungspolitik gezogen wird.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Knesseth-Rede im März die besondere historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels betont. Diese sei Teil der Staatsraison der Bundesrepublik. Die israelische Zeitung »Haaretz« kommentierte am 19. März, sie habe zu Recht die Raketenbeschüsse auf Sderot ein Verbrechen genannt. Das Blatt kritisierte zugleich, dass sie nicht ein einziges Wort über die wiederholten israelischen Menschenrechtsverletzungen auf der Westbank, die Bombardierung von Wohnvierteln in Gaza oder die Siedlungen sagte. Frau Merkels Unterstützung für Israel sei »ungezügelt«.

Gebietet die Staatsraion, dass deutsche Politik sich kritiklos verhält zu einer Politik, die das Völkerrecht und Menschenrechte verletzt? Verbietet Staatsraison solidarische Kritik? Sollte es nicht viel mehr Aufgabe gerade deutscher Politik sein – eben wegen aus deutscher Schuld an der Shoah resultierender besonderer Verantwortung –, eine Politik abzulehnen, die durch die Besetzung palästinensischer und anderer arabischer Territorien auf Dauer eine friedliche Koexistenz Israels mit den arabischen Nachbarn unmöglich macht? Gebietet nicht gerade die historische Verantwortung, einen Beitrag zu leisten, dass die Palästinenser nicht mehr länger unter Okkupation oder als heimatlose Flüchtlinge leben müssen und endlich ihren eigenen Staat erhalten? Die arabischen Staaten haben Israel auf mehreren Gipfelkonferenzen einen Friedensplan vorgeschlagen, dem auch die palästinensische Hamas zustimmen würde. Er sieht die Anerkennung Israels und die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen vor, wenn sich Israel aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzieht und einer Regelung der Flüchtlingsfrage zustimmt. Deutsche Politik sollte energisch für die Annahme dieses Friedensplanes durch Israel eintreten.

Unser Autor, Botschafter a.D., war stellvertretender Außenminister der DDR.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2008



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