Israels 61. Jahr
Deutsche Befindlichkeit
Von Judith Bernstein *
Die Festivitäten zum 60. Gründungsjahr des
Staates Israel liegen hinter uns. In ihnen spiegelte
sich der tiefe Widerspruch zwischen der
Eskalation des Verhältnisses zu den Palästi -
nensern besonders im Gazastreifen und der
fröhlichen Ausgiebigkeit und -- ausgerechnet
nach dem Debakel des Krieges im Libanon -- der
Lorbeerkränze, die in Tel Aviv, Jerusalem und
anderen Städten verteilt wurden. Es war, als ob
sich der Staat und seine jüdische Bevölkerung mit
Fahnen, Ansprachen und Ausstellungen selbst
legitimieren müssten. Im arabischen Volksteil
überwogen die schwarzen Luftballons in den
Fenstern und auf den Straßen.
Bei den Feierlichkeiten in Deutschland konnte
man den Eindruck gewinnen, dass mit Israel ein
17. Bundesland beigetreten sei. Schließlich gibt
es kein Thema, das wie dieser Konflikt im Nahen
Osten die öffentlichen Gemüter derart polarisiert
und die Gesellschaft fast spaltet. Geht es dabei
wirklich um den Jahrhundertstreit selbst oder um
die Zurschaustellung deutscher Gefühlslagen?
Zumindest wachsen die Zweifel.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein großer
Teil der deutschen Bevölkerung auf den
Holocaust als Gründungsfaktum der eigenen
Identität berufen: Wir haben die Lektion von
Auschwitz gelernt, lautete das einmütige
Bekenntnis. Das hat sich grundlegend geändert.
Die Debatten werden heute von zwei
Gruppierungen getragen: Die einen wollen die
Unterdrückungsmechanismen und die
Verbrechen des israelischen Militärs mit der
Begründung verzeihen, dass jedes Mittel recht ist,
um Israel vor einem zweiten Auschwitz zu
bewahren. Die Gegenseite behauptet aus einem
Gerechtigkeitsgefühl, aus Enttäuschung oder
einer Art Besessenheit heraus, die Schuld am
Holocaust dadurch sühnen zu müssen, dass sie in
den Palästinensern die "Opfer der Opfer" sieht.
Damit wird ein Dreiecksverhältnis Deutschland-
Israel-Palästina konstruiert, bei dem Israel
aufgrund der Aktualität des Geschehens den
Kürzeren zieht. Dass das zionistische Projekt
eines eigenen Staates schon lange vor 1933
begann, wird großzügig übersehen. Der
gemeinsame Nenner beider deutscher Positionen
besteht darin, dass sie sich mit ihrer Fixierung auf
den Holocaust der Eigendynamik im Nahen
Osten verschließen, diese leugnen, ausblenden
oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Deutsche Parlamentarier neigen einer unklugen
Variante zu, wenn sie sich damit begnügen, ihre
Kritik quer durch alle Parteien nur hinter
vorgehaltener Hand zu äußern und gleichzeitig so
zu tun, als ob die Fassungslosigkeit oder gar
scharfe Verdammung, die auch vor der
Ablehnung des Staates Israel nicht haltmacht, in
der Öffentlichkeit sie nichts anginge. Wieso
bedarf es der Warnungen vor einer "ethnischen
Säuberung Palästinas", nachdem Israels "neue
Historiker" seit zwei Jahrzehnten diesen
Gegenstand am Beispiel der Staatsgründung
1948 thematisiert haben? Wie lässt sich erklären,
dass hierzulande die wenigsten Menschen bis vor
Kurzem danach gefragt haben? Obwohl die
kritische Auseinandersetzung mit der Shoah und
dem 2000-jährigen Antijudaismus besonders in
protestantischen Kreisen ihres gleichen sucht, hat
auch hier tiefe Verunsicherung Einzug gehalten.
Mit einem Wort: Eine an der Sache orientierte
Debatte sucht man häufig vergebens.
Hingegen wird die Bundesregierung nicht müde,
die "ausgezeichneten Beziehungen" zu loben,
doch für den Frieden zwischen Israelis und
Palästinensern bleiben ihre diplomatischen
Aktivitäten weit hinter ihren Möglichkeiten
zurück. Dabei ist spätestens seit dem Junikrieg
von 1967 bekannt, dass die israelische Besatzung
in den palästinensischen Gebieten für beide
Völker auf eine Katastrophe hinausläuft.
Dennoch lässt in Berlin die politische
Eindeutigkeit, die gegebenenfalls vor Konse -
quenzen nicht zurückschrecken würde, auf sich
warten. Insofern begibt sich die Bundesregierung
der Mittel, den weitverbreiteten Unmut in der
Öffentlichkeit zu neutralisieren. Wen wundert es
da, dass sich in Israel nur solche Stimmen
lautstark vernehmen lassen, die jede Kritik mit
dem Vorwurf des Antisemitismus abtun wollen --
und damit jene in Deutschland lebenden Juden
bestätigen, die Israel als "ihr" Land betrachten
und den harten Konfrontationskurs jedweder
Regierung in Jerusalem unterstützen, obwohl sich
die Vorstellung von Israel als sicherer
Zufluchtsstätte als Trugbild erwiesen hat.
Die Untätigkeit und die Gleichgültigkeit der
internationalen Staatengemeinschaft hätten
Israel veranlasst, an seiner Politik gegenüber den
Palästinensern festzuhalten? Im Gegenteil: Die
besonders in Deutschland immer wieder
beschworene Verbundenheit läuft vielmehr
darauf hinaus, die selbstzerstörerische Politik
abzustützen. Solange die Europäer die Regierung
in Jerusalem gewähren lassen, wird diese keine
Veranlassung sehen, sich der Notwendigkeit
einer grund legenden Umkehr zu stellen. Das
Gros der palästinensischen Bevölkerung versteht
längst nicht mehr, worüber "ihre"
Autonomiebehörde angesichts der "vollendeten
Tatsachen" verhandelt. Für sie hat sich die
Gründung des souveränen Staates Palästina
weitgehend erledigt, weil ein
zusammenhängendes Territorium nicht in Sicht
ist, das ihre nationale Souveränität begründen
könnte. Allen ist klar, dass die Auflösung
jüdischer Siedlungen und ein mili tärischer Abzug
aus der Westbank -- ganz zu schweigen von der
Teilung Jerusalems -- auf einen Bürgerkrieg in
Israel hinauslaufen würden, für den der Verzicht
auf Gaza im Sommer 2005 nur einen schwachen
Vorgeschmack lieferte. Da auch der sogenannte
binationale Staat nach so viel Hass und Gewalt
unvorstellbar ist, sind die Hoffnungen auf einen
Frieden in weite Ferne gerückt. Die Spannungen
haben längst den Charakter eines politischen
Territorialkonflikts hinter sich gelassen, weil es
den israelischen und den palästinensischen
Religions fundamenta listen gelungen ist, die
öffentlichen Institutionen zu unterlaufen. Gegen
ihren Widerstand sind politische
Entscheidungen nicht mehr durchzusetzen.
In Deutschland gehört die Formel von der
"Anerkennung des Existenzrechts Israels" nur
noch dem Reich der rhetorischen Makulatur an --
ein politisch sinnentleertes Ritual, das bei
festlichen Anlässen wiederholt wird. Denn
inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass
Israel als stärkster Staat in der Region für seine
Existenz selbst sorgt, sich dabei nicht von
anderen dreinreden lässt und im Zweifelsfall
nicht einmal seinem strategischen Partner, den
USA, vertrauen würde. Was also bedeutet im
Ernstfall die verklausulierte Zusage Angela
Merkels vor der Knesset im März 2008, Israel bei
einer wirklichen Bedrohung militärisch
beizustehen, zumal wenn mehr als achtzig
Prozent der deutschen Bevölkerung die
Unterstützung des jüdischen Staates mit Waffen
ablehnen, falls er angegriffen werden sollte?
Zeigt nicht das Beispiel des Sechstagekrieges, wie
schwer die Unterscheidung zwischen Angriff,
Prävention und Verteidigung fällt? Mit
Finanzhilfen für die Palästinenser und mit
U-Boot-Lieferungen an Israel lässt sich der
Konflikt nicht lösen. Die internationale
Diplomatie muss sich stattdessen endlich auf die
Mittel der politischen Diplomatie besinnen.
Dabei sollten die Solidarität und die
Unterstützung weder den Palästinensern noch
den Israelis gelten, sondern jenen Menschen auf
beiden Seiten, die sich mit aller Kraft für den
Frieden und die nationale Koexistenz beider
Völker einsetzen. Nach Auschwitz bedeutet
"Verantwortung", nirgendwo gegenüber
Methoden der Unterdrückung und der
Menschenrechts verletzungen gleichgültig oder
passiv zu bleiben, ob in Palästina, Darfur oder
Tibet.
Auch wenn allein die Palästinenser und die
Israelis als natürliche Verbündete miteinander
dauerhafte Verträge schließen können, schaffen
sie dieses Ziel nicht mehr aus eigener Kraft.
Deshalb ist das Eingreifen der Weltgemeinschaft
gefordert. Schließlich liegt das auch in ihrem
eigenen Interesse, weil der Frieden unteilbar ist.
Dazu bedarf es mehr als der Teilnahme am
"Kampf gegen den Terror". Gefragt ist vielmehr
die Überwindung des politischen Immobilismus,
der bei den Radikalen in der Region den
Eindruck hinterlässt, dass sie die Eskalation der
Gewalt, der Willkür und Unterwerfung straflos
fortsetzen können.
Der tausendfache Jubel im Libanon im Juli nach
der Freilassung der Gefangenen lässt ahnen,
wohin der Konflikt steuert, wenn der Eskalation
nicht endlich Einhalt geboten wird.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Erstveröffentlichung in: GAZETTE 19, Herbst 2008, S. 80-81;
Quelle: Website von Reiner Bernstein;
http://www.jpdg.de/mediapool/67/677938/data/Artikel-GAZETTE19.doc.pdf
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