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Nadavs Putsch / "Nadav's" Putsch

Der arabische Teil wird von der politischen Landkarte verschwinden / The Arab sector will disappear from the political map

Am 1. Januar hat die israelische Wahlkommission einen israelischen Araber von der Kandidatur zur Parlamentswahl Ende Januar ausgeschlossen. Der Vorwurf: Asmi Bischara und seine "Balad"-Partei seien gegen das Existenzrecht Isreals und unterstützten die Intifada. Bereits drei Tage vorher war einem anderen Kandidaten, Achmed Tibi, aus denselben Gründen die Kandidatur verweigert worden. Was diesen Entscheidungen vorausging und welche Folgen es für die Wahlen und den politischen Prozess in Israel haben kann, schildert Uri Avnery in einem Beitrag, den er bereits am 28. Dezember geschrieben hatte. Wir dokumentieren den Beitrag in deutscher Übersetzung und im englischen Original.


Von Uri Avnery

Die kommenden Wahlen werden entschieden werden – und vielleicht sind sie bereits entschieden – durch eine anonyme Person, deren Pseudonym "Nadav" ist.

"Nadav" bezeichnet sich selbst als "Experte" des Allgemeinen Sicherheitsdienstes ( bekannt unter dem hebräischen Akronym Shabak oder Shin-Beth). Nach seiner Aussage ist sein offizieller Titel "Chef der Forschungsabteilung des Sektors für israelische Araber".

Falls "Nadav" der Kommandeur einer bewaffneten Brigade wäre und einen militärischen Staatsstreich anzetteln würde wie südamerikanische Generäle in alten Zeiten, würden die Folgen dieser Aktion kaum viel anders sein. Natürlich sandten seine Bosse nicht ihre Panzer zur Knesset, noch haben sie führende Linke inhaftiert und sie von Helikoptern aus ins Meer fallen lassen. Natürlich nicht. Sie benehmen sich viel menschlicher. Sie verwenden nur Papier.

Das "Nadav"-Papier ist die " Expertise", die dem Zentralen Wahlkomitee vom Staatsanwalt vorgelegt wurde. In diesem Papier legt der Mann mit den Anführungszeichen dar - er erscheint auch im Dokument in dieser Weise – dass die Balad-Partei ( Land) darauf hinziele, den israelischen Staat zu zerstören, den Feinden des Staates zu helfen und die arabischen Bürger zur Rebellion anzustacheln und Ähnliches mehr.

Auf Grund dieser "Expertenmeinung" beabsichtigt das Komitee, Balad zu disqualifizieren und seinen Führer Azmi Bishara zusammen mit einigen anderen arabischen Knesset-Mitgliedern daran zu hindern, an den Wahlen teilzunehmen.

Das Wahlkomitee ist aus Vertretern der Parteien der abgehenden Knesset auf proportionaler Basis zusammengesetzt. Deshalb haben die Parteien des rechten Flügels, einschließlich der Shinui (s.u.), die Mehrheit. Ihr Hass gegen die Araber verbindet sie unter einander, und sie haben das gemeinsame Interesse, sie aus der Knesset zu vertreiben. Sie werden den Vorschriften des "Sicherheitsestablishments" Folge leisten, wie es die Knessetmehrheit immer getan hat. In der Vergangenheit geschah dies diskret, aber in der letzten Zeit ganz öffentlich. "Nadavs" Bosse können sich auf sie verlassen.

Wenn ein ranghoher Offizier spricht, steht die Knesset in Hab-acht!-Stellung. In den meisten Fällen trifft dies auch für die Richter des Obersten Gerichtes zu, von denen einer dem Wahlkomitee vorsteht.

Die Einmischung des Sicherheitsdienstes in den Wahlkampf ist mehr als ein Schönheitsfehler. Es ist auch viel mehr als ein Akt gegen die arabischen Bürger. Es betrifft im Grunde jede einzelne Person in Israel und vor allem die jüdische Öffentlichkeit; denn dies ist ein Putsch, der die ganze Struktur des Staates in Mitleidenschaft zieht.

Um dies zu verstehen, muss man die israelische Wählerschaft analysieren. Sie besteht aus fünf großen Blöcken:
  1. Der aschkenasische (europäisch-jüdische) Mittelklassesektor, der zum größten Teil Labor und Meretz wählt.
  2. Der orientalisch-jüdische (auch "sephardische" genannte) Sektor, der zum größten Teil für den Likud stimmt.
  3. Der religiöse und orthodoxe Sektor, der zum größten Teil für die zwei orthodoxen Parteien (Agudat-Israel und Shas) und für Mafdal (National-Religöse) stimmt.
  4. Der Sektor der neuen Einwanderer aus der früheren Sowjetunion, der zum größten Teil für die zwei russischen Parteien stimmt, die von Natan Sharansky und Avigdor Liberman angeführt werden.
  5. Der arabische Sektor, der zum größten Teil für die drei oder vier arabischen Parteien stimmt.
Die Sektoren 2, 3 und 4 stellen das Lager des rechten Flügels dar. Sektor 1 und 5 bilden das linke Lager. Die beiden Lager sind in ihrer Größe fast gleich groß. Die Wahlen werden gewöhnlich von den unsicheren Wählern, die mit der Strömung schwimmen, entschieden.

(In den bevorstehenden Wahlen wird das Bild durch das unerwartete Anwachsen einer verhältnismäßig neuen Partei, Shinui (Wechsel) unklar. Sie ist fast nur aus wohlhabenden Aschkenazim zusammengesetzt, die durch ihren glühenden Hass gegen die Religiösen geeint sind.. Sie hat keinen klaren Standpunkt über die wichtigen Probleme von Krieg und Frieden. Aber ihr unbestrittener Führer, Tommy Lapid, ein Journalist und eine Fernsehpersönlichkeit, ist grundsätzlich ein ausgesprochener Chauvinist. Er hat schon erklärt, dass er unter keinen Umständen sich einer Koalition anschließen wird, die Araber einschließt.)

Ein Blick auf diese politische Karte zeigt, dass ohne die arabischen Stimmen keine linke Koalition irgend eine Chance hat, eine Regierung zu bilden – weder heute noch in voraussehbarer Zukunft. Es ist noch schlimmer: ohne die arabischen Stimmen gibt es keinen "Sperr-Block" so wie der, der in den vergangenen zehn Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat. Um das Aufstellen einer Koalition des rechten Flügels zu verhindern, sind 60 Sitze in der Knesset mit 120 Sitzen nötig. Das bedeutet, dass die Linke ohne die Araber nicht einmal Bedingungen für ihre Teilnahme in einer Koalition diktieren kann, die von der Rechten geführt wird. Sie kann sich solch einer Koalition nur mit erhobenen Händen - wie Kriegsgefangene – anschließen.

Erst auf diesem Hintergrund können die ganzen Folgen des Putsches von "Nadav" und seinen Bossen begriffen werden. Wenn die Balad-Partei und ihr Chef ausgeschieden werden, werden alle oder die meisten arabischen Bürger die Wahlen boykottieren. Der arabische Sektor, der etwa 20% der Bevölkerung ausmacht, wird von der politischen Landkarte verschwinden. Ohne sie gibt es für die Linke keine Chance mehr, je zur Macht zu kommen oder irgend eine bedeutsame Rolle in einer "Einheitsregierung" zu spielen.

Falls die linken Parteien, von Labor angeführt, nicht einen entschlossenen Kampf gegen diese Verschwörung ausfechten, würde dies soviel wie Selbstmord bedeuten.

Wenn ein Staatsstreich dieser Art vom Sicherheitsdienst ausgeführt wird, dann heißt das, dass Israel die Gemeinschaft der demokratischen Länder verlässt und sich der (sog.) Dritten Welt anschließt. Das betrifft dann nicht nur die arabischen Bürger. Es betrifft auch jeden einzelnen jüdischen Bürger.

Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert


December 28, 2002

"Nadav's" Putsch

By Uri Avnery*


The coming elections will be decided - and perhaps have already been decided - by an anonymous person, whose nom-de-guerre is "Nadav".

"Nadav" calls himself an "expert" in the service of the General Security Service (known by its Hebrew acronym Shabak or Shin-Beth). According to him, his official title is "chief of the research department in the field of Israeli Arabs".

If "Nadav" were the commander of an armored brigade and instigated a military coup-d'etat, like a South-American general of old, the results of his action would not be much different. Of course, his bosses did not send their tanks to the Knesset, neither did they arrest leftist leaders and drop them from helicopters into the sea. Of course not. They are much more humane. They only use paper.

The "Nadav's" paper is an "expert opinion" submitted to the Central Election Committee by the Attorney General. In it, the man in quotation marks - the quotation marks appear in the document itself - states that the Balad party aims to destroy the State of Israel, to aid and abet the enemies of the state, to incite the Arab citizens to rebellion, and more of the same.

On the basis of this expert opinion, the committee intends to disqualify Balad and its leader, Azmi Bishara, together with some other Arab MKs, from taking part in the elections.

The Election Committee is composed of the representatives of the parties in the outgoing Knesset, on a proportional basis. Therefore, the representatives of the right-wing parties, including the Shinui party, have a majority. They are united in their hatred of Arabs, and they also have a common interest in their expulsion from the Knesset. They will follow the orders of the "security establishment", as the Knesset majority has always done. In the past, this was done discreetly, but lately it is happening quite openly. "Nadav's" bosses can count on them.

When a senior officer speaks, the Knesset stands at attention. In most cases, this applies also to the Supreme Court judges, one of whom is the chairman of the Election Committee.

The intervention of the Security Service in the election campaign is much more than a cosmetic defect. It is also much more than an act against the Arab citizens. It concerns every person in Israel, and most of all the Jewish public. Because this is a putsch that changes the very fabric of the state.

In order to understand why this is so, one has to analyze the Israeli electorate. It is composed of five large blocs, as follows:
  1. The middle-class Ashkenzi (European-Jewish) sector, which votes mostly for Labor and Meretz.
  2. The Oriental-Jewish (also called Sephardi) sector, which votes mostly for the Likud party.
  3. The religious and orthodox sector, which votes mostly for the two orthodox parties (Agudat-Israel and Shas) and the Mafdal (National Religious) party.
  4. The sector of the new immigrants from the former Soviet Union, who vote mostly for the two Russian parties (led by Natan Sharansky and Avigdor Liberman).
  5. The Arab sector, which votes mostly for the three or four Arab parties.
Sectors 2-3-4 constitute the right-wing camp. Sectors 1 and 5 constitute the Left. The two camps are almost equal in size, and elections are generally decided by the "floating votes" that swim with the current.

(In the forthcoming elections, the picture is blurred by the unexpected growth of a comparatively new party, Shinui [Change], which is almost entirely composed of well-to-do Ashkenazis, united mainly in their fervent hatred of the religious people. Seemingly, this party has no clear stand on the crucial problems of war and peace. But its unquestioned leader, Tommy Lapid, a journalist and television personality, is basically a rabid chauvinist. He has already declared that under no circumstances will he join a coalition that includes Arabs.)

One glance at this political map shows that without the Arab votes, no left-wing coalition has any chance of forming a government - not today, nor in the foreseeable future. Worse, without the Arab votes there can be no "preventive bloc", such as those which have played a crucial role in the last ten years. In order to prevent the setting up of a right-wing coalition, such a bloc needs 60 seats in the 120-seat Knesset. This means that without the Arabs, the Left cannot even dictate terms for its participation in a coalition dominated by the Right. It could join such a coalition only with raised hands, like prisoners of war.

Against this background, the full implications of the putsch of "Nadav" and his bosses can be grasped. If the Balad party or its chief is disqualified, all or most of the Arab citizens will boycott the elections. The Arab sector, constituting almost 20% of the Israeli population, will disappear from the political map. Without it, there is no chance for the Left ever to return to power, or even to play a meaningful role in a "Unity Government".

If the leftist parties, headed by Labor, do not put up a determined fight against this conspiracy, it will be tantamount to suicide.

When a coup d'etat of this sort is carried out by the General Security Service, it means that Israel is leaving the community of democratic countries and joining the Third World. This does not concern the Arab citizens only. It concerns every Jewish citizen, too.

* An Israeli author and activist. He is the head of the Israeli peace movement, "Gush Shalom".


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