Held des Krieges und Held des Friedens
Von Uri Avnery
Manchmal genügt ein einziger Satz, um die psychische Welt und das Ausmaß des
Intellekts einer Person zu enthüllen. Solch ein Satz wurde von Shaul Mofaz,
dem Verteidigungsminister geäußert, als er vor ein paar Tagen die
israelischen Truppen im Gazastreifen besuchte. "Mit unsern Feinden sind
Abkürzungen anscheinend nicht möglich. Ägypten machte mit Israel erst
Frieden, nachdem es im Yom-Kippur-Krieg besiegt worden war. So wird es auch
mit den Palästinensern gehen." Das heißt, es gibt keine politische Lösung.
Nur Krieg - und in diesem Krieg müssen wir die Palästinenser "besiegen".
Eine einfache, vereinfachte Sichtweise - um nicht "primitiv" zu sagen. Aber
der enthüllende Satz ist der folgende: "Ägypten machte erst mit Israel
Frieden, nachdem es im Yom-Kippur-Krieg besiegt worden war." Enthüllend
deshalb, weil er der fast einstimmigen Ansicht aller Experten in Israel und
rund um die Welt - Historikern, Arabisten und Militärkommentatoren -
widerspricht. Die glauben nämlich, genau das Gegenteil sei wahr. Anwar Sadat
war nur deshalb in der Lage, Ägypten zum Frieden zu führen, weil er als
Feldherr Israel im Yom-Kippur-Krieg besiegt hatte. Erst nachdem die Ägypter
ihren nationalen Stolz zurückgewonnen hatten, konnten sie an Frieden mit dem
Feind - mit uns - denken. Als der Krieg ausbrach, taten die Ägypter etwas,
was die Welt in Erstaunen und Israel in Schrecken versetzte: sie überquerten
den Suezkanal und überwanden die berühmte "Bar-Lew-Linie". Jeder sah dies
als eine brillante militärische Leistung an. Die Dummheit des israelisch
militärischen Geheimdienstes und die arrogante Selbstzufriedenheit der
Ministerpräsidentin Golda Meir erlaubte den Ägyptern den Überraschungscoup.
Sie zerstörten eine große Anzahl von Panzern und setzten die israelische
Luftwaffe außer Gefecht. Der Verteidigungsminister Moshe Dayan stand unter
Schock und sprach von der "Zerstörung des 3. jüdischen Staates". (In der
traditionellen jüdischen Geschichtsschreibung waren die ersten beiden
jüdischen Staaten durch den ersten und zweiten Tempel in Jerusalem
sinnbildlich dargestellt). Im Laufe des Krieges wandte sich das Blatt, und
am Ende überquerte die israelische Armee den Kanal und fiel in Ägypten ein.
Bei Kriegsende standen israelische Truppen am westlichen Ufer. Aber große
ägyptische Armeeteile blieben als auf dem Ostufer. In dieser Woche ist eine
lang hinausgezögerte offizielle Studie der israelischen Armee durchgesickert
Sie stellt eindeutig fest, dass Israel "den Krieg nicht gewonnen" hat. Aber
die professionelle militärische Analyse ist in diesem Kontext gar nicht so
wichtig. Was wichtig ist, ist, wie diese Ereignisse für das ägyptische
Bewusstsein erscheinen und wie sie seine Aktionen seitdem beeinflussen. Es
war mir geglückt, am Tage nach Sadats sensationellem Besuch in Jerusalem in
Kairo zu sein. Ich befand mich in einer Stadt, die vor Freude außer sich
war, sich in einer Art Karneval befand. Über den Hauptstraßen hingen
Hunderte von Transparenten, die die Tat des Präsidenten feierten. Jedes
Unternehmen fühlte sich verpflichtet, solch ein Transparent mit einer
Friedensbotschaft hinauszuhängen. Der häufigste Slogan war: "Anwar Sadat:
Held des Krieges und Held des Friedens". Das ägyptische Volk hätte niemals
den Frieden unterstützt, wenn es ihn als Kapitulation gegenüber dem Diktat
eines arroganten Feindes empfunden hätte. Allein die Überquerung des
Suezkanals vier Jahre zuvor, die die Ägypter als einen ihrer größten Siege
im Laufe ihrer fünftausend jährigen Geschichte ansehen, ließ sie das
Abkommen als einen Kompromiss zwischen Gleichen ohne Ehrverlust akzeptieren.
Wie viele andere Nationen betrachten die Ägypter und alle anderen Araber die
nationale Würde als den wichtigsten Wert. Vielleicht sollte Mofaz nach Kairo
gehen und den Rundbau besuchen, der das Museum des Ramadan-Krieges ( wie die
Araber den Yom-Kippur-Krieg bezeichnen) beherbergt. Dort wird er eine
aufregende, gefühlsgeladene Darstellung der Überquerung des Kanals sehen. An
jedem Tag herrscht an diesem Platz dichtes Gedränge, vor allem von
Schulkindern.
Wenn man zwischen den Ägyptern und den Palästinensern eine Parallele ziehen
will, wie Mofaz dies zu tun versuchte, würde man zu folgendem Schluss
kommen: erst wenn die Palästinenser ihre Selbstachtung wieder gewonnen
haben, werden sie fähig sein, mit Israel Frieden zu schließen. Die erste
Intifada, die die Palästinenser als einen siegreichen Kampf gegen die
gewaltige Macht der israelischen Armee ansehen, erlaubte ihnen, das
Oslo-Abkommen zu akzeptieren. Erst die zweite Intifada, die schon bewiesen
hat, dass die israelische Armee den palästinensischen Aufstand nicht
bezwingen kann, lässt sie die Road Map annehmen, von der man erwartet, dass
sie den Frieden zwischen dem israelischen und palästinensischen Staat
zustande bringt.
Eine Anekdote:
Am Vorabend des 30. Jahrestages des Yom-Kippur-Krieges sind
die Zeitungen voll mit Enthüllungen über diesen. Unter ihnen befindet sich
die Enthüllung, dass ich das Leben von Moshe Dayan gerettet hätte. Für mich
eine Überraschung - und wohl auch für Dayan, wenn er noch leben würde. Aber
es scheint wahr zu sein. Die Fakten werden von Amir Porat, dem früheren
Verbindungsoffizier und persönlichen Vertrauten von Shmuel Gonen, (allgemein
als "Gorodish" bekannt) enthüllt. Er war während des Krieges mit dem
Kommando Süd beauftragt. Als man später nach einem Sündenbock für die
anfängliche schreckliche Niederlage suchte, legte man die Hauptschuld auf
Gorodish. Er wurde von seinem Kommando enthoben, und keiner war bereit, der
Geschichte von seiner Seite aus zuzuhören. Alle Medien boykottierten ihn.
Der Mann war verzweifelt. Er war praktisch über Nacht von der Höhe des
Ruhmes ( als einer der Helden des Sechstagekrieges,1967) in die Tiefe der
Schande gefallen. Er gab Dayan die Schuld für die Ungerechtigkeit, die ihm
gegenüber ausgeübt wurde. Schließlich verabredeten sie ein Treffen, bei dem
er ihn und dann sich selbst erschießen wollte. Im letzten Augenblick, einen
Tag vor dem schicksalhaften Treffen, arrangierte der Haolam Hazeh
Korrepondent Rino Tzror ein Treffen mit uns. Zu jener Zeit war ich
Chef-Herausgeber dieses Nachrichten-Magazins, des einzigen Mediums im Lande,
das wirklich unabhängig vom Establishment war. Wir hatten den Ruf, die
Unterdrückten zu unterstützen und die Mächtigen herauszufordern. Ich sprach
lange mit ihm. Während des ganzen Gespräches spielte er mit seiner Pistole.
Gorodish war sehr weit von meinen politischen Ansichten entfernt. Er gehörte
dem rechten Flügel an und war durch und durch militaristisch. Ich kam aber
zu der Überzeugung, dass die offizielle Untersuchung des Krieges ihm
erschreckende Ungerechtigkeit zu teil werden ließ. Deshalb versprach ich
ihm, seine Ansicht der Geschichte an den Mann zu bringen. Er sah, dass ihm
nicht die ganze Welt verschlossen war. Da er nun jemanden hatte, der sich
die Geschichte, wie er sie sah, anhörte und ihm versprach, sie zu
veröffentlichen, erleichterte ihn dies derart, dass er den Gedanken aufgab,
Dayan zu erschießen und danach Selbstmord zu begehen. Ich veröffentlichte
einen langen Artikel unter der Schlagzeile: "Der israelische Dreyfus". Diese
Sache hat auch ihre ironische Seite. In ganz Israel war keiner so sehr gegen
Dayan wie ich. Mehr als jeder andere ( ausgenommen Ben-Gurion und sein
Handlanger Shimon Peres) legte Dayan in den 1950er Jahren den
anti-arabischen Kurs fest, den Israel bis auf den heutigen Tag verfolgt. Auf
den Seiten von Haolam Hazeh griff ich ihn unbarmherzig an, schrieb Hunderte
Artikel über ihn, enthüllte seinen illegalen Handel mit gestohlenen
archäologischen Fundstücken und seine Liebesaffären, die die Sicherheit des
Staates gefährdeten. Am Ende war ich es, der anscheinend sein Leben rettete.
Zurück zum Hauptthema: Der Yom Kippur-Krieg führte nicht zur "Zerstörung des
dritten Staates", wie Dayan prophezeit hatte, sondern zum Frieden mit
Ägypten, nachdem seine nationale Ehre wieder hergestellt war. Wenn es Sharon
und dem Armeekommando gelingt, den Waffenstillstand (Hudna) zu brechen und
die Intifada wieder aufflammen zu lassen, werden sie die Palästinenser, die
eine Unterwerfung verweigern, nicht brechen. Und nach einem weiteren
Blutvergießen großen Ausmaßes wird Arafat - wie Sadat - in der Knesset eine
Rede halten als "Held des Krieges und des Friedens".
Übersetzt von: Ellen Rohlfs
Quelle: uri-avnery.de / ZNet Deutschland 16.08.2003
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