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Ein unerwünschter Arzt

Buchrezension: Peter Beinart will Israel und den Zionismus retten – aber beide Patienten fühlen sich gar nicht krank

Von Knut Mellenthin *

Wie wird aus einem orthodox praktizierenden Juden, der seine zwei Kinder auf jüdische Schulen schickt, sich mit Leidenschaft zu den »Idealen des Zionismus« und zum »jüdischen Staat« Israel bekennt, ein Mann, über den nahezu der gesamte jüdische Mainstream herfällt, um ihn des »Selbsthasses« zu bezichtigen? Es reicht, daß er ein Buch veröffentlicht, in dem er sich mit der seit 45 Jahren andauernden Besatzungsherrschaft über die Palästinenser, mit der rasanten Zunahme rassistischer und demokratiefeindlicher Strömungen in Israel und mit den (fehlenden) Reaktionen des »jüdischen Establishments« der USA auf diese Entwicklung auseinandersetzt.

Seit im März das Buch des 1971 in Cambridge, Massachussetts, geborenen Peter Beinart über die »Crisis of Zionism« auf den Markt kam, sind in den meisten großen Medien der USA und Israels, einschließlich der New York Times und der Washington Post, heftige Verrisse erschienen. Überwiegend folgen sie der Methode des »argumentum ad hominem«: Kritik an den Aussagen in Beinarts Buch wird durch persönliche Angriffe und Verdächtigungen gegen den Autor ersetzt. Etwa, indem man ihm (wie Alana Newhouse am 30. März in der Washington Post) übersteigerten Ehrgeiz, einen selbstgerechten Ton und Ambitionen auf den noch zu schaffenden »Job eines Sprechers für die liberalen amerikanischen Juden« unterstellt. Oder indem man ihm (wie Daniel Gordis am 11. April in der Jerusalem Post) »Haß« nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Religion des Judentums vorwirft – wohl wissend, daß man ihn als Mitglied einer orthodoxen Synagogengemeinde in New York genau damit am tiefsten treffen und tendenziell sogar sozial isolieren kann.

In Wirklichkeit gibt es in Beinarts Buch – über das man selbstverständlich je nach eigenem Standort völlig unterschiedlicher Meinung sein kann – nicht eine einzige Stelle, aus der Haß gegen irgend etwas oder irgend jemand spricht. Nicht einmal gegen Benjamin Netanjahu und seinen noch weiter rechts stehenden Außenminister Avigdor Lieberman, auch nicht gegen die Siedler in den besetzten Gebieten. Viele Kritiker haben Beinart vorgeworfen, daß seine Einschätzung der Friedensbereitschaft der Palästinenser unrealistisch sei und von »Naivität« zeuge. Aber kaum jemand hat ernsthaft seiner Beschreibung der Situation auf der jüdischen Seite, sei es in den USA oder in Israel, widersprochen oder diese gar in wesentlichen Punkten mit überprüfbaren sachlichen Argumenten als falsch zurückgewiesen.

Eine Reihe rechtszionistischer Rezensenten hat Beinarts Aussagen sogar bestätigt, aber ihm mehr oder weniger sarkastisch vorgehalten, daß er eine völlig falsche, »sentimentale« Vorstellung von Zielen und Aufgaben des Zionismus habe. Abraham Foxman, autokratischer Chef der US-jüdischen Anti-Defamation League (ADL), brachte den grundsätzlichen Dissens in einer Podiumsdiskussion mit Beinart, die im Juni in Jerusalem stattfand, auf den Begriff: »Meine Liebe und Unterstützung für Israel sind bedingungslos. Sie hängen nicht davon ab, ob Israel meine Ansichten akzeptiert. Mein Zionismus ist nicht in der Krise, weil mein Zionismus nicht von einer idealistischen Sicht, wie ich Israel haben möchte, bestimmt wird.«

Macht und Opferrolle

Beinarts Beschreibung der Situation in Israel und im zionistischen Mainstream der USA ist alles andere als sensationell: In Israel mache sich zunehmend religiöse und ethnische Intoleranz breit, besonders unter Jugendlichen, was eine noch schlimmere Entwicklung in der Zukunft befürchten lasse. Eine Mehrheit der jüdischen Bevölkerung (53 Prozent laut einer 2010 durchgeführten Umfrage) würde es befürworten, wenn die Regierung die arabischen Staatsbürger des Landes »zum Auswandern ermutigen« würde. Viele Juden würden es begrüßen, wenn dem arabischen Bevölkerungsteil, der rund ein Fünftel aller Bewohner Israels ausmacht, das Wahlrecht entzogen würde. Rabbis, die es untersagen, Wohnungen an arabische Israelis zu vermieten, stießen auf breite Zustimmung. Darüber hinaus gebe es zunehmende Tendenzen, auch politischen und religiösen Dissens innerhalb des jüdischen Bevölkerungsteils selbst zu diskriminieren. Israel befinde sich in einem verhängnisvollen Kreislauf: Je mehr sich das Land durch seine Politik weltweit isoliere und je mehr sich die jüdische Bevölkerung durch die Kritik von außen »umzingelt« sehe, umso intoleranter reagiere sie und umso mehr sei sie geneigt, Kritik von innen als »Verrat« wahrzunehmen und zu brandmarken.

Zudem herrsche in den besetzten Gebieten eine »Kultur der Straflosigkeit«, soweit es gewalttätige Übergriffe gegen Palästinenser und deren Eigentum betrifft. Weniger als zehn Prozent der Siedlerattacken führen, laut Beinart, überhaupt zu einer Anklage. Die Bildung eines palästinensischen Staates werde immer unwahrscheinlicher, wofür der Autor freilich – vielleicht weniger aus wirklicher Überzeugung denn aus Opportunismus – auch den Palästinensern selbst eine erhebliche Mitschuld zuweist. Der »illiberale Zionismus jenseits der grünen Linie« – der Grenze des eigentlichen Israels – »zerstört die Möglichkeit eines liberalen Zionismus innerhalb dieser Linie«, schreibt Beinart. Israel stehe in der Gefahr, seinen Charakter als demokratischer Staat mit liberalen Werten zu verlieren, was zugleich das Ende der »Ideale« der Begründer des Zionismus bedeuten würde.

Die maßgeblichen jüdischen Organisationen der USA, so Beinart weiter, würden diese verhängnisvolle Entwicklung zumindest unkritisch ignorieren. Jede öffentliche Kritik an Israel werde vom »jüdischen Establishment« abgelehnt. Zum einen mit der beliebten Begründung, wer selbst nicht dort lebe und seinen Wehrdienst leiste beziehungsweise seine Kinder zu diesem schicke, habe kein Recht, sich kritisch zur Innen- und Außenpolitik Israels zu äußern. Zum anderen auch mit dem Argument, daß Israel so starken Anfeindungen aus der gesamten Welt ausgesetzt sei, daß es die Pflicht aller Juden sei, nach außen hin völlig geschlossen hinter dem jüdischen Staat zu stehen.

»Der Kern der Tragödie«, schreibt Beinart an der vielleicht schwerwiegendsten und widerspruchträchtigsten Stelle seines Buch, »liegt in der Weigerung, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir sowohl in Amerika als auch in Israel nicht in einer Zeit jüdischer Schwäche, sondern jüdischer Macht leben, und daß ohne moralische Wachsamkeit Juden diese Macht ebenso abscheulich mißbrauchen werden wie irgend jemand sonst.« Der zionistische Mainstream, schreibt Beinart in diesem Zusammenhang, sehe Juden immer noch hauptsächlich in der Opferrolle und diskutiere Macht ausschließlich als »Mittel zum Überleben«. Er leugne damit implizit, daß Juden die Macht für irgend etwas anderes einsetzen könnten.

Was tun?

Unter den Vorschlägen, die Beinart den liberalen amerikanischen Juden macht, um der von ihm beschworenen und beklagten Entwicklung Israels und des Zionismus etwas entgegenzusetzen, hat einer die rechten Kritiker besonders empört: Man solle zum Boykott gegen israelische Waren aufrufen, die in den besetzten Palästinensergebieten hergestellt wurden. Diese Idee fand sogar die Organisation »J Street«, die vor vier Jahren mit finanzieller Unterstützung des Milliardärs George Soros als liberale Konkurrenz zur offiziellen Pro-Israel-Lobby AIPAC gegründet wurde, so anstößig, daß ihr Chef, Jeremy Ben-Ami, sich öffentlich davon distanzierte.

Trotzdem ist offensichtlich und wird von Beinart auch nicht verborgen, daß sich sein Vorschlag gegen die von einigen palästinensischen und linken Kräften propagierte Bewegung zum Boykott aller aus Israel stammenden Waren, abgekürzt meist BDS (für: Boycott, Divestment and Sanctions), richtet. Gleichzeitig fordert Beinart nämlich dazu auf, verstärkt Waren aus dem eigentlichen Israel – dem »demokratischen Israel«, wie er es im Gegensatz zum »undemokratischen Israel«, den besetzten Gebieten, nennt – zu kaufen und die israelische Wirtschaft durch Investitionen zu unterstützen. Das macht es seinen linken Kritikern leicht, die darauf hinweisen, daß es weder in der wirtschaftlichen noch in der politischen Realität eine solche Trennung gibt. Die Unternehmen, die in den besetzten Gebieten produzieren oder Erzeugnisse aus diesen vermarkten, sind in der Regel die gleichen, die auch in Israel selbst arbeiten.

Auch Beinarts Appell an die liberalen Juden, ihre Kinder auf jüdische Schulen und High Schools zu schicken, um sie mit dem Judentum vertrauter zu machen und dessen Kontinuität angesichts starker Assimilationstendenzen zu stärken, trug ihm heftige Kritik von links ein. Dies umso mehr, da er – weil der Besuch solcher privaten Schulen teuer ist und die Kosten von vielen jüdischen Familien nicht ohne weiteres aufgebracht werden können – eine staatliche Finanzierung oder Subventionierung fordert. Das gefällt auch Rechtszionisten und Orthodoxen nicht, die ganz richtig sehen, daß dann logischerweise auch nicht-jüdische religiös orientierte Privatschulen vom Staat gefördert werden müßten. Dagegen stellt eine Reihe linker Kritiker vor allem in Frage, ob religiös und ethnisch getrennte Schulen wirklich ein sinnvoller Weg sein können, Kinder und Jugendliche zu mehr Toleranz und Verständnis für andere zu erziehen.

Beinart möchte, drittens, erreichen, daß sich mehr liberal orientierte Juden in zionistischen und Pro-Israel-Organisationen engagieren, um deren Politik zu beeinflussen und sie nicht den Rechten zu überlassen. Ein wesentliches Argument gegen diese Idee nennt er indessen selbst in seinem Buch: Die meisten der seit Jahrzehnten maßgeblichen jüdischen Organisationen der USA sind nicht demokratisch strukturiert und folglich kaum beeinflußbar. Ihr Kurs wird hauptsächlich von den »Donors«, Geldgebern mit massivem Privatvermögen, bestimmt.

Auch einen weiteren Einwand trägt Beinart eigentlich schon selbst vor: Die meisten liberal-jüdischen Organisationen, Clubs und sonstigen Einrichtungen, die gegründet wurden, um politische, soziale und kulturelle Alternativen zum Mainstream zu entwickeln und voranzutreiben, hängen in irgendeiner Weise an der Demokratischen Partei und deren Finanzquellen: zum einen, weil sie das Geld benötigen, um Büros zu mieten, Angestellte zu beschäftigen, Anzeigen und andere Werbeaktionen zu bezahlen. Außerdem aber auch, um wenigstens einen bescheidenen Einfluß auf eine Handvoll Kongreßmitglieder nehmen zu können. Im übrigen werden Organisationen, die nicht auf der Linie des »jüdischen Establishments«, wie Beinart selbst es nennt, agieren, von diesem mit äußerster Konsequenz sozial isoliert. Das gilt auch für deren bedeutendste, »J Street«, obwohl diese in taktischen Rücksichtnahmen und opportunistischen Halbherzigkeiten geradezu erstickt.

Uns geht’s gut

Was Beinart für eine Krise des Zionismus hält, kennzeichne in Wirklichkeit dessen Lebenskraft, meinen viele rechtszionistische Kritiker seiner Herangehensweise. So schrieb Jeremy Stern, Führungsmitglied der neokonservativen US-amerikanischen Propagandazentrale Emergency Committee for Israel, am 6. April in der weit rechts stehenden Internetzeitung Times of Israel: »Der Zionismus befindet sich nicht im Scheitern. Israel ist wirtschaftlich, militärisch und demographisch stärker als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seiner Geschichte. Junge Amerikaner rücken ganz und gar nicht von Israel ab. Sowohl das American Jewish Committee als auch die Nahost-Medienbeobachtergruppe CAMERA stellten 2010 fest, daß die Unterstützung der amerikanischen Juden für Israel im Laufe der vorausgegangenen zehn Jahre zugenommen hat. Im Dezember 2011 stellten Akademiker an der Brandeis-Universität, die junge amerikanische Juden über mehrere Jahrzehnte hin beobachtet hatten, fest, daß ›die emotionale Verbundenheit mit Israel im Laufe des Lebens zunimmt, statt von Generation zu Generation abzunehmen‹.«

Die von Beinart konstatierte Krise sei nicht eine des Zionismus, dessen Erfolg »umwerfend« sei, schlußfolgerte Stern, sondern eine des Liberalismus, »der erlebt, wie eine seine liebsten Bestrebungen zusammenkracht und verbrennt«.

Gemessen an der Fähigkeit, den US-Kongreß zu fast jeder gewünschten Entscheidung zu bringen, sich den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu unterwerfen und in einer zentralen außenpolitischen Frage wie der Kampagne gegen Iran auch die gesamte Europäische Union hinter sich herzuziehen, war Israels internationale Position zu keiner Zeit stärker als unter Benjamin Netanjahu, der die rechteste Regierung führt, die das Land jemals hatte. Da Israel von kriminellen Aktionen wie dem Überfall auf das türkische Schiff »Mavi Marmara« im Mai 2010, permanenten Kriegsdrohungen gegen andere Staaten, Mordoperationen seiner Dienste im Ausland und einer zunehmend rassistischen und demokratiefeindlichen Entwicklung im Inneren niemals praktische Nachteile auf internationaler Ebene hat, ist die Einschätzung rechtszionistischer Kommentatoren, es gebe keine guten Gründe für eine wesentlich andere Politik, durchaus nachvollziehbar. Die von Beinart angelegten »idealistischen« Maßstäbe sind aus ihrer Sicht schlichtweg irrelevant und könnten höchstens eine unnötige Belastung darstellen.

Was die Haltung der US-amerikanischen Juden angeht, stellt auch Beinart fest, daß der Anteil der Orthodoxen unter denjenigen, die sich zu Israel klar positionieren, schon seit einiger Zeit sprunghaft zunimmt: Sie heiraten früher als die übrigen, haben erheblich mehr Kinder (zwei- oder dreimal so viele, schreibt Beinart) und gehen sehr viel seltener Ehen mit Nichtjuden ein. Nur zehn Prozent der amerikanischen Juden sind laut Beinart orthodox. Aber unter denen, die mit einer Synagogengemeinde verbunden sind, stellen sie bereits 21 Prozent und unter den Kindern aus solchen Familien sogar 40 Prozent. Der Anteil der Orthodoxen unter den Einwanderern, die aus den USA nach Israel kommen, ist von 40 Prozent in den frühen 1970ern auf derzeit 80 Prozent gestiegen.

Die meisten Orthodoxen unter den US-amerikanischen Juden sind nicht nur engagierte Unterstützer Israels, sondern neigen auch signifikant stärker dazu, gerade mit den illiberalen und xenophoben Aspekten der derzeitigen israelischen Regierungskoalition zu sympathisieren und sich mit diesen zu solidarisieren. Drei Viertel von ihnen sind, einer Umfrage von 2006 zufolge, gegen die Bildung eines Palästinenserstaates. Dagegen schlägt sich, Beinart zufolge, die zunehmende Distanz der Mehrheit der US-amerikanischen Juden gegenüber Israel nicht etwa in politischer Kritik, sondern hauptsächlich in Gleichgültigkeit nieder. Sie »überlassen«, wie Beinart es ausdrückt, den Zionismus den Orthodoxen und anderen Rechten.

Pervertierung des Judentums

Etliche rechtszionistische Kritiker von Beinarts Buch verurteilen generell seine These, daß Judentum etwas mit dem »Glauben an individuelle Freiheit und Chancengleichheit, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Rasse«, zu tun habe. »Immer wieder in der Geschichte wurden jüdische Selbsthasser von einer Pervertierung des Judentums beeinflußt, die besagt, daß allgemeine soziale Gerechtigkeit die zentrale jüdische Mission sei«, schrieb Ronn Torossian – Besitzer von 5WPR, einer der größten PR-Firmen der USA – am 11. April auf der Website Jewocity. »Diese selbsthasserischen Juden haben vergessen, daß die Juden das auserwählte Volk sind.« Zustimmend zitierte Torossian in diesem Zusammenhang den Begründer der sogenannten revisionistischen, rechtsextremen Strömung im Zionismus, Ze’ev Jabotinsky (1880–1940): »Wir wurden nicht geschaffen, um unsere Feinde Moral und Benehmen zu lehren.«

Derselbe Jabotinsky hatte 1910 geschrieben: »In der Bibel steht: ›Ihr sollt Fremde nicht unterdrücken. Ihr wißt, wie den Fremden zumute ist, weil ihr selbst Fremde in Ägypten wart.‹ Die gegenwärtige Moral hat keinen Platz für so einen kindischen Humanismus.« (Das Bibelzitat ist aus dem 2. Buch Mose, 23.9.)

Daniel Gordis, Vizepräsident des Shalem Center, eines israelischen Forschungsinstituts und Thinktanks, vermißte in einem am 12. April in der Jerusalem Post veröffentlichten Kommentar die »jüdische Seele« in Beinarts Buch – vermutlich eine Anspielung auf eine Textstelle der israelischen Nationalhymne. »Beinarts Problem ist einfach, daß der amerikanische Liberalismus, in den er so vernarrt ist, keinen Platz für den jüdischen ethnischen Nationalismus hat.« »Ich weiß nicht, welchen Kiddusch (Segensspruch – d. A.) Beinart in der ersten Nacht des Pessachfestes rezitiert, aber bestimmt weiß er, daß die meisten Juden den Hauptteil des Kiddusch damit beginnen, daß sie Gott preisen, ›der uns auserwählt hat unter allen Völkern und uns erhoben hat über andere Sprachen‹. (…) Enthält Beinarts Haggada (das seit Jahrhunderten überlieferte »Textbuch« des Pessachfestes – d. A.) nicht die Zeile: ›Schütte deinen Zorn aus über die Völker‹? Bedeutet dieser Satz etwa nichts? Das Judentum ist vielerlei, aber es ist unbestreitbar tribalistisch. Die Krise, die Beinart empfindet, rührt her von der Tatsache, daß er den Tribalismus des Judentums nicht ertragen kann.«

Zionistische Mythologie

Tatsächlich ist der Zionismus seinem Wesen nach keineswegs »liberal« im US-amerikanischen Sinn dieses Begriffs, der soziale Gerechtigkeit ebenso einschließt wie staatsbürgerliche Gleichberechtigung. »Liberalismus« in diesem Sinn war zu keiner Zeit ein substantieller Bestandteil des zionistischen Programms. Wenn Beinart behauptet, der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl (1860–1904), habe nicht lediglich einen jüdischen Staat gewollt, sondern auch einen, »in dem die liberalen Ideale gelten« und in dem friedliche Koexistenz zwischen Juden und Arabern herrscht, so irrt er sich entweder oder fischt nach billigen Punkten für seine Argumentation.

Es fällt beim Blick in den umfangreichen Anmerkungsapparat von Beinarts Buch auf, daß er für die Wiedergabe von Herzls angeblicher Haltung in diesen Fragen nur eine einzige Quelle benutzt hat, nämlich seine 1902 erschienene Erzählung »Altneuland«. Die aber war lediglich »ein Phantasie-Roman, der in einem Zukunftsbild die glücklichen Auswirkungen zeigt, die eine jüdische Kolonisation in Palästina haben wird«, wie Herzl am 19. November 1902 in einem Brief an den türkischen Sultan schrieb oder schreiben wollte. Mit anderen Worten: »Altneuland« war wesentlich dazu bestimmt, die zionistischen Bestrebungen in einem möglichst positiven Licht erscheinen zu lassen und die naheliegenden, schon damals vielfach vorgetragenen Bedenken zu zerstreuen, daß das Projekt des jüdischen Siedlerstaates auf Kosten der arabischen Bewohner des Landes gehen würde. An anderen Stellen, vor allem in seinen aufschlußreichen Tagebüchern, sprach Herzl dagegen unverblümt von der Aussiedlung der einheimischen Bevölkerung.

Ob ein liberaler Zionismus überhaupt möglich, das heißt nicht nur theoretisch vorstellbar, sondern auch wirklich dauerhaft praktikabel wäre, ist eine kaum schlüssig zu beantwortende hypothetische Frage. Sicher ist aber, daß die »Gründerväter« des amerikanischen Zionismus, die Beinart für seine Idealversion eines aufgeklärten, humanistischen Zionismus benennt, alle längst tot sind: Louis Brandeis starb 1941, Stephen Wise 1949, Abba Hillel Silver 1963 und der stellenweise wirklich großartige Nahum Goldmann immerhin auch schon 1982, also vor 30 Jahren. Der Paradigmenwechsel des amerikanischen Zionismus erfolgte, wie Beinart in seinem Buch selbst beschreibt, schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, nämlich nach dem Junikrieg von 1967. In Israel trat der sozialdemokratische »Arbeitszionismus«, der den Staat seit seiner Gründung geprägt hatte, spätestens mit dem Wahlsieg von Menachem Begin 1977 in ein bis heute andauerndes komatöses Siechtum ein. Beinart scheint, ein bißchen Don Quichotte, wehmütig einem Zug hinterherzuschauen, der schon vor einigen Jahrzehnten abgefahren ist. Das macht ihn sympathisch, aber nicht wirklich überzeugend.

Peter Beinart, The Crisis of Zionism, Times Books/Henry Holt & Company, New York 2012, 289 Seiten, 26 US-Dollar

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. Juli 2012


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