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Das Schweigen Europas

Ein Plädoyer im Interesse Israels

Von Judith Bernstein *

Nach einer dreiwöchigen Reise durch Israel und die palästinensischen Gebiete scheint mir die Situation in der Region aussichtsloser denn je zuvor. Ich bin in Israel aufgewachsen und bemühe mich seit vielen Jahren, die Kontakte zu beiden Seiten aufrechtzuerhalten sowie Israelis zu Gesprächen mit Palästinensern zu ermutigen. Jedes Mal, wenn ich nach Tel Aviv und Jerusalem fahre, hoffe ich, dass Anzeichen der Entspannung - von Frieden will ich nicht mehr reden - zu erkennen sind. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Ich sehe, dass viele Israelis am Ben-Gurion-Flughafen mittlerweile auch Touristen feindselig und wie unerwünschte Personen behandeln, ganz zu schweigen von den zahllosen Checkpoints, an denen Palästinenser drangsaliert und gedemütigt werden. Anscheinend wissen die Wachhabenden nicht, was sie tun. Und was tut Europa? Wir schauen schweigend zu.

Während meiner jüngsten Reise habe ich in Ost-Jerusalem gewohnt, wo einige wenige Soldaten gegenüber Tausenden Palästinensern ihre Macht demonstrieren. Unter dem vermeintlichen Schutz des Militärs strömen viele Israelis in die Altstadt und bewundern ihre Schönheit: die verwinkelten Basarstraßen, die Cafés und Souvenirläden. Ob sie davon überrascht sind, dass ihnen die Palästinenser statt mit dem erwarteten Hass und mit Verachtung freundlich und hilfsbereit begegnen? Ich habe mich wieder einmal gefragt, ob diese Besucher "ihre" Stadt tatsächlich kennen, die das israelische Parlament 1981 per Gesetz zwangsweise vereint hat. Ohne dass ich eine Frage gestellt hätte, wurde ich belehrt, dass dank der militärischen Präsenz und der "Trennungsmauern" im Norden, Osten und Westen der "Friedensstadt" keine Terrorakte zu befürchten seien und die Menschen sich daher sicher fühlen könnten.

Auf meine Bemerkung hin, dass jeder palästinensische Taxifahrer - wenn er wollte - mit seinem Jerusalem-Ausweis nicht nur Passagiere, sondern auch Bomben in den Westen der Stadt, nach Tel Aviv oder Haifa transportieren könnte, ernte ich Achselzucken.

Vergebliche Appelle

Ich fahre in das 20 Kilometer entfernte Ramallah - eine lebendige Stadt, in der eine reiche Elite dank ausländischer Geldtransfers entstanden ist (was indirekt dazu geführt hat, dass die Mehrheit enttäuscht und frustriert ist und aus Protest gegen die Korruption "Hamas" gewählt hat). Ich bin in Bethlehem, einer von Mauern umzingelten Stadt, in der die palästinensischen Familien auseinander gerissen und von ihren Feldern getrennt sind. Ich bin in Hebron, einer Stadt, in der es 400 Siedler mit Hilfe des Militärs geschafft haben, dass viele Palästinenser ihre Häuser und Geschäfte verloren haben, dass ganze Viertel verödet sind. Internationale Beobachter haben nicht die Befugnis, für Recht und Ordnung zu sorgen. Stattdessen fertigen sie Protokolle an, die in westlichen Amtsstuben in den Schubladen verschwinden.

Was tun wir in Europa angesichts solch unhaltbarer Zustände? Wir schauen zu und schweigen. Ich habe auch während meines jüngsten Aufenthalts versucht, politische Besucher aus Deutschland anzusprechen und an ihre Verantwortung zu appellieren. Doch mehr als einmal bin ich belehrt worden: Das Protokoll lasse keine offiziellen Besuche an der "Mauer" zu, Treffen mit Palästinensern dürften lediglich privaten Charakter haben: Man müsse dem möglichen Vorwurf des Antisemitismus vorbeugen.

Doch mit dieser Spirale des Schweigens erreicht man das genaue Gegenteil. Bei Unterhaltungen mit deutschen Freunden und Bekannten, am Arbeitsplatz und bei zufälligen Begegnungen geschieht es, dass ich persönlich für die israelische Politik gegenüber den Palästinensern haftbar gemacht werde. Da die Regierungen in Berlin und in anderen Hauptstädten nicht den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen, nehmen andere das Heft der öffentlichen Meinungsbildung in die Hand. Mittlerweile werden in England, Schweden und Kanada die Aufrufe zum Boykott israelischer Institutionen und Personengruppen immer lauter.

Mein Resümee: Nicht diejenigen, die Israels Politik kritisieren, fördern den Antisemitismus, sondern diejenigen, die schweigen und damit zulassen, dass das Bild vom hässlichen Israeli und inzwischen auch vom hässlichen Juden überhand nimmt. Bei einer Friedensdemonstration in Tel Aviv, die zur Aufhebung des Boykotts gegen die "Hamas"-geführte Regierung und für die Freigabe der europäischen Gelder an die Palästinenser aufruft, flehen einige Teilnehmer mich an, mit darauf hinzuwirken, dass endlich deutsche und europäische Politiker Druck auf die Politik Israels ausüben.

Als ich vor rund vierzig Jahren erstmals nach Deutschland kam, hielt ich den Antisemitismus für überwunden. Meine Großeltern sind in Auschwitz umgekommen, meine Eltern mussten als Jugendliche Deutschland verlassen. Ich dachte damals, dass die Zeit gekommen sei, in die Zukunft zu blicken. Heute bin ich nicht mehr sicher, ob die Geschichte mich, meine eigenen Kinder oder spätestens meine Enkelin einholen wird. Werden wir dann mit Fug und Recht behaupten, wir hätten von nichts gewusst?

Dass viele Israelis nicht wissen, was in ihrem Namen geschieht, halte ich für möglich, weil die Medien die Palästinenser nur dann wahrnehmen, wenn es über Gewalttaten zu berichten gilt. Und schließlich sorgen die "Trennungsmauern" dafür, dass sie nicht sehen, was hinter diesen Mauern geschieht. Die israelischen Behörden verweigern ihren Staatsbürgern die Einreise in die palästinensischen Gebiete, damit keine Zweifel aufkommen, ob das Handeln der Soldaten und der Siedler tatsächlich etwas mit "Sicherheit" zu tun hat. Aber wir? Wir wissen - und machen uns mitschuldig, wenn wir unsere Stimme nicht erheben.

* Die Dolmetscherin Judith Bernstein wurde 1945 in Jerusalem als Tochter deutscher Emigranten geboren und lebt seit 1976 in München. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Historiker Reiner Bernstein, engagiert sie sich für die israelisch-palästinensische "Genfer Initiative".

Dieser Beitrag erschien am 23. Juni 2006 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Auch veröffentlicht auf der Website der "Genfer Initiative"



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