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"Mich hat immer schon das Unrecht bewegt, das der arabischen Bevölkerung angetan wurde"

Eine historische Betrachtung des palästinensisch-israelischen Konflikts - Interview mit Daniel Cil Brecher, Jerusalem

Daniel Cil Brecher war Mitarbeiter der Gedenkstätte Yad Vashem, Direktor des renommierten Leo-Baeck-Institutes in Jerusalem usw. Im Jahre 2005 ist sein Israel-kritisches Buch „FREMD IN ZION – Aufzeichnungen eines Unzuverlässigen“ erschienen. Er ist u. a. Mitverfasser des Standardwerks „Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat“, Autor und Produzent der ZDF/ARTE-Fernsehdokumentation „Die Ehrenschuld“ über die Geschichte der „Wiedergutmachung“.
Das Interview mit Daniel Cil Brecher führte Hakam Abdel-Hadi Anfang Dezember 2007 in Köln.
Wir haben es der Homepage des Völkerrechtlers und Bundestagsabgeordeneten Norman Paech (www.norman-paech.de) entnommen. Das Interview ist dort unter dem Titel "Eine historische Betrachtung des palästinensisch-israelischen Konflikts" als pdf-Datei herunterzuladen.



Hakam Abdel-Hadi: Herr Brecher, Sie sind Historiker und haben als israelischer Staatsbürger wichtige Positionen in Israel ausgeübt. Sie gehörten sozusagen zum Establishment. Inzwischen aber schreiben Sie Israel-kritische Bücher. Was hat Sie dazu veranlasst, solche kritische Positionen einzunehmen?

Daniel Cil Brecher: Zu allererst hat mich immer schon das Unrecht bewegt, das der arabischen Bevölkerung angetan wurde. Dann hatte ich als Historiker natürlich Einsicht in die Art und Weise, wie die jüdische Gesellschaft Israels die Verantwortung dafür ablehnt. Das hat mich geärgert und machte mich auch besorgt über die Politik und die politische Zukunft des Landes. Die israelische Gesellschaft leugnet eigentlich einen bestimmten Teil der Geschichte des Zionismus und des Nahostkonflikts. Darin sehe ich heute meine Aufgabe als Historiker, einen Beitrag zu liefern zur Entschleierung dieser Mythen.

Sie haben kürzlich einen Vortrag in Bensberg bei Köln gehalten. Welches sind die Hauptthesen, die Sie dort vertreten haben?

Ich habe darüber gesprochen, dass mit einer ethnischen Säuberung, wie sie in den Jahren 1948 und 1949 in Israel oder Palästina stattfand, auch eine Säuberung des Gewissens einhergeht. Ich habe einige Beispiele dafür genannt, wie die jüdische Bevölkerung in Israel, aber auch die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern, jahrzehntelang den Hergang und die eigene Rolle mit dem Mantel der Mythen gedeckt hat, um das Hässliche, wenn Sie so wollen, des eigenen Handels nicht sehen zu müssen.

Das hört man bestimmt in Israel nicht gerne. Wie reagiert die israelische Öffentlichkeit auf Ihre kritischen Thesen?

Meine eigenen Texte und Bücher erscheinen nicht in Hebräisch, sie sind in Deutsch und in Englisch herausgekommen. Eine große Mehrheit der jüdischen Israelis würde auf Meinungen, wie ich sie vertrete, mit Wut und Unverständnis reagieren. Ich übe ja Kritik an ihrer Staatsideologie, einer Ideologie, die von einer großen Mehrheit bejaht wird. Diese Ideologie rechtfertigt u. a. auch die Übernahme des Besitzes der ehemaligen arabischen Bewohner Israels. Es geht also nicht nur um die Rettung des Selbstbildes der Israelis, sondern auch um handfeste Vorteile, die es zu verteidigen gilt. Diese Menschen würden mich als Verräter sehen, als jemanden, der zum Feind übergelaufen ist. Aber auf der anderen Seite gibt es immer mehr Menschen, auch in Israel, die sich engagieren in den kleineren und größeren Friedensbewegungen, die meine Ansichten teilen und mit denen ich mich eins weiß.

Wie wird der israelisch-palästinensische Konflikt in Israel gedeutet? Werden die Rechte der Palästinenser anerkannt oder wird das alles abgestritten?

Die Deutungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte verändert und auch die Ideen über palästinensische Rechte. Früher wurde die Kolonialisierung Palästinas einfach als Konflikt zwischen zwei nationalen Bewegungen hingestellt, zwei gleichberechtigten nationalen Bewegungen, die sich um ein Territorium streiten, wie z. B. in der Bosnienfrage. Da eine der beiden Seiten, nämlich die arabische, das gemeinsame Territorium nicht teilen wollte, kam es zu einem Krieg und dadurch zum Auszug der palästinensischen Bewohner. Das ist das Bild, das in Israel lange Zeit vorherrschte. D. h. alles das, was sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts ereignet hat, das Entstehen des Flüchtlingsproblems, die Kriege, ist Schuld der arabischen Seite. Inzwischen hat sich das geändert, inzwischen sprechen Israelis nicht mehr über einen Konflikt zwischen gleichberechtigten Parteien, sondern über einen Konflikt zwischen den friedliebenden jüdischen Israelis und den chronisch gewaltbereiten Moslems oder Arabern, d. h. der Konflikt wird heute hauptsächlich auf den arabischen oder palästinensischen Charakter zurückgeführt, auf vermeintliche kulturelle Rückstände oder einen scheinbar pathologischen Hang zur Gewalt. In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht ganz gut, sich daran zu erinnern, dass auch der Westen das inzwischen so darstellt. Bush und Olmert haben beim Treffen in Annapolis beide vom Terrorismus als eigentlichem Kern des Problems gesprochen und die Besatzung z.B. überhaupt nicht erwähnt - mit keinem Wort.

Da ist interessant, dass man fast immer von der palästinensischen Gewalt und vom palästinensischen Terror spricht, aber weniger von den militärischen Einsätzen, die Israel ausführt. Wenn man vergleicht, wie viele Palästinenser in den letzten Jahren umgekommen sind und wie viele Israelis - aufrechnen ist nicht gut, aber man darf die Realität nicht aus den Augen verlieren – dann kommt man zu einem Verhältnis von 1 zu 7. Auf 7 getötete Palästinenser kommt ein Israeli. Die Verhältnismäßigkeit stimmt da nicht. Dennoch spricht man nur von palästinensischem Terror. Wie sehen Sie das?

Ja, ich sehe das ähnlich wie Sie. Was sich viele Israelis, und auch viele Menschen anderswo, nicht realisieren, ist, dass die Gewalt doch eine Folge der Vertreibung der Palästinenser 1948 und der Expansion des israelischen Staates 1967 ist, und dass diese Folgen auch anderswo eingetreten wären bei anderen Konfliktparteien. Was eigentlich viele jüdischen Israelis und auch viele Menschen im Westen nicht sehen wollen, ist, dass sich in der Gewalt ihr eigenes Handeln spiegelt. Dass es eigentlich ihr eigenes Handeln ist, das soviel Gewalt hervorruft. Das wollen sie nicht wahrhaben.

Gab es eigentlich eine andere Wahl für die Gründer Israels, die zionistische Bewegung, als die Palästinenser als Volk zu negieren und Hunderttausende von ihnen zu vertreiben?

Es gab in der Tat in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts andere politische Strömungen im Zionismus, die Gewalt als Mittel zur Erreichung der zionistischen Ziele ablehnten. Z. B. wollten diese Gruppen die Errichtung eines jüdischen Staates und selbst die jüdische Einwanderung von der Zustimmung der nichtjüdischen Bevölkerung abhängig machen. Aber sie fanden keine Abnehmer für ihre Ideen, weder unter Juden noch unter Nichtjuden. Als Großbritannien den Zionisten 1918 die Möglichkeit zur Kolonialisierung Palästinas eröffnete, war eigentlich in meinen Augen die Chance für eine friedliche Lösung schon vertan. Denn der Plan einer jüdischen Heimstätte in Palästina, also für eine jüdische Bevölkerung, die dafür aus Europa geholt werden musste, war von Anfang an nur gegen den Widerstand der nichtjüdischen Bevölkerung Palästinas zu realisieren, d. h. praktisch nur mit Gewalt. Interessant ist, dass kürzlich ein Artikel in der New York Times stand, anlässlich der Gespräche in Annapolis, der an die King-Crane-Kommission erinnerte. Das war eine Untersuchungskommission, die vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson 1919 eingesetzt wurde, um die Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten über die Chancen der Errichtung einer jüdischen Heimstätte zu befragen. Damals hat der Report von Henry King und Charles Crane eindeutig vor der Schaffung eines jüdischen Staates gewarnt, weil schon damals, 1919, ganz deutlich war, dass er nur mit Gewalt entstehen konnte.

Wir wissen, dass die Gründung Israels im Jahre 1948 durch eine sehr große Einwanderungsbewegung und erzwungene Besiedelung möglich wurde. Nun hat sich die Situation verändert. Israel wurde gegründet, wir haben 1967 den Krieg gehabt, und es wurden Gebiete besetzt. Israel fährt mit der Besiedlung fort, als ob der Staat gerade erst im Entstehen ist. Wie beurteilen Sie die israelische Besiedlungspolitik in den 1967 besetzten Gebieten?

Historisch gesehen hat es verschiedene Phasen und Ideen gegeben über die Besiedlungspolitik von israelischer Seite aus. Zuerst ging es nur darum, bessere Grenzen zu schaffen nach 1967, Grenzen, die besser zu verteidigen waren, die mehr strategische Tiefe boten. Dann kam die Regierung Begin. Mit ihr landete die Idee von Groß-Israel auf der Regierungsebene. Damals hieß es: Juden haben Anspruch auf ganz Palästina und sollen es ganz besiedeln. Dann scheiterte dieses Projekt, wenn man so will, aus zwei Gründen: Einmal gab es nicht genug Juden, die bereit waren, unter den gegebenen Umständen in der Westbank und im Gaza-Streifen zu siedeln; zweitens hatten die Palästinenser angefangen Widerstand zu leisten, mit der ersten Intifada in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Dadurch ist dieses Siedlungsprojekt eigentlich irgendwo mittendrin stecken geblieben. Aber es hat Realitäten geschaffen, von der sich die israelische Gesellschaft nicht mehr so leicht freimachen kann. Israel ist eigentlich wie jemand, der sich in einem Baum versteigt und sich nicht mehr herunter traut, weil er der Gegenseite jetzt stärker misstraut und gute Gründe hat, ihr stärker zu misstrauen. Die Konsequenz ist, dass sich die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung verschlechtert haben. Sie haben sich auch politisch kaum frei entwickeln können. All das wird übrigens den Palästinensern selbst vorgeworfen. Aber vor allen Dingen hat die Besatzung zu einer weiteren Entmenschlichung des Konflikts geführt. Sie hat auch auf ganz anderen Ebenen die Lösung des Konfliktes noch wesentlich erschwert. Denn nur wer die andere Seite als menschlich und gleichwertig empfindet, kann nachgeben, kann koexistieren.

Es ist zu beobachten, dass alle israelischen Regierungen die Besiedlung mit Steuern und vielen anderen Mitteln gefördert haben, und dennoch sagte der ehemalige israelische Ministerpräsident, der jetzige Präsident Shimon Peres „Es war ein Fehler“. Er sagte wörtlich: „Es war ein Fehler, diese Siedlungen zu bauen". Es klang so, als ob diese Siedlungen durch Zufall entstanden wären. Ist es ist wirklich so? Wie beurteilen Sie eine solche Äußerung von Peres, der so einfach sagt, ach, das war ein Fehler?

Die sozialdemokratische Partei, die Parteien der Arbeiterbewegung, haben in der Tat nach 1967 etwas ganz anderes gewollt. Sie wollten Siedlungen in den Teilen, die sie einverleiben wollten aus strategischen Gründen, aus militärisch-strategischen Gründen, ein kleineres Gebiet, als das, was jetzt von Juden besiedelt ist. Nach der Wiederwahl einer Regierung der Arbeiterbewegung 1992 begann ja auch der Oslo-Prozess, mit dem Ziel, diese ursprüngliche Vision der Arbeiterbewegung auch zu realisieren, mit Hilfe und Zustimmung der palästinensischen Seite. Shimon Peres bezieht sich also darauf, dass seine Position und die seiner politischen Partei immer die gewesen ist: Wir müssen unseren Staat etwas ausbreiten, aber nicht so, dass wir zu viele neue palästinensische Bürger hinein nehmen müssten, denn das gefährdet das andere zionistische Prinzip, nämlich einen Staat mit einer jüdischen Mehrheit zu schaffen. Das war ja einer der beiden Punkte des Zionismus: einmal einen jüdischen Staat zu schaffen, also zu kolonialisieren, zu siedeln, und der andere war der, ein Land zu haben, in dem die Juden die Mehrheit bilden, und auch auf Dauer bilden werden. Dieses Prinzip wird heute auch von ganz anderen zionistischen Gruppierungen bejaht, die früher zur Groß-Israelbewegung gehörten, z. B. von Olmert und seiner Partei. Früher waren sie dafür, dass Israel sich auf ganz Palästina ausbreiten soll. Heute akzeptieren sie das Primat des demographischen Gedankens. D.h. wir müssen uns zurückziehen, bei Beibehaltung eines so großen Territoriums wie möglich bei so geringer palästinensischer Bevölkerungszahl wie möglich.

Die meisten Beobachter, wahrscheinlich auch Sie, Daniel Cil Brecher, sind der Meinung, dass diese Siedlungen eines der Haupthindernisse auf dem Weg zum Frieden in der Nahost- Region sind. Auf der anderen Seite gibt es Leute wie Meron Benvenisti (ehemaliger stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem und Wissenschaftler – H. A.), die man ernst nehmen muss und die sagen, dass die Besiedlung so fortgeschritten ist, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen ist. Benvenisti nennt es den „Point of no return“. Was machen wir nun? Wie beurteilen Sie z. B. die gegenwärtigen Friedensbemühungen, die davon ausgehen, dass alles zu schaffen ist, nach dem Motto: "Wir werden das schon packen"?!

Um mit Benvenisti zu beginnen: Benvenisti ging von einer Situation in den 90er Jahren aus. Inzwischen gibt es ja die Idee der Konsolidierung, wie man das in Israel nennt, also der Zusammenfassung von kleineren Siedlungen in größere Siedlungsblöcke, um die Zersiedlung des arabischen Raumes, das war eines der ursprünglichen Ziele, wieder rückgängig zu machen, um eine Grenzziehung möglich zu machen, zum Vorteil der jüdischen Seite und natürlich zum Nachteil der palästinensischen Seite. Es ist heute eine Teilung denkbar, aber sie würde sich auf alle Fälle zum großen Nachteil der palästinensischen Bevölkerung auswirken. Man muss nur an Groß-Jerusalem denken. Es wurden 1967 ja nicht nur das damalige Ostjerusalemer Stadtgebiete, also das Gebiet der Stadtverwaltung Ostjerusalem, annektiert, sondern etwa ein 10-faches an Umland, an arabischen Dörfern in der Umgebung, die nach den Ideen der heutigen Regierung für immer jüdisch bleiben sollen. Nur die von arabischen Bewohnern Jerusalems bewohnten Gebiete sollen arabisch werden unter einem möglichen Kompromiss, einem möglichen Friedensplan. Eine Teilung wäre also möglich, wenn sie von beiden Seiten akzeptiert wird, aber sie würde sich sehr nachteilig auswirken auf die zukünftige Entwicklung eines palästinensischen Staates. Ein palästinensischer Kollege hat das vor kurzem einmal so ausgedrückt: Es geht heute nur noch um die Frage: bekommen wir einen Staat mit hoher Qualität oder mit geringer Qualität?

Interessant auch ist die Beobachtung, dass die meisten Palästinenser und die meisten Israelis für Kompromisse sind. Nach meinen Kenntnissen sind die meisten Israelis für die Rückgabe der 1967 besetzten Gebiete und die überwiegende Mehrheit der Palästinenser ist dazu bereit, auf 78 Prozent ihrer Urheimat zu verzichten und sich mit einem Staat im Gazastreifen und in der Westbank zufrieden zu geben. Warum können die Politiker beider Seiten, die den Anspruch erheben, Demokraten zu sein, den Willen der Mehrheiten beider Völker nicht in Friedensverträge umzusetzen?

Ich glaube, dass die israelische Seite viel weniger motiviert ist, Kompromisse zu schließen. Sie haben ja ihre Schäfchen im Trockenen. Die Israelis sind nicht so stark motiviert, das Land, das sie sich einverleibt haben, so ohne weiteres zurückzugeben, und sie genießen weiterhin die Unterstützung des Westens dabei. Es ist so, dass die Israelis auf der einen Seite zum Frieden bereit sind; das sind alle. Es ist ja selbstverständlich, dass alle Frieden wollen. Aber sie wollen ihn nur unter bestimmten Bedingungen. Zum Beispiel will eine Mehrheit der Israelis Ostjerusalem nicht verlieren, oder die Golanhöhen, oder das Jordan-Tal aufgeben. Der Teufel steckt also in den Details. Wenn man eine Befragung macht, willst du Frieden, dann sagen sie ja, aber wenn man sie fragt, willst du Ostjerusalem aufgeben, dann sieht es ganz anderes aus. Ich nehme an, dass das gleiche auch auf der palästinensischen Seite gilt. Wie viele Palästinenser sind wirklich bereit, auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge formell und ein für alle mal zu verzichten?

Ausgehend von den Umfragen, die ich kenne, sind die meisten Palästinenser, etwa 65 Prozent, für die Schaffung eines eigenen Staates im Gazastreifen und in der Westbank. Natürlich gibt es dann die restliche 35 Prozent, die Ansprüche erheben auf Haifa und Jaffa usw. Ich glaube allerdings, dass letztere keine Chance haben auf Dauer, sich gegen die Mehrheit durchzusetzen. Man muss bedenken, dass Hamas die vergangenen Wahlen gewonnen hat, weil Al Fatah und die von ihr bei den Verhandlungen mit Israel erzielten Friedensvereinbarungen, einschließlich Oslo, gescheitern sind bzw. sehr wenig gebracht haben. Außerdem wurden die Osloer Vereinbarungen unter Scharon quasi für ungültig erklärt. Die Bevölkerung denkt, wenn Israel so radikal bleibt, und die besetzten Gebiete nicht räumen will, dann wählen wir eben unsere eigenen Radikalen. Wie sehen Sie es?

Ich glaube auch, dass die Wahl einer Hamas-Regierung noch nicht bedeutet, dass ein für alle mal die Wähler dieser Regierung ihre Kompromissbereitschaft aufgegeben haben. Es ist in der Tat das Scheitern, das auf beiden Seiten zur Wahl radikaler Regierungen geführt hat. Das muss man auch einmal sagen: auch auf der israelischen Seite kam nach der 2. Intifada die radikalste Regierung seit den 70er Jahren an die Macht.

Im November 2007 jährt sich der UN-Teilungsplan, der die Teilung des historischen Palästinas in einen jüdischen und einem palästinensischen Staat vorsieht. Der Friedenskämpfer Uri Avnery schrieb kürzlich über diese Resolution. Ich zitiere:
„Die UN-Resolution vom 29. November 1947 war eine der intelligentesten in den Annalen der Organisation. Als einer, der sie damals energisch ablehnte, erkenne ich heute ihre Weisheit.“
Soweit Uri Avnery. Wie beurteilen Sie als Historiker diese UN-Resolution?


Damals bedeutete der Plan für die arabische Seite, dass die Kolonialisierung des Landes durch Großbritannien und die zionistische Bewegung völkerrechtlich legitimiert wurde, eine Kolonialisierung, die gegen den Willen der Ursprungsbevölkerung geschah und von arabischer Seite als Diebstahl der Heimat empfunden wurde. Das bedeutete sie damals, und deshalb hat Uri Avnery sie auch damals abgelehnt. Außerdem galt der konkrete Teilungsplan als ungerecht: Die Juden, die damals ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, sollten etwas mehr als die Hälfte des Landes bekommen. Heute sieht dieser Teilungsplan natürlich ganz anderes aus. Das, was damals geboten wurde, ist heute für die Palästinenser nicht mehr zu erreichen. Die Palästinenser haben heute noch etwas über 20 Prozent Palästinas in den Händen. Sie würden mit den 45 Prozent glücklich sein, die damals geboten wurden. Man muss auch etwas Historisches zu dieser damaligen Situation sagen. Die UNOVollversammlung hatte 1947 nur 56 Mitglieder. Es war ja eine Resolution der Vollversammlung und nicht des Sicherheitsrats. Die meisten der Mitglieder waren damals westliche, christliche Länder. Die arabischen Länder, die damals Mitglieder der UNO waren, haben sich bei der Debatte über den Teilungsplan nicht beteiligt, und die arabische Stimme fehlte. Die Palästinenser wurden durch Pakistan und Indien vertreten. Die meisten Länder, die damals an dieser Resolution mitgearbeitet haben, sympathisierten ohnehin mit den Juden, weil aus christlicher Sicht Palästina doch das Land der Bibel ist, es doch irgendwie den Juden und den Christen gehört und alle anderen nur, sagen wir, Untermieter sind. Ich glaube schon, dass diese Länder nach einer in ihren Augen gerechten Lösung gesucht haben. Man muss aber auch sagen, dass die UNO damals ihren eigenen Prinzipien untreu wurde. Alle wussten am 29. November 1947, dass eine Verabschiedung des Teilungsplanes zum Krieg führen würde. Die Hauptaufgabe der UNO ist die Verhinderung von bewaffneten Konflikten und ihre Beilegung durch Diplomatie. Die UNO hat in diesem Punkt versagt. Es war ein Bruch der UNO-Charta, dass sie damals diese Resolution angenommen hat.

Herr Brecher, Ich danke Ihnen für das Gespräch

Quelle: Homepage von Norman Paech; www.norman-paech.de


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